Die Katastrophe

Text

von  ManMan

Kirke hatte sie gewarnt. So teilte er, um die Gefährten nicht unnötig zu beunruhigen, ihnen erst auf hoher See mit, wie sie heil an den Sirenen vorbeikämen, trotz ihres unwiderstehlichen Gesanges. Manchen der hart gesottenen und kampferprobten Männer mutete es allerdings sonderbar an, was Odysseus da vorschlug. Einige lachten ungläubig, zumal sie sich nicht vorstellen konnten, ihren König, ihren obersten Befehlshaber an den Mast gefesselt zu sehen, vergeblich flehend, dass sie ihn befreiten. Sie tuschelten belustigt miteinander. Odysseus fuhr dazwischen.
„Glaubt ja nicht, dass wir ein Späßchen vor uns haben!“ warnte er eindringlich. „Wen die Sirenen durch ihre Gesänge betört haben, den geben sie nicht wieder her!“
Auf seinen Befehl hin verstopften sie sich die Ohren mit Wachs, damit sie nichts hören konnten. Alle hatten versprechen müssen, dass sie das Wachs nicht entfernen würden. Wie befohlen fesselten sie Odysseus an den Hauptmast und setzten sich an die Ruder. Der Gefesselte hörte zunächst nur das übliche Rauschen des Wassers. Dann jedoch setzte ein Gesang ein, wie ihn der Mann aus Ithaka noch nie vernommen hatte, vorgetragen von zarten, hellen Stimmen. Komm zu uns! lockten sie, bleib bei uns! Alle Wünsche gehen in Erfüllung! Komm! Anfangs dachte Odysseus, solchen Versprechungen zu widerstehen, sei nicht schwer, denn sein sehnlichster Wunsch war ja der, heimzukommen zu Penelope und Telemachos und Laêrtes, aber dann wurde ihm in Aussicht gestellt, auch diesen Wunsch erfüllt zu bekommen. Er wurde unruhig, zerrte an den Fesseln. Ein verführerischer Weg zur Beendigung der Irrfahrt bot sich an, wahrhaft verführerisch, und sogleich könne es geschehen, wurde ihm verheißen, er müsse sich nur für sie entscheiden und dürfe all den Lügen über sie keinen Glauben schenken. Wir bringen dich zu deiner Frau, klang es in seinen Ohren, wir bringen dich nach Ithaka und an jeden anderen Ort, komm nur, komm zu uns, bleib bei uns, starker Held…
Versprechungen und Verlockungen, die auch einen starken Mann schwach werden lassen können. Odysseus wand sich in den Fesseln; doch Eurylochos hatte ihn so fest angebunden, dass er es nicht schaffte, frei zu kommen. Sein Oberkörper straffte sich, sein unbeweglicher Blick fixierte eine Wolke am Horizont. Er hatte sich entschieden. Als spürten die Sirenen, dass dieser Mann für sie nicht mehr zu holen war, hörte der Gesang ebenso plötzlich auf, wie er gekommen war.
„Ist es vorbei?“ rief Eurylochos nach einigen Augenblicken Odysseus zu, und dieser nickte. Der Mann am Ruder entfernte das Wachs aus seinen Ohren. Als er sich überzeugt hatte, dass kein Gesang mehr zu hören war, befreite er Odysseus und gab auch den anderen das verabredete Zeichen.
Was sie dann hörten, war alles andere als ermutigend: Dumpfes Getöse in der Ferne kündigte das nächste Schrecknis an! Als sie näher kamen, sahen sie Dampf und Gischt aufsteigen. Der Weg führte durch ein Felsenriff.
„Müssen wir unbedingt da durch?“ fragte Eurylochos besorgt. Odysseus nickte. „Wir müssen“, bestätigte er, und dann, an alle gewandt: „Wir haben keine Wahl, die Götter wollen es so.“
Allgemeines Murren. Odysseus fügte hinzu:
„Ihr seid mutige Männer. Gemeinsam werden wir das überstehen.“
Dabei hatte Odysseus wohlweislich nichts von Skylla erzählt. Kirke hatte gesagt, gegen sie könne und dürfe er nicht kämpfen, er solle sein Schicksal ganz den Göttern überlassen. Aber wie sollte das gehen? Ein dem Schicksal ergebener Odysseus, der nicht aktiv eingriff, wie es Aufgabe eines Mannes war? Das gibt es nicht, dachte er grimmig und legte die Rüstung an. Mit zwei Speeren begab er sich nach vorn, in gespannter Erwartung Skyllas.
