Eine Viertelstunde

Kurzgeschichte zum Thema Entscheidung

von  Schreiber

Eine Viertelstunde

Rewalek ist fünfunddreißig, sieht leicht angegraut aus, ohne dass ihn das ernsthaft stören würde, angegraut eben nur, dieser äußerliche Anflug von Seriosität, von Erfahrung und Reife, der alles ist, aber nicht begründet, jedenfalls nicht durch Angegrautsein. Er hockt vor dem Schreibtisch in dem kleinen Büro, das vier Leuten, Männer übrigens alle, knappen Raum gibt für so etwas wie Kreativität, obwohl, was ist das denn, Kreativität? Rewalek ist dankbar für jede Minute, in der er einen klaren Gedanken fassen kann. Mal spinnen, auf Oberaffendeutsch: Brainstorming betreiben, das geht hier in diesem überbelegten Zimmerchen überhaupt gar nicht.
Aber notwendig wäre es. Dafür haben sie ihn mal in Vorstellungsgesprächen ausgesucht, ihm einen Schreibtisch gegeben und einen Vertrag, der einschließt, dass er an dem Schreibtisch auch sitzen und kreativ sein  muss, vierzig Stunden die Woche, knapp zweihundert im Monat, leicht variierend je nach Monat und Feiertagen.
So ist das, denkt er, so ein Unsinn ist das.
Draußen rumpelt die Straßenbahn vorbei.
Er hat die Nase voll von dem allem hier.
Haugeneder wird gleich kommen, er kommt immer nach acht, mal mehr, mal weniger, aber nach acht und nicht vorher. Das ist so ein Typ, mit dem er nicht warm wird, der abblockt, wenn es privat, ach was, schon wenn es persönlich wird, ein dicker, unbeweglicher Sitzer, der auch einen Vertrag über Kreativität unterschrieben hat, jedoch der leibhaftig gewordene Boykott dieser Übereinkunft geworden zu sein scheint. Er hat sich auf einen billigen destruktiven Sarkasmus zurückgezogen, den er als Problembewusstsein vermarktet. Erstaunlich, wie lange ihm das in der Firma schon abgekauft wird.
Und dann noch Leubener, Gottlieb Leubener. Formales regelt das Leben. Rewalek weiß und respektiert das. Ohne ein gewisses Maß an Spielregeln gibt es keine Zivilisation, keine Sicherheit, kein planvolles Handeln. Aber was der Leubener täglich vom Stapel lässt, das ist beinahe schon zwanghaft. Nervös prüft er jeden Tag wieder die Vollzähligkeit seiner Kugelschreiber, zählt die verbliebenen Blätter des Schreibblocks, beider Schreibblocks, eines linierten, eines karierten. Er wird, wenn noch jeweils vier unbeschriebene Seiten verblieben sind, eine Nachbestellung veranlassen, nicht telefonisch, nicht per e-Mail, nein, mit der Hauspost, deren letzter Nutzer er wahrscheinlich ist und die vermutlich nur seinetwegen überhaupt noch existiert. Er wird sein Notizbuch öffnen um nachzuschauen, ob alles das, was er gestern im Computer an Terminen geplant hat, wirklich bis heute in dem Schedule-Programm verblieben ist, dessen Zuverlässigkeit er bezweifelt, dessen physische Unerreichbarkeit ihm so suspekt ist, dass er alles zuerst in sein Buch einträgt und danach in den Scheduler.
Wenn Haugeneder die Forderung nach Kreativität boykottiert, dann setzt Leubener noch eins drauf. Er macht sie mit seiner Herangehensweise aktiv unmöglich.
Schließlich gibt es noch Kolkowsky. Der ist, wenn er denn mal einen guten Tag erwischt hat, einigermaßen auszuhalten. Mit dem kann Rewalek draußen im Flur am Automaten Kaffee zapfen und was reden, was belangloses, was privates, was eben anfällt, wenn sonst nicht viel Gelegenheit zum Reden ist.
Zehn vor acht.
Rewalek wartet.
Er fragt sich, worauf eigentlich. Auf drei merkwürdige, beinahe schon seltsame Kollegen, auf den Moment, eine Idee zu haben, wie ein berührungsloser Lichtschalter ein Kind, einen Hund, einen unbefugten Erwachsenen von einem befugten unterscheiden können soll? Oder lediglich auf das Ende dieses quälenden Bürotages, der noch gar nicht richtig begonnen hat?
Ja, mag sein, eigentlich nur darauf!
Und dann?
Dann muss er in seine Zweizimmerwohnung am Stadtrand, in diese einsame Bleibe, die er sich nicht eingerichtet hat, nur planlos vollgestellt als Übergangslösung. Mara ist ihm vor Monaten davongelaufen, weg, nie mehr nach Hause gekommen. Kinder wollte sie haben, ein Heim und vor allem einen Mann. Er hat es nicht verwunden, nach außen schon, aber nicht in seinem Inneren. Er sucht noch immer Gründe für ihre Flucht.
Rewalek durchmustert sein angefangenes, unfertiges Dasein.
