Die Welt der Toten

Text

von  ManMan

Als Odysseus seinen Männern mitteilte, dass ihr Weg nicht, wie erhofft, nach Hause führte, sondern dass Kirke zur Bedingung für ihre Rückkehr gemacht hatte, dass sie zunächst der Welt der Toten, dem Hades, einen Besuch abstatten sollten, löste das Unruhe aus.
„Warum sollen wir einer Zauberin, die uns in Schweine verwandelt hat, glauben, dass es aus dem Hades einen Weg zurück gibt?“ fragte Eurylochos und sah die Nymphe, die ein feines Silbergewand trug, um das ein kostbarer, mit Silber besetzter Gürtel geschlungen war, misstrauisch und unverhohlen feindselig an. Mehrere Gefährten bekräftigten, auch sie würden ihr nicht trauen.
„Aber mir vertraut ihr doch, oder?“
Odysseus stemmte die Arme in die Seiten und baute sich vor Eurylochos auf.
„Weißt du etwa den Weg? Willst du die Führung übernehmen? Dann sag uns, wie wir heimkommen, ohne dass wir die Unterwelt besuchen müssen.“
„Aber wenn doch kein Sterblicher die Unterwelt jemals wieder verlassen hat!“ wandte Eurylochos ein.
Da kam Kirke Odysseus zur Hilfe:
„Ihr werdet den Weg erfahren und den Hades wieder verlassen. Seid mutig, Männer! Oder glaubt ihr, dass Angst die Zierde des Kriegers ist?“
Sie setzte ein spöttisches Lächeln auf. Sie wusste, dass ihre Worte nicht ohne Wirkung bei den Männern bleiben würden. So war es auch. Perimedes wandte sich an Eurylochos:
„Wir werden auch dieses Abenteuer überstehen, denke ich.“
Beifälliges Gemurmel. Seine ruhige, unerschütterliche Art gab wieder einmal den Ausschlag. Fast alle Männer erklärten sich einverstanden, die Fahrt in den Hades zu wagen, und schließlich wehrte sich auch Eurylochos nicht länger. Kirke schickte günstigen Wind, so dass die Griechen das Schiff treiben lassen konnten, ohne an die Ruder zu müssen. Den ganzen Tag lang, und gegen Abend kam Land in Sicht, unfruchtbares, dürres Land, auf dem zahlreiche Erlen und Pappeln wuchsen. Sie gingen vor Anker. Bald schon fanden sie den Felsen, aus dem das Wasser kam, das den Fluss Acheron speiste. Odysseus hob eine Grube aus. Er goss, wie vorgeschrieben, Sühneopfer für die Toten und sprach das Gelöbnis. Kirke hatte ihnen zwei Schafe mitgegeben. Diese nahm Odysseus, ließ sie töten, abziehen und ins Feuer werfen. Sie mussten jetzt die Götter der Unterwelt Hades und Penelope anbeten. Es duftete nach Weihrauch. Alle wurden müde. Von weither waren unerklärliche, schrille Töne zu vernehmen. Die Bäume und die Gestalten der Männer vermengten sich zu einem Bild, dem sich niemand zu entziehen vermochte. Bald war nicht mehr erkennbar, was Traum und was Wirklichkeit war.
Die Seelen der Toten zogen vorbei. Odysseus setzte sich, wie Kirke ihm geraten hatte und verhinderte mit gezücktem Schwert, dass sie von dem Blut tranken. Das Schwert funkelte golden in der tief stehenden Sonne. Die Luft war feucht und diesig, rauchige Schwaden stiegen in das Dämmerlicht. Konturlose Gestalten lösten sich aus dem Dunkel, bewegten sich auf Odysseus zu und dann an ihm vorbei.
Die Seele von Teiresias kam herbei, gestützt auf einen goldenen Stab.
„Odysseus, Odysseus“, sagte er mit merkwürdig ton- und klangloser Stimme, „was führt dich zu uns? Warum hast du das Land verlassen und bist in das Reich der Finsternis gekommen?“
„Du sollst mir mit deinem Rat helfen und uns den Weg weisen.“
„Dann leg das Schwert beiseite und lass mich vom Blut trinken.“
Odysseus kam der Aufforderung nach und beobachtete, wie sich die schemenhaft Gestalt der Schale mit dem Blut näherte. Nach dem Genuss des Opferblutes war Teiresias deutlicher zu erkennen. Er ließ sich nahe bei Odysseus auf dem Boden nieder. Mit eintöniger Stimme begann er:
„Du hast Polyphem, dem Sohn von Poseidon, das Augenlicht geraubt. Poseidon grollt dir deshalb. Es wird für euch schwierig sein, nach Ithaka zu kommen. Aber es ist möglich, vor allem, wenn ihr meinem Rat folgt.“
Die Stimme des Sehers hielt inne. Odysseus nickte, zum Zeichen, dass er genau zuhörte.
