Die Versammlung der Ithakesier

Text

von  ManMan

Die Stimmung, in der er am Vorabend eingeschlafen war, hatte sich verflüchtigt, als Telemachos am Morgen aufwachte. Bald schon eilte er durch den Palast und gab Anweisungen. Boten riefen die männlichen, erwachsenen Einwohner Ithakas zur Ratsversammlung auf dem Marktplatz zusammen.
„Was verspreche ich mir davon?" fragte er sich, als er in einer ruhigen Minute nahe dem Eingang des Palastes Halt machte und auf das Meer und die angrenzenden Inseln hinausschaute. Würden die Freier nach solch einer Versammlung sein Haus verlassen? Oh nein! gab er sich selber zur Antwort, das ist erst der Anfang, aber der will gemacht sein!
Er begab sich, in Begleitung von zwei Hunden, zu dem weiter unten gelegenen Marktplatz. Als er dort ankam und auf den Sitz des Vaters zusteuerte, machten die Alten bereitwillig Platz. Die Aufgabe, die Versammlung zu eröffnen, fiel Aigyptios zu, einem vom langen Leben gebeugten Mann. Ein Sohn von ihm war nach Troja gezogen, eben jener Antiphos, den der wütende Polyphem zerstückelt und aufgefressen hatte. Der Vater wartete noch immer auf ihn. Zwar waren ihm drei weitere Söhne verblieben, doch das vermochte ihm nicht den Verlust des einen aufzuwiegen.
Mürrisch stellte er die Frage, ob es außer Odysseus überhaupt jemanden gebe, der berechtigt sei, eine Versammlung wie diese einzuberufen?
„Und welchen Grund könnte es dafür geben? Werden wir von einer fremden Macht bedroht? Müssen wir uns um unsere Sicherheit sorgen?"
Telemachos ergriff das Wort. Nein, es bestehe kein Anlass zur Sorge, dass sie von einer feindlichen Macht bedroht würden, und auch sonst sei das Wohl Ithakas durchaus gesichert. Seine eigene Not sei es, die er zum Thema machen wolle, sagte er, und diese Not habe nicht er herbeigeführt.
„Männer von Ithaka haben sie verschuldet, Söhne der besten Familien unseres Landes. Sie haben sich in meinem Haus niedergelassen. Sie kommen Tag für Tag, opfern Rinder, Schafe und Ziegen, die ihnen nicht gehören und trinken den Wein auf. Sie wissen, dass Odysseus nicht da ist und glauben, seine Frau und sein Sohn seien zu schwach, sich ihrer zu erwehren. Und ständig bestürmen sie meine Mutter, einen von ihnen zum Gatten zu erwählen..."
Er hielt inne und schaute in die Runde, wo er außer den Gesichtern der Freier, die keineswegs vollzählig erschienen waren, viele ältere und jüngere Männer sah, die ihm neugierig, aber ernst zuhörten.
„Natürlich werden sie keinen Erfolg haben, im Gegenteil! Schon der Gedanke, einem von ihnen zu gehören, lässt meine Mutter frieren. Sie ist überzeugt, dass ihr rechtmäßiger Gatte, mein Vater Odysseus, der König von Ithaka, am Leben ist und zurückkommen wird..."
Er wurde von Zwischenrufen unterbrochen:
„Ach was! Wann denn? Wann denn?" Einer rief: ,,Dauert es noch ein Jahrzehnt?"
Telemachos gebot mit einer Handbewegung Ruhe. Er wandte sich an Antinoos, einen Wortführer der Freier, der wenige Meter zu seiner Rechten saß:
„Ich fordere dich, Antinoos und alle anderen, auf, den Palast des Königs von Ithaka zu verlassen. Lasst uns endlich wieder normal leben! Oder gibt es einen anderen Grund, aus dem ihr bei mir bleiben wollt? Hat mein Vater eine Schuld auf sich geladen, die ihr sühnen wollt, indem ihr euch in seinem Haus breit macht und aufzehrt, was er erworben und zerstört, was er aufgebaut hat? Ist es so? Dann mache ich euch einen letzten Vorschlag: Zerstört das, was ihr für nötig erachtet, zerstört es nur! So schlimm das auch ist, so schön ist für mich die Aussicht, dass es dann mit eurer Anwesenheit bei mir ein Ende hat."