Sie kamen jetzt zwischen die Felsen. Auf einmal tat sich ein gewaltiger Wasserstrudel vor ihnen auf, ebenso überraschend wie unausweichlich, denn Charybdis saugte Wasser ein. Kurz darauf spie sie es wieder aus, so dass es brodelte wie in einem Kessel. Das Schiff schaukelte heftig, die Männer hielten sich fest, so gut es ging. Alle starrten ins Wasser, das sich wieder zurückzog, sie aber nicht mitriss, sondern ihr Schiff auf den Wellen tänzeln ließ am Rande eines Wasserkraters, in dem Phobaios, wie er laut und voller Entsetzen den anderen kundtat, den Grund des Meeres zu sehen wähnte.
Während alle gebannt dorthin starrten, kam der Angriff von hinten. Riesige Fangarme griffen von oben nach den Männern, die vor Fassungslosigkeit erstarrt waren. Sie waren nicht imstande, sich zu verteidigen. Sechs Männer wurden Skyllas Beute, schwebten einen unvorstellbar langen Augenblick direkt über den Häuptern der Gefährten. Rief da nicht einer meinen Namen? fragte sich Odysseus, während die Hand das Schwert umklammerte, als könnte er so Halt gewinnen, weil sich Verzagtheit in ihm breit zu machen drohte. Doch wenn es für die Männer, die soeben von dem Ungeheuer verschlungen wurden, schon keine Rettung mehr gab, dann war es um so notwendiger, alle Energie auf die eigene Rettung zu konzentrieren. Dieser Gedanke schoss ihm gerade jetzt durch den Kopf und trug dazu bei, aufkommenden Kleinmut zu besiegen.
„An die Ruder!“ befahl er mit rauer, lauter Stimme. „Los! Los! Beeilt euch, wir können es schaffen!“
Es gibt solche unerklärlichen Momente, in denen das Leben am seidenen Faden hängt und dieser so dünn ist, dass er unser gewichtiges Leben unmöglich halten kann. Und doch hält er uns. Zu erklären ist es kaum, warum es den griechischen Männern gelang, ihr Schiff unbeschadet durch die engen Felsen ins offene Meer zu steuern, ohne dass es der fürchterlichen Charybdis gelang, sie alle mitsamt dem Meereswasser aufzusaugen und im Nirgendwo verschwinden zu lassen. Am meisten muss die Männer Angst angetrieben haben. Sie verlieh ihnen solche Kraft, dass sie das schier Unmögliche schafften. Und Glück war dabei. Von diesem weiß der Volksmund ja, dass es dem Tüchtigen gebührt.
Als sie es geschafft hatten, waren sie allerdings am Ende mit ihrer Kraft. Nur gut, dass ein mäßiger Wind wehte, so dass sie Segel setzen und das Schiff dahin treiben lassen konnten. Odysseus wandte sich an Eurylochos:
„Die Insel da vorne“, er wies mit dem Arm in nordöstliche Richtung, „heißt Thrinakia. Der Seher hat gesagt, wir sollen sie meiden.“
„Sie meiden?“ fragte Eurylochos ungläubig zurück. „Wir hören die Rinder von hier aus brüllen. Wir hören Schafe, die blöken. Denkst du, wir hätten Leiber aus Eisen, die niemals Erholung, Speise und Trank benötigen?“
Er war so empört, dass er gar nicht erst die Antwort abwartete. „Willst du uns in finsterer Nacht weiter segeln lassen, uns vielleicht den Gefahren eines Sturmes aussetzen? Das kann nicht dein Ernst sein! Manche Stürme sind so stark, dass selbst die Götter nichts ausrichten können.“ Seine Hand wies auf die Wolken, die sich bedrohlich am Horizont auftürmten. „Nein, Odysseus, lass uns an Land gehen, ein Mahl bereiten und morgen früh weiter fahren!“
Er bekam Beifall von den anderen. Irgendwie hatte es Eurylochos geschafft, bei den anderen Männern das Gefühl zu wecken, dass er ihr legitimer Anführer war, auch diesmal. Odysseus las aus ihren Mienen eine Entschlossenheit heraus, die ihn an Meuterei denken ließ. Er wollte vorsichtig sein und gab daher lieber nach.
