Jüngstes Traumgericht

Kurzprosa zum Thema Schuld

von  RainerMScholz

Die Geschworenen scheinen keine Gesichter zu haben. Da ist nur eine glatte, weiße, konturlose Fläche, wo Augen, Mund, Nase sein sollten. Keine Lippen, keine Augenbrauen, keine Wangenknochen, nichts als die weiße leere Fläche. Und dennoch starren sie mich aus ihren Nichtgesichtern an, aus diesen bewegungslosen, empfindungslosen Masken, die ihre Gesichter sind. Ich kann es spüren.
Ich sitze auf einem einfachen Stuhl hinter einer hölzernen Barriere und sehe nach vorne zum erhöhten Podium des Richters, das soweit entfernt von mir ist, dass ich den Richter selbst kaum zu erkennen vermag. Vielleicht ist die Gestalt des Richters zu groß, um erkannt zu werden, zu groß und mächtig. Wie eine Fliege die majestätische und riesenhafte Gestalt eines Elephanten niemals zu erfassen imstande ist.
Ich sitze auf dem einfachen Stuhl hinter der Barriere und habe die Hände im Schoß gefaltet. Zwischen mir und dem Gericht existiert eine unglaubliche Entfernung, wie ein weites freies Feld verdörrten grauen Grases. Über mir strahlt ein blauer Himmel, stelle ich mir vor, Vögel zwitschern, es weht ein lauer Wind.
Ich erwarte die Verlesung der Anklageschrift.
Dann, wie aus weiter Ferne, höre ich ein leises Murmeln und Zischen, wie von scharf betonten Konsonanten, ein Wispern, dass mich des Mordes bezichtigt, des Mordes an unschuldigem Leben. Erregt springe ich auf und schreie, dass ich es nicht sei, den sie suchen, dass ich nichts Unrechtes getan habe, dass ich frei von Schuld sei und niemals ein Mörder sein könne. Die Vögel brechen ihren Gesang abrupt ab. Die wächsernen Masken der Geschworenen starren mich aus nicht existierenden Augen heraus an. Und alles und alle hüllen sich in eisiges Schweigen. Der Himmel schweigt, die Vögel auf den Feldern schweigen, die braune Erde, die Geschworenen, der Richter. Die Welt hüllt sich in vielsagende, beredte Stummheit und starrt mich an. Niemand, der den verzweifelten Beteuerungen meiner Unschuld Glauben schenken will.
Ich bin außer mir, weiß nicht, was ich tun soll. Ich flehe den brennenden Himmel an, bis blinde Schwärze vor meine Augen tritt.
Schließlich nehme ich das blitzende Rasiermesser hervor und führe mit der scharfen Klinge zwei saubere Schnitte von meinen Mundwinkeln bis hinab zum Halsansatz. Dann ziehe und zerre ich mein Fleisch mühsam nach unten zur Brust, greife in den bloßgelegten Kehlraum und zerre Adern, Sehnen, Muskeln, Kehlkopf, Zungenfleisch und Nervenbahnen an das Licht des Tages. Ungerührt starren die Geschworenen mich an. Der Richter in weiter Ferne hüllt sich in ein stummes Brüllen. Blut sprudelt aus der klaffenden Wunde in meinem Hals. Unfähig zu sprechen, deute ich mit beiden Händen auf das Innere der blutspeienden Öffnung, den Beweis der Wahrheit meiner Aussage: Es ist keine Lüge in mir. Ich habe die Wahrheit gesagt.
In nahezu völliger Stille erheben sich die Geschworenen und verlassen den Ort der Verhandlung. Das Urteil ist bereits gefällt.
Die Sonne sinkt rotglühend und fahl, brennend und kalt zum Rand des blauen farblosen Horizonts, wenn ich sterbe.

© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text

Jack (33)
(18.10.10)
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 RainerMScholz meinte dazu am 18.10.10:
Wovon ich träume des nachts, die Ausweglosigkeit und Vergeblichkeit.
Nichts desto Trotz.
Grüße die Nacht, und danke,
R.,
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