Er nahm seinen Stab und schleuderte ihn zu Boden, eine Geste, die ehrlich und ungeplant seine Wut, doch ebenso sein Verzweifeln an der Lage, in der er sich befand, zum Ausdruck brachte und auf die meisten Anwesenden ihre Wirkung nicht verfehlte. Ringsum betretene Gesichter.
Nur der scharfzüngige Antinoos blieb unbeeindruckt. Was Telemachos denn auf einmal so mutig mache? fragte er spöttisch, um sogleich zum Angriff überzugehen:
„Die Behauptungen, die Ihr hier aufstellt, entbehren jeder Grundlage. Nicht wir sind es, die eine Entscheidung absichtlich hinauszögern, sondern Eure Mutter ist es. Sie hat allen ihre Gunst versprochen, aber kein einziges Versprechen gehalten. Und sie wendet alle möglichen Listen an, wenn es darum geht, die Entscheidung weiter hinauszuschieben..."
Ein Zwischenruf von Peiros unterbrach ihn:
,,Habt Ihr für Eure Behauptung Beweise?"
,,Durchaus! Sie begann ein Tuch zu weben, angeblich das Leichentuch für den alten Laêrtes. Erst wenn sie das vollendet habe, wolle sie verkünden, für wen sie sich entschieden habe. Und tagsüber saß sie auch am Webstuhl, aber was sie gewebt hatte, trennte sie nachts wieder auf. Erst als wir einen Hinweis erhielten und sie ertappten, sah sie sich gezwungen, das Tuch zu vollenden. Jetzt ist es fertig, aber entscheiden will sie sich noch immer nicht!"
Er hielt inne. Die Zuhörer entnahmen seinem Gesichtsausdruck, dass er noch nicht am Ende war und warteten gespannt. Vereinzelt kamen Zurufe, die ihn zum Weiterreden aufforderten, aber Antinoos ließ sich Zeit, bis er sich erneut Telemachos zuwandte und fortfuhr:
„Ihr seid noch jung, Telemachos, und Ihr habt wenig Erfahrung. Das will ich Euch zugute halten. Am besten schickt Ihr Eure Mutter zurück zu ihrem Vater. Befehlt ihr, den von uns zu heiraten, den er für sie auswählt, wenn die Wahl ihre Zustimmung findet. So verlangt es die Sitte." Beifälliges Gemurmel war zu hören, dann fügte der Redner herausfordernd hinzu:
„Wenn Eure Mutter sich aber weigert, eine Entscheidung zu treffen, werden wir so lange hier bleiben, bis alles verzehrt ist. Vielleicht hat die Gattin des Odysseus ja den Wunsch, auf diese Weise berühmt zu werden, wer weiß?"
Den letzten Satz hatte er an die Zuhörer gerichtet. Jetzt wandte er sich noch einmal an Telemachos: ,,Ihr könnt viel verlieren, junger Mann, vielleicht sogar alles!"
Er erhielt reichlich Beifall, selbst Telemachos musste sich eingestehen, dass Antinoos mutig und geschickt geredet hatte. Es würde nicht leicht sein, ihm Gleichwertiges entgegenzusetzen. Er zwang sich zur Ruhe. Eine Frau aus seinem Haus musste ihnen die Information uber das Tuch zugesteckt haben. Sie sollte sich besser nicht verraten, dachte er, es ist widerlich, so etwas zu tun! Die Idee seiner Mutter gefiel ihm allerdings nicht schlecht, sie bewies Einfallsreichtum.
Er begab sich zum Platz des Redners. Während die Zuhörer im Halbkreis vor ihm saßen, befand sich in seinem Rücken ein altes Gemäuer. Heute war er froh, dass er den Rücken frei hatte. Niemand könne ernsthaft von ihm verlangen, dass er seine Mutter aus dem Haus werfe, bloß weil sie sich weigere, sich für einen der selbst ernannten Nachfolger seines Vaters zu entscheiden.
"Glaubt ihr, ich hätte das Herz, meine Mutter zu verstoßen, nur weil Ihr behauptet, Odysseus sei nicht mehr am Leben? Selbst wenn Ihr es beweisen könntet: woher sollte ich die Mittel nehmen, um ihrem Vater Ikarios die Mitgift zu erstatten? Viel wäre es nicht, was mir noch bliebe! Und wenn meine Mutter die Erinnyen anriefe, die bereit sind, solch eine Freveltat zu rächen? Nein, Antinoos, Eure Vorschläge haben keinen Sinn und bringen keinen Nutzen. Sie sollen nur davon ablenken, dass es an euch ist, dieses Haus wieder zu verlassen!"