„Also gut! Wir fahren auf die Insel. Aber keiner von euch darf ein Tier anrühren, das dort weidet, egal ob Rind, Schaf oder Schwein. Wir essen nur von dem, was Kirke uns mitgegeben hat.“
Auch wenn diese Einschränkung nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen wurde, gelobten die Männer doch, sich an sie zu halten. Bald schon landeten sie in einer Bucht. Das Wasser war noch an ihrem Rand so tief, dass sie mit dem Schiff fast bis zum Ufer fahren konnten. Der erste Weg führte sie zu einer Quelle, die sich glücklicherweise ganz in der Nähe des Landeplatzes befand. Alle tranken ausgiebig und füllten die Schläuche und Behälter auf dem Schiff mit Trinkwasser. Dann aß man, wie von Odysseus befohlen, von den Vorräten, hauptsächlich gedörrtes Fleisch und Trockenfrüchte. Ein Rest Wein war auch vorhanden. Als die Sonne untergegangen war, saßen die meisten Männer noch am Feuer. Es wurde wenig gesprochen, Spannung lag in der Luft. Nur Eurylochos getraute sich, noch einmal von ihrem Wunsch zu sprechen.
„Wenn wir ein paar Rinder schlachten und dem Sonnengott opfern, was sollte er wohl dagegen haben?“
„Der Seher hat es gesagt, Kirke hat es gesagt, und ich sage es auch“, beschied ihn Odysseus in schroffem Tonfall. Im weiteren Verlauf des Abends erwähnte keiner mehr das Thema. Nachdem sie gemeinsam der Opfer, die das Ungeheuer Skylla verschlungen hatte, gedacht hatten, legten sie sich am Strand schlafen. Nur eine Wache von vier Männern blieb auf dem Schiff. In der Nacht zeigte sich, dass Eurylochos mit seiner Sturmwarnung Recht gehabt hatte. In den frühen Morgenstunden kam Wind auf. Aber das Schiff war gut befestigt und hielt auch dann, als aus dem Wind ein Sturm wurde, bei dem es den Männern unmöglich war, am Strand liegen zu bleiben. Auch im Schiff war an Schlaf nicht zu denken, es schaukelte zu heftig hin und her, selbst für erfahrene Seemänner. Als dann noch am Morgen ein ungünstiger Ostwind wehte, ließ Odysseus das Schiff an Land ziehen. Es galt zunächst einmal abzuwarten.
„Vergreift euch bloß nicht an den Rindern!“ schärfte er ihnen aufs Neue ein. Keiner gab Antwort. Der Wind blieb ungünstig. Und Rudern kam nicht in Betracht: Wer rudert schon ein Schiff gegen den Wind? Also blieben sie.
Die Vorräte reichten noch für eine Woche, dann begann die Männer der Hunger zu plagen. Nach zwei Wochen streiften alle auf der Insel umher und suchten Beeren und Früchte, von denen es aber nicht viele gab, weil die Tiere sie längst gefressen hatten.
„Wie sollen wir uns daran gewöhnen?“ fragte Alkestis vorwurfsvoll. „Gehen wir hier an Hunger zugrunde, nachdem wir so Schlimmes überstanden haben?“
Odysseus sagte:
„Wir werden nicht verhungern, der Wind wird sich drehen, wartet nur!“
Aber der Wind drehte sich nicht, auch nicht nach der dritten und vierten Woche. Verzweiflung machte sich breit. Eines Morgens, als Odysseus gerade nicht anwesend war, machte sich Eurylochos seine Abwesenheit zunutze.
„Der Hunger ist die qualvollste Art zu sterben!“ rief er. „Es wird Zeit, dass wir handeln!“
Eurylochos sah sich um, aber Odysseus war noch fort.
„Lasst uns ein paar Rinder zusammentreiben, nicht irgendwelche, sondern die besten der Herde. Wir opfern sie den Göttern. Und wenn wir wieder in Ithaka sind, errichten wir Helios einen herrlichen Tempel.“
Seine Worte fanden begeisterte Zustimmung. Als Eurylochos das sah, fügte er trotzig hinzu:
„Wenn die Götter sich nicht erweichen lassen, ist es immer noch besser, in den Fluten zu sterben als hier auf der Insel kläglich zu verhungern.“
Als es darum ging, die passenden Tiere auszuwählen und zusammen zu treiben, wollte sich niemand ausschließen. Eurylochos übertrug Hylias die Leitung, der wollte Polemon und Sido als Helfer. Das genügt, sagte er. Sie holten sich drei Rinder und es dauerte nicht lange, bis diese geschlachtet waren. Unterdessen trafen die anderen Männer die Vorbereitungen für das Opfer. Dazu gehörte, dass dem Opfertier Gerstenkörner, vermischt mit Salz, zwischen die Hörner gestreut wurden. Weil es hier keine Gerste gab, begnügten sie sich mit Baumlaub als Ersatz. Die Tiere wurden enthäutet. Sido schnitt die Schenkel heraus, umhüllte alles mit einer doppelten Fettschicht und legte rohes Fleisch darüber. Leider hatten sie keinen Wein mehr und mussten Wasser nehmen, um die Eingeweide zu besprengen. Polemon übernahm die Aufgabe, von den Innereien zu kosten. Das Fleisch war gut. Alle beteiligten sich daran, es in Stücke zu zerlegen und auf Gabeln zu stecken. Dann machten sie sich gierig über das Gebratene her.

