Von Freiheit und Fruchtfleisch

Text zum Thema Du und Ich

von  Diablesse

Freiheit heißt, dass man nichts mehr hat, das man verlieren könnte, habe ich einmal gelesen. Freiheit heißt, Angst davor zu haben, dass man in eine Situation kommen könnte, in der man etwas verlieren kann.
Ungläubig starre ich auf die Flasche Orangensaft mit Fruchtfleisch auf meinem provisorischen Tisch. Du hast noch nie etwas hinterlassen, das als Hinweis auf dein Dasein gelten könnte. Doch diesmal warst du unvorsichtig. Du hast etwas vergessen.
Lange gucke ich die Flasche an. Sie ist halb voll. Ich berühre sie nicht. Sie könnte in tausend Träume zerspringen, wenn ich sie anfasse. Ich darf sie wahrnehmen, muss sie aber aus der Distanz betrachten. Mich in Zurückhaltung üben.
Der schöne Orangensaft. Ich habe schon lange keinen mehr getrunken. Und diese Marke wohl ein Leben schon nicht mehr. - So fühlt es sich jedenfalls an, wenn mein Blick durch das Zimmer streift und ich diese Flasche sehe.
Sie ist ein Eindringling. Etwas Fremdes. Fremd in meiner Blase, in der du mit Nichtachtung gestraft wirst.
Gestraft, denke ich. Du würdest den Unterschied nicht einmal bemerken.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, sehe ich die Flasche vor mir auf dem Tisch stehen. Sie ist immer noch da. Sie ist kein Traum und auch nicht in tausenden zersprungen. Sie ist aus Plastik. Und sie ist braun. Lichtgeschützt, nehme ich an. Und fühle, wie sich der Inhalt meinen neugierigen Blicken entziehen will. Sie ist fremd. Und das wird sie immer bleiben. Es ist eine Flasche, die nicht in mein Zimmer und nicht in meine Welt gehört.
Einzig die Wahrnehmung durch meine Sinnesorgane lassen mich den Gedanken einer Täuschung verwerfen. Wenn ich existiere, existiert auch diese Flasche Orangensaft mit Fruchtfleisch.
Als ich abends wieder in die Wohnung komme, steht sie ungerührt da. Sie interessiert sich nicht für ihre Umwelt. Sie lebt für sich allein. Steht auf diesem Tisch, erhält Aufmerksamkeit, kümmert sich aber nicht weiter darum. - Es ist schließlich eine Flasche.
Der Gedanke lässt meine Hand sich ausstrecken und nach dem Gegenstand greifen. Umfasst ihn am Hals. Die andere dreht an ihm herum. Öffnet ihn. Ich führe meine Lippen an ihn und lasse den hellen Saft auf meine Zunge fließen. Das Fleisch überrascht mich. Sein Fleisch. Sein Saft. - Das Fleisch und der Saft des Gegenstandes.
Ich drehe die Flasche wieder zu. Stelle sie zurück auf den Tisch. Sie ist noch immer nicht leer. Ein wenig Zaubertrank ist noch übrig.
Trink sie ruhig aus, hast du gesagt. Ja. Dachte ich. Dann musst du nicht mehr wieder kommen.
Meine Augen starren auf den Restinhalt. Du musst wiederkommen, schreit irgendetwas. Dein Orangensaft ist doch noch hier.

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Kommentare zu diesem Text

wortverdreher (36)
(08.10.09)
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 Diablesse meinte dazu am 08.10.09:
vielen dank.
der zweite satz ist als correctio des ersten gedacht. als vertiefung, verstärkung. irgendwie so.
BBA (43)
(13.10.09)
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 Diablesse antwortete darauf am 13.10.09:
vielen lieben dank für den honig. ich mag honig.

ich schwankte zwischen "so ein mist" und "eigentlich nett geschrieben". aber dein kommentar ermutigt mich und zeigt mir, dass es wohl doch eher das zweitere ist.

alles liebe, diablessse.
mia.maria (24) schrieb daraufhin am 14.10.09:
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 Diablesse äußerte darauf am 14.10.09:
das freut mich sehr, denn deine texte geben mir ebenfalls dieses gefühl. danke, danke =)
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