Plötzlich wurden Rufe laut:
"Seht nur, da oben!"
Gemeint waren zwei Adler. Auf ihren mächtigen Schwingen bewegten sie sich zunächst majestätisch nebeneinander, direkt über den Häuptern der Versammelten. Dann gingen sie überraschend aufeinander los, krallten sich jeder am Körper des anderen fest, ohne an Höhe zu verlieren und drehten schließlich gemeinsam ab, nach rechts über die Häuser der Stadt hin zum offenen Meer. Zurück ließen sie viele staunende Menschen, von denen die meisten überzeugt waren, dass sie ein göttliches Zeichen gesehen hatten.
Der greise Halitherses, der Sohn Mastors, berühmt für seine seherische Gabe, zögerte nicht mit der Deutung: Das Aneinanderkrallen bedeute Kampf, sagte er. Die Freier täten gut daran, sich vom Anwesen des Odysseus zu entfernen, denn der Hausherr werde bald zurückkehren. Wen er unberechtigterweise in seinem Haus antreffe, dem drohe Tod und Verderben, auch wer ihnen geholfen habe, dürfe nicht mit Schonung rechnen.
„Ehe Odysseus nach Troja zog, habe ich vorhergesagt, er werde nach vielen Abenteuern und am Ende ganz allein zurückkehren. Bald wird es soweit sein, und dann denkt an das, was ich gesagt habe! "
Telemachos sah viele nachdenkliche Gesichter. Eurymachos aber, neben Antinoos Wortführer bei den Freiern, ließ sich nicht beeindrucken.
"Geh heim, Alter!" schimpfte er. "Wenn du weissagen willst, tu das zu Hause bei deinen Kindern, damit ihnen später kein Unheil widerfährt. Was hier geschehen ist, deuten wir selber. Es gibt so viele Vögel am Himmel, da ist es doch möglich, dass zwei miteinander kämpfen, ohne dass du gleich die Götter bemühen musst! Nein, Alter, Odysseus ist tot, daran kann es keinen Zweifel geben! Wenn du seinem Sohn Gutes tun willst, dann verleite ihn nicht zu unbedachtem Tun, denn davon hätte er ebenso wie du den Schaden. Wenn Eure Mutter sich aber weigert, eine Entscheidung zu treffen, werden wir so lange hier bleiben, bis alles verzehrt ist. Vielleicht hat die Gattin des Odysseus ja den Wunsch, auf diese Weise berühmt zu werden, wer weiß?"
Den letzten Satz hatte er an die Zuhörer gerichtet. Jetzt wandte er sich noch einmal an Telemachos: ,,Ihr könnt viel verlieren, junger Mann, vielleicht sogar alles!"
Vor allem unter den älteren Männern fanden viele diese Worte frevelhaft und    waren empört. Aber Eurymachos war wegen seiner Unberechenbarkeit gefürchtet, so dass sie sich zurückhielten und schwiegen.
„Telemachos sollte seine Mutter drängen, dass sie einwilligt und einen von uns zum Gatten nimmt. Wenn sie sich weigert, wird keiner von uns auf die Brautwerbung verzichten, und am Ende wird sie doch einem von uns gehören!"
Das war eine deutliche Kampfansage, eine öffentliche. Wenn Telemachos darauf einging, barg das Risiken. Schließlich handelt es sich bei den Freiern um einflussreiche Männer, überlegte er. Natürlich hatte er Hoffnung, dass sein Vater zurückkommen würde, vielleicht auch in der nächsten Zeit, aber sicher war er sich nicht... Nein! entschied er, es war nicht klug, jetzt auf die Herausforderung einzugehen, das musste noch warten.
,,Einverstanden“, sagte er also, "ich will nicht darauf beharren.“  Er machte eine Pause und sah zufriedene, aber auch überraschte Gesichter.
„Wie ich darüber denke, weiß man nun. Aber einen Wunsch solltet ihr mir erfüllen: Gebt mir ein Schiff und zwanzig Ruderer. Ich will nach Sparta und nach Pylos reisen und mich nach Vaters Verbleib erkundigen. Erfahre ich, dass er am Leben ist, will ich gern ein weiteres Jahr ausharren und auf seine Heimkehr warten. Höre ich jedoch, dass er gestorben ist, setze ich ihm ein Grabmal und lasse Mutter wieder heiraten."