„Wenn ihr dieser Welt entkommen seid, führt euch der erste Weg zur Insel Thrinakia. Dort weiden Rinder und Schafe, die dem Sonnengott Helios gehören und ihm heilig sind. Ihr dürft euch keinesfalls an ihnen vergreifen, so sehr euch auch der Hunger plagt! Wenn ihr sie nicht in Ruhe lasst, droht euch unweigerlich das Verderben.“
Der Klang der Stimme wirkte jetzt geradezu eindringlich.
„Auch wenn du selbst mit dem Leben davonkommst, wirst du erst spät, und dann ohne Gefährten und auf einem fremden Schiff Ithaka erreichen. Dort wirst du elende Zustände vorfinden, übermütige Männer, die deine Habe verschlingen und mit Brautgeschenken um deine Gattin buhlen. Sie rechnen nicht damit, dass du zurückkommst und sind unvorsichtig. Du wirst sie bestrafen müssen. Wenn du sie besiegt hast, sei es durch Klugheit, sei es durch Anwendung von Gewalt, dann nimm ein Ruder und begib dich in ein Land, in dem die Bewohner das Meer nicht kennen und von Seefahrt nichts verstehen. Dafür gibt es ein untrügliches Zeichen: Sie werden dein Ruder für eine Schaufel halten!“
Eine absonderliche Vorstellung, fand Odysseus, aber er sagte nichts. Die Stimme sprach weiter:
„Du musst das Ruder in den Boden stecken und Poseidon reichlich Opfer bringen, später in Ithaka dann auch den übrigen olympischen Göttern.“
„Und wie wird es mir selber ergehen?“
„Dich wird der Tod im hohen Alter heimsuchen, ein sanfter Tod, und er wird nicht aus dem Meer kommen.“
Die Stimme des Sehers schwieg. Odysseus war nicht unzufrieden mit dem, was er gehört hatte. Es hätte schlimmer kommen können, fand der Mann, der bereits so viel erduldet hatte. Den Hinweis, dass sie sich nicht an den Rindern des Sonnengottes vergreifen dürften, hielt er für überflüssig. So etwas war doch selbstverständlich!
Eine andere Seele näherte sich. Sie war zunächst nicht deutlich sichtbar, doch je näher sie kam, desto bekannter kam sie Odysseus vor. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder, als er sicher war, dass es sich um die Seele seiner Mutter handelt. Obwohl das Gerücht von ihrem Tod auch ihm zu Ohren gekommen war, entsetzte ihn ihr Anblick. Rasch wandte er sich dem Seher zu:
„Was kann ich tun? Ich will sie sprechen!“
„Jede Seele, die du an das Blut lässt, kann auch mit dir sprechen. Willst du es nicht, dann wird sie von dir ablassen und dich nicht weiter bedrängen.“
Damit verschwand er und ließ den Sterblichen allein am Rand der Grube zurück. Er wartete. Es dauerte nicht lange, bis seine Mutter, oder vielmehr das, was der Tod von ihr übrig gelassen hatte, herankam und von dem Blute trank. Sie nahm keine Gestalt an, aber ihre Stimme klang vertraut und war deutlich zu hören. Dem Sohn lief ein Schauer den Rücken hinab.
„Mein Sohn“, sagte die Stimme, und es klang traurig, „wie kommt es, dass du hier bist in unserer Welt, obwohl du noch lebst?“
„Ach, liebe Mutter, die Not ist es, die mich hierher getrieben hat, und eine Göttin hat es mir befohlen.“
Er ließ sich nieder und erzählte von seinen Abenteuern, über die sie nicht informiert war. Dann hielt er auf einmal inne.
„Wie bist du gestorben, Mutter? Willst du es mir nicht erzählen?“
„Mein Tod war eine Erlösung“, hörte der Sohn. „So lange habe ich mich gesorgt und auf deine Rückkehr gewartet, das war kein Leben mehr...“
„Und Penelope?“ fragte Odysseus hastig. „Was weißt du von ihr? Lebt sie etwa auch nicht mehr?“
„Als ich starb, lebte sie noch und wartete auf deine Heimkehr. Sie ist dir immer treu gewesen. Telemachos ist erwachsen und vertritt dich, so weit es sich geziemt. Dein Vater allerdings lebt außerhalb des Palastes. Er verzichtet auf Bett und Kissen, schläft im Winter am Feuer mit den Sklaven und liegt im Sommer im Freien, wobei die Blätter am Boden sein Lager bilden. Er war sehr betrübt und du hast ihm so gefehlt...“
Die Stimme brach ab. Überwältigt von seinen Gefühlen beugte sich Odysseus vor, um seine Mutter zu umarmen, doch jedes Mal entwand sie sich ihm wie ein Traumgebilde.