Der bedrückende Aufenthalt in diesen vier Bürowänden, in die das Leben nur mit dreifachverglasungsgedämpftem Straßenbahngeräusch einzudringen vermag, das kann doch nicht das unabänderliche Ergebnis all der Überstunden und Dienstreisen sein, die er sich und seiner Freundin zugemutet hat. Ist er selbst schon ein weltfremder Clown geworden, so einer wie die andern hier, die ihre kleinlichen, egozentrischen Gedankenspiele für Genialität halten? Wo ist der Enthusiasmus geblieben, mit dem er seine ersten Programme hingeworfen und durchgeknetet hatte, bis sie hergaben, was im Lastenheft gefordert war? Mara war doch glücklich damals, obwohl er vielleicht weniger zu Hause war als später dann. Ja, seine Stimmung ist eine andere gewesen, eine optimistische, die geeignet war, Barrieren zu durchbrechen, gleich, welcher Art. Das ist lange her.
Er kann sich nicht mehr erinnern, wann das kippte und verloren ging. Aber jetzt, genau in diesem Moment, konstatiert er in einer bitteren Bilanz diese Verwandlung, empfindet sie so, als schaute er in einen absurden Spiegel, der kein Gegenüber mehr zeigte, kein Gesicht.
Leubener öffnet die Tür, grüßt ein mürrisches Guten Morgen ins Leere, vorbei an Rewalek, im Grunde wie immer, vorbei an allem und jedem. Mit entnervender Akkuratesse hängt er sein ewiges Jackett über einen, über speziell seinen Kleiderbügel am Garderobenständer, zupft ein wenig daran herum, geht schließlich an den Platz.
Rewalek verfolgt das starre Ankunftsritual schaudernd. Die Stifte. In Rewalek steigt körperliches Unbehagen auf, ein objektiv nicht zu begründender Ekel vor diesen kurzen, blassen Fingern, die tastend über die Kugelschreiber in der Bürogarnitur gleiten, die argwöhnisch und besessen registrieren, dass keine Abweichung von der Norm besteht, dass kein Versehen und keine Absicht die Ordnung gestört haben. Ein zufriedenes Schnaufen eröffnet den Abschnitt der Terminkontrolle.
Das Eintreten Kolkowskys rettet Rewalek vor dem Erbrechen. Kolkowsky grient, als Leubener das Notizbuch auf den Tisch legt. Dann erzählt er was, gestern hätten die und die  gewonnen, noch in der Neunundachtzigsten, Fehlentscheidung, so ein Blödmann, bestimmt alles abgekartet, na ja. Rewalek nickt während des Monologes bejahend, nach dem Zufallsprinzip. Ihn interessiert Fußball nicht. Aber seine Übelkeit wird von der Ablenkung gelindert.
Er muss sich wieder auf sich selbst besinnen. Fähigkeiten, auf die er setzen kann, hat er, da ist er ganz sicher. Er darf sich hier nicht einmauern lassen, einmauern aus Gewohnheit, aus Blindheit, vielleicht aus Trägheit.
Wortlos öffnet nun Haugeneder die Tür, und das Büro ist damit komplett. Er stapft schweigend an seinen Platz, während Leubener unbeirrt die Termine zu kontrollieren beginnt.
Einen Moment lang ist Stille. Nur unten fährt wieder die Bahn vorüber, planmäßig acht Uhr fünf.
Rewalek steht auf, legt entschieden Zugangskarte und Schreibtischschlüssel mitten auf die leere Tischplatte und tritt ohne Abschied hinaus auf den Gang. Von der Glasfront des Treppenhauses leuchten ihm die Farben des frischen Tages entgegen.
Was für ein Morgen!
Maras Telefonnummer wird er herausfinden.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (29.09.09)
Vielleicht etwas zu sehr Bestandsaufnahme, vielleicht etwas zur sehr den Ich-Erzähler in ein gutes Licht gestellt, da fehlt ein wenig zwischen den Zeilen, das an ihm kratzt, vieleicht etwas zu wenig "echte Handlung", hier und da ein paar Längen, aber ansonsten hat's mir gut gefallen! Ehrlich!

...ich würde es etwas mehr verdichten und aufzeigen, dass der Protagonist nicht weniger Seelenkrüppel als die anderen ist.

 Schreiber meinte dazu am 30.09.09:
Hallo DR,
ok, das nehme ich gern entgegen. Es fehlt einem ja immer der Abstand zu seinen eigenen Kreationen.
Aber ich denke, dass Du recht hast, vor allem in Bezug darauf, dass der Rewalek schon auch in das Schema passt und da erst raus muss. Aber dann würde es ja vielleicht eine längere Geschichte.
Im Moment habe ich durch meinen Job wenig Zeit, Überarbeitungen vorzunehmen. Aber ich werde es irgendwann machen. Deswegen sind mir solche Kommentare wichtig, auch dann, wenn ich sie nicht zeitnah umsetzen kann.
Also, nochmal vielen Dank.
Und es würde mich freuen, wenn Du auch später mal wieder über mein Zeugs schauen würdest.

Gruß
Schreiber
morphosis (44) antwortete darauf am 11.12.09:
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