Die meisten Anwesenden murmelten beifällig. Nur einer war empört: Mentor, ein alter Kampfgefährte von Odysseus mit schlohweißen Haaren. Odysseus hatte ihn, als er gen Troja zog, gebeten, sich während seiner Abwesenheit um sein Haus zu kümmern. Seit die Freier da waren, schaute er selten vorbei, weil er resigniert hatte. Jetzt aber konnte er sich nicht mehr beherrschen.
Er stürmte zum Rednerplatz und begann eine wütende Rede. Welche Bedeutung überhaupt noch jene Werte hätten, an denen er sich sein Leben lang orientiert habe, welchen Zeiten sie entgegengingen, wenn Ehrlichkeit und Rechtschaffenheit nicht mehr belohnt wurden? Ein König müsse es in Zukunft wohl vermeiden, gerecht und gütig zu sein, wenn er nicht so wie Odysseus behandelt werden wolle!
„Er muss wohl gegen heilige Sitten und Gesetze verstoßen, um von euch anerkannt zu werden, nicht wahr? 0h, ihr üblen Männer, ihr wollt euch mit Gewalt verschaffen, was ihr sonst nicht bekämt!“
Er blickte in die Runde:
"Und was ist mit den anderen? Ihr schaut diesem Treiben tatenlos zu? Hat euch der Mut verlassen? Könnt ihr euch nicht einmal mehr einer Minderheit erwehren?"
Sein Gesicht war rot angelaufen vor gerechtem Zorn. Aber es fand sich niemand, der den alten Mann unterstützte.

Telemachos entschloss sich, einen Spaziergang ans Meer zu machen. Er wusch die Hände und ließ sich den milden Wind um die Ohren wehen. Sein Blick verlor sich in der Feme, wo glattes Wasser in sanften Wellen zum Horizont hin auslief. Auf einem schwarzen Steinblock, den das Meer glänzend und glatt gewaschen hatte, ließ er sich nieder. Seufzend stützte er das Kinn in eine Hand. Das Ergebnis der Versammlung hatte ihn ernüchtert.
Wie sollte er allein es mit so vielen aufnehmen? Zum ersten Mal hatte er klein beigeben müssen, wo er doch so empört über ihre Dreistigkeit war. Er wünschte sich jemanden, der ihm half. Als Kind hatte er Athene angefleht. Aber die Götter, oder vielmehr ihre Priester, die sie angeblich verstanden, sagten mal dies und mal jenes. Wen er wirklich brauchte, war sein Vater. Lebte der noch? Immer dieselbe Frage und dieselbe Ungewissheit... Sein Körper straffte sich, als wollte er ihm mitteilen, dass er diese Ungewissheit  nicht mit dem Kopf teilte.                                                                     
Er straffte sich häufig, wenn Telemachos an den Vater dachte. Weil er sich so nach ihm sehnte? Aber wenn man sich sehnt, wird man weich, nicht hart. Die Härte ist das, was ich mir wünsche, der Mut, damit ich bei mir zu Hause aufräumen kann. Meine Mutter braucht Hilfe, von mir! Ja, er musste stark werden, um Mutter zu helfen! Sie sollte sehen, dass er ein Mann geworden war, stark wie Odysseus!
Noch besser wäre allerdings, er hätte ihn an seiner Seite und sie könnten gemeinsam... Ach was! Wieder seufzte er und starrte in die Wellen. Dann erhob er sich. Er musste sich um das Schiff und die Ruderer kümmern, anstatt zu jammern...
Als er in den Hof des Königspalastes kam, waren einige Freier damit beschäftigt, getöteten Ziegen das Fell abzuziehen. Andere brieten Schweinefleisch über offenem Feuer. Der beißende Rauch ließ Telemachos die Augen tränen. Gerade als er' dabei war, sie verstohlen abzuwischen, trat Antinoos auf ihn zu.
„Kommt und setzt Euch zu uns“, meinte er. ,,Eure trotzige Rede hat mich beeindruckt."
„Und was ist mit dem Schiff? Besorgt ihr es mir?"
„Warum nicht? Allerdings..."
,,Ihr stellt eine Bedingung?"
„Nun“, antwortete er ausweichend, ,,nicht direkt eine Bedingung, aber es wäre gut, wenn Ihr einen von uns als Begleiter mitnehmen könntet."