„Warum lässt du dich nicht umarmen, Mutter?“
„Niemand vermag das, mein Sohn! Für Tote gibt es keine Nähe. Du aber sieh zu, dass du bald nach Ithaka kommst!“
Mit diesen Worten verschwand die Seele. Andere kamen. Zunächst Tyro, die Mutter von Salmoneus. Sie hatte sich unsterblich in den göttlichen Fluss Enipeus verliebt und war, so oft wie möglich, an seinen Ufern entlang spaziert, um ihm nahe zu sein. Bis eines Tages Poseidon, der sie beobachtet hatte, unstillbares Verlangen nach ihr erfasste. Er verwandelte sich in einen Flussgott und beschlief Tyro im Sand an der Flussmündung. Verborgen wurden die beiden Liebenden von Wogen, die sich ringsum wie ein Gebirge auftürmten. Sie werde Söhne gebären, sagte Poseidon ihr voraus und ermahnte sie, diese aufzuziehen und zu pflegen, aber niemandem zu verraten, wer der Vater war. Die Söhne, die dann zur Welt kamen, hießen Pelias und Neleus. Pelias wurde Herrscher von Thessalien, Neleus der Gründer von Pylos. Später gebar Tyro drei weitere Söhne, deren Vater Kretheus war: Aison, den Vater Jasons, Pheres und den Wagenkämpfer Amythaon.
Die nächste Seele war die von Antiope, der Tochter von Asopos. Diese hatte sich gerühmt, in Zeus' Armen geschlafen zu haben. Ihre Kinder gründeten das berühmte Theben und statteten es mit sieben Toren aus.
Es näherte sich die Seele von Alkmene, der Frau des Amphitryon. Diese war nach einer Liebschaft mit Zeus die Mutter von Herakles geworden. Die Tochter von Elektryon befand sich, als Herkules starb, mit einigen Enkeln in Tiryns, von wo sie dann vertrieben wurde. In Athen fand sie Zuflucht, bis sie in hohem Alter nach Theben zurückkehrte.
Megara kam herbei, Herakles' Gattin und Kreions Tochter. Danach war die Reihe an Epikaste, der Mutter von Ödipus, die, ohne davon Kenntnis zu haben, Gattin des eigenen Sohnes wurde, der obendrein zuvor einen unbekannten Mann im Streit erschlagen hatte: den eigenen Vater, wie sich später herausstellte. Als der Frevel bekannt wurde, musste Ödipus schrecklich leiden und Epikaste erhängte sich.
Die nächste Seele hatte einer Frau von großer Schönheit gehört, nämlich Chloris, der Gattin des Neleus. Sie war eine Tochter Amphions, des Sohns von Jason, der einst in Orchomenos über die Minyer geherrscht hatte.
Die Königin von Pylos hatte berühmte Kinder: die mutigen Kämpfer Chromios, Nestor und Periklymenos. Später bekam sie noch eine Tochter namens Pero, eine Frau, um die viele warben. Neleus versprach, sie dem zu geben, der ihm von Iphiklos geraubte Rinder zurückbrächte. Einer unternahm den Versuch, wurde jedoch von den Hirten des Iphiklos überwältigt und ein Jahr festgehalten.
Es näherte sich die Seele der Gattin des Tyndareos: Leda. Ihre Söhne hießen Polydeukes und Kastor, berühmte Rosebändiger und Meister im Faustkampf, die Zeus mit dem Vorrecht ausstattete, abwechselnd zu leben und zu sterben und göttliche Ehren zu genießen.
Dann sah Odysseus die Seele von Iphimedeia, der Tochter des Aloeus. Sie erzählte, sie sei von Poseidon geliebt worden. Es kamen zwei Söhne, Otos und Ephialtes, die beide rasch zu Riesen heranwuchsen und drohten, selbst die unsterblichen Götter zum Kampf herauszufordern. Sie wollten die Berge aufeinander türmen, um den Himmel ersteigen zu können. Apollon erschlug sie, als sie erwachsen waren.
Phaidra kam, Pokris und Ariadne kamen, letztere jene Tochter von Minos, die einstmals Theseus aus Kreta entführt hatte, die aber nicht bis Athen gelangte, weil Artemis sie bereits auf der Insel Dia tötete.
Viele Seelen defilierten vorbei, tranken Blut und verschwanden wieder, ein gespenstisches Bild im Halbdunkel des verglimmenden Feuers und der aufsteigenden Schwaden. Schließlich war es vorbei. Odysseus fand sich an dem Feuer, das niedergebrannt war, allein wieder, von allen Gefährten verlassen. Er rieb sich die Augen. War am Ende alles ein Traum gewesen? Nachdenklich ging er zurück zum Schiff, wo er die Gefährten schlafend vorfand. Er legte sich ebenfalls zur Ruhe, erschöpft von dem, was er erlebt hatte. Oder nicht? Aber selbst wenn es ein Traum war, würde er sich genauestens nach den Anweisungen des Sehers richten. Eine andere Chance hatte er nicht.

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