Odysseus lag in einer Waldlichtung am Boden und schlief. Anfangs dachte er an einen Traum, wie er ihn in den letzten Tagen oft gehabt hatte, aber die Düfte, die ihm dann in die Nase stiegen, brachten ihn in die Wirklichkeit zurück.. Er sprang auf und rannte, so schnell er konnte, zurück zur Bucht. Er kam zu spät, um noch etwas zu verhindern, das sah er sofort. Und sein Erscheinen veranlasste sie keineswegs aufzuhören. Er schimpfte lautstark, aber als er merkte, wie wenig Eindruck das machte, ließ er es.
Er sah auf das Meer hinaus, wo die Abendsonne eben am Horizont verschwand. Er fühlte sich einsam. Wie würde das enden? Nach einigen Augenblicken hörte er jemanden kommen. Als er sich umdrehte, sah er Eurylochos mit einem Stück Fleisch in der Hand.
„Hast du etwa keinen Hunger?“ fragte er und hielt Odysseus die Gabel hin. Dieser zögerte. „Was ist mit Helios? Glaubst du wirklich, dass wir von ihm nichts zu befürchten haben?“
Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. „Wir opfern doch den Göttern…“
„Mit seinen eigenen Rindern? Du weißt, dass wir es nicht dürfen.“
„Ach, wir werden Helios auf Ithaka einen wunderbaren Tempel bauen. Das wird ihn versöhnen.“
Der Horizont war ungewöhnlich rot. Einige Möwen kreischten, sonst war es still. Odysseus wusste, dass ihm niemand die Entscheidung abnehmen konnte, auch kein Gott. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, das göttliche Verbot zu übertreten. Die Stimme des Sehers war eindringlich und eindeutig gewesen: es drohte schlimmes Unheil, wenn sie die Rinder des Helios schlachteten! Anderseits: die Seher behielten auch nicht immer Recht… Der Magen entschied. Kurz entschlossen nahm Odysseus dem Gefährten die Gabel aus der Hand und biss in das Fleisch.
„Komm“, sagte er und hieb ihm mit der Hand auf die Schulter, „gehen wir zu den anderen! Und an dem Bau des Tempels werde ich mich beteiligen.“
Als Odysseus mit Eurylochos zurück kam und nicht, wie erwartet, heftige Vorwürfe machte, sondern sich am Opfer beteiligte, waren die anderen Männer sehr erleichtert. Einige konnten es sich nicht erklären, andere nahmen es, wie es war. Aber welchen Einfluss hatte ihr Empfinden schon auf den Lauf der Dinge?
Sechs Tage lang wehte der Wind so schwach, dass an Abreise nicht zu denken war. Weitere Rinder wurden geopfert. Odysseus verwehrte es den Männern nicht, hielt sich selbst aber fern. Er machte lange Spaziergänge. Um die Insel zu umrunden, brauchte er drei Stunden. Richtige Wege gab es nicht, zur Mitte hin wurde das Gehölz lichter. Er blieb vornehmlich am Ufer des Meeres. Das Wetter war nicht schlecht. Er hoffte, dass der Wind sich bald drehen würde. Wenn nicht, mussten sie abwarten.
Am sechsten Tag war es dann so weit. Am Vormittag wehte nur ein laues Lüftchen, doch mittags kam Wind auf. Odysseus stand einige hundert Meter vom Lager entfernt am Meer, in Gedanken versunken. Er dachte an den Riesen und fragte sich, ob der wohl am Leben geblieben war. Dieser Polyphem war merkwürdig gewesen, unglaublich brutal zu den Menschen, aber geradezu zärtlich zu den Schafen. Der Sohn eines Gottes. Es war ja nicht zu vermeiden, dass sie ihn verletzten. Manchmal ließen einem die Götter keine Wahl, jedenfalls keine wirkliche. Verhielt es sich mit den Rindern hier auf der Insel nicht ähnlich? Oder galt das göttliche Gebot uneingeschränkt, selbst wenn der Mensch vor Hunger zu sterben drohte?
Auf einmal wurde ihm bewusst, welch frischer Wind ihm um die Nase wehte. Ungläubig sog er ihn ein. Da sah er auch schon Eurylochos auf sich zukommen. „Diesmal dürfte es gehen!“ rief er. Odysseus war gleich einverstanden. Eine halbe Stunde später war das Schiff bereit. Sie verließen die Insel Thrinakia. Je weiter sie auf das Meer hinaus kamen, desto dunkler wurde es. Am Horizont türmten sich die Wolken. Es hatte begonnen zu regnen. Gleichzeitig nahm der Wind zu. Immer häufiger geriet das Schiff ins Schlingern. Die Segel blähten sich und drohten zu zerreißen. Sie mussten sie raffen. Odysseus beauftragte vier Männer damit, keine leichte Aufgabe, wie sich zeigte, denn immer wieder fegten heftige Windböen über das Schiff.
Als Perseus und Thallas den Mastbaum hoch kletterten, um die Taue zu kappen, wurden sie von einer Böe erfasst und ins Meer geschleudert. Schon im nächsten Augenblick war jede Spur von ihnen verschwunden. Kein Schrei war zu hören, und in der Dunkelheit war nichts zu sehen. Es war gespenstisch. Wegen des hohen Seegangs konnten sie kein Rettungsboot zu Wasser lassen. Das Schiff schaukelte stärker. Zwei andere erfahrene Seeleute, Kalchis und Eispodos, kletterten erneut hoch, und ihnen gelang es diesmal, die Taue zu kappen. Kurz darauf ließ der Wind merklich nach. Doch der Regen verstärkte sich. Während den Männern anfangs nur die vielen Tropfen unangenehm ins Gesicht spritzten, das Unbehagen darüber aber weggewischt wurde von der Erleichterung darüber, dass es mit dem Sturm ein Ende hatte, änderte sich das, als der Regen zunahm. Bald konnte nicht mehr von Spritzern die Rede sein. Odysseus, der vorne am Bug stand, kam es vor, als würden ihm immer wieder Eimer voll Wasser ins Gesicht geschüttet. Oft hatte er Mühe, das Gleichgewicht zu halten, zumal auch der Wind wieder auflebte.
Ein erster Blitz erhellte die Finsternis. Für einen Augenblick sah es aus, als sänke auf der Steuerbordseite, keine hundert Meter vom Schiff entfernt, ein Stern in die dunkle See, die grell erhellt wurde und ihr Gischt schäumendes, unersättlich alles verschlingendes Wesen preisgab. Dann war es wieder so finster, dass auf dem Schiff niemand seinen Nachbarn erkennen konnte, wenn er einen hatte. Gewaltige Donnerschläge übertönten das Brausen der See. Jeder hielt sich fest, wo er nur konnte, die einen an der Reling, andere an den Rudersitzen oder am Fuß des Mastbaums. Odysseus, der sich weiter ganz vorne aufhielt und an der Bugspitze anklammerte, überlegte, ob dieses Unwetter die göttliche Strafe war, das von Teiresias vorausgesagte Unheil. Aber selbst jetzt empfand er bei dem Gedanken keine Reue, sondern sagte sich trotzig: Ist einer, der für alle Zeit in den Hades hinab fährt, weil er den Göttern gehorcht, nicht ein Dummkopf?
Wieder wühlte ein Blitz, der nahe dem Schiff einschlug, das Meer auf. Das Schiff geriet immer mehr ins Schlingern. Dann riss eine starke Windböe erneut jemanden über Bord. Odysseus konnte nicht erkennen, wen. Während er sich nach einem Tau umsah, weil er es gegen alle Erfahrung hinterher werfen wollte, wurde das Dunkel von einem Blitz erhellt, der unglaublich schnell, doch auch, wie es dem staunenden Odysseus erschien, quälend langsam mitten in den Mastbaum zischte und ihn von oben nach unten spaltete. Mit ungeheurem Getöse brach das Schiff auseinander. Der Sturm riss alle fort und verleibte sie der See ein, die sie unbeteiligt und unbeeindruckt in ihrem tiefen Schlund verschwinden ließ.

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