Telemachos war überrascht, doch ließ er sich nichts anmerken.
,,Das ist zweifellos eine Bedingung!" sagte er, und dann: ,,Nein, ich werde nicht darauf eingehen. Lieber besorge ich mir Schiff und Ruderer selbst!"
Damit dreht er sich um und ließ Antinoos stehen.

Bei den Freiern, die sich bald darauf dem Essen widmeten, war Telemachs Verhalten Gesprächsthema. Vor allem die jüngeren machten sich lustig über ihn. „Gebt acht!" spottete Tydeos, „er will uns ermorden und holt sich dafür Hilfe aus Pylos!"
Damit hatte er die Lacher auf seiner Seite. Ein anderer Freier namens Kephalopheros meinte scheinbar besorgt:
„Er wird sich doch wohl nicht in eine ähnlich schwierige Lage bringen wie sein Vater! Am Ende geht er ebenfalls auf See verloren und wir müssen das ganze Vermögen unter uns aufteilen und Penelope das Haus überlassen!"
Diesmal konnten die anderen vor Lachen kaum weiter essen.
Der Keller, in den Telemachos wenig später hinab stieg, diente dem Vater als Schatz- und Vorratskammer. Er war angefüllt mit duftenden Ölen und Weinfässern. Außer Telemachos hatte hier nur Eurykleia Zugang. Ihre Aufgabe war es, die aufbewahrten Gegenstände in gutem Zustand zu erhalten.
,,Ich benötige zwölf Krüge Wein, Mütterchen!" sagte Odysseus, als sie im Keller waren, ,,nimm den zweitbesten. Du weißt ja, der beste ist für Odysseus, wenn er heim kommt. Und sieh zu, dass du keinen Zeugen hast. Ich hole den Wein am Abend ab, wenn die Herrin zu Bett gegangen ist."
Die Alte kam dicht heran:
„Was habt Ihr vor, junger Herr?"
Er erklärte es und fügte hinzu:
„Ich vergaß, dass ich noch fünf Zentner Mehl benötige. Schütte sie in die vorbereiteten Schläuche."
,,Aber junger Herr! Wisst Ihr nicht, dass die Freier Euch nachstellen? Dass sie Euch töten wollen? Und der König? Wer weiß, ob er noch lebt! Wenn Ihr wissen wollt, was ich darüber denke, dann antworte ich Euch ehrlich: Ich habe keine Hoffnung mehr. Und jetzt begebt Ihr Euch auch noch in Gefahr..."
Sie redete immer weiter, wiederholte sich mehrmals, bis es Telemachos zu viel wurde.
„Schluss jetzt, Mütterchen! Du weißt, dass die Götter auf Seiten des Gerechten sind..."
„So? Und warum ist dann der König nicht wiedergekommen?"
Telemachos ließ sich auf keine Diskussion ein:
„Sieh zu, dass du alles erledigst! Schwöre mir, dass du niemandem etwas von meiner Abreise erzählst. Auch meine Mutter darfst du erst nach zwölf Tagen informieren!"
Obwohl Eurykleia keineswegs von der Ungefährlichkeit der Reise überzeugt war, leistete sie den Eid. Sie war es gewohnt, den Wünschen der Herrschaft nachzukommen.
Telemachos begab sich zum Hafen. Noemon erklärte sich bereit, ihm ein geeignetes Schiff zu vermieten und zwanzig Ruderer fand er bald. So kam es, dass Schiff und Mannschaft schon am Abend abfahrbereit am Ende der Phorkys-Bucht warteten. Jetzt galt es, abzuwarten, bis die Freier müde waren und sich auf den Heimweg machten. Diese Vorsichtsmaßnahme schien nötig wegen des vorzüglichen Blickes, den man vom Palast aus auf das Meer hatte. Telemachos setzte sich hinten ans Steuer, die Seeleute lösten die Taue und nahmen auf den Ruderbänken Platz. Am Himmel waren keine Sterne zu sehen, aber es sah auch nicht nach Regen und Sturm aus. Ruhig glitt das Schiff bei leichtem Wind auf die offene See hinaus.


Kalypso hatte günstige Winde vorhergesagt, und anfangs hatte sie Recht behalten. Unentwegt am Steuer sitzend, orientierte sich Odysseus tagsüber an der Sonne und nachts an den Sternen, wobei er Acht gab, dass die Große Bärin, wie die Nymphe es ihm eingeschärft hatte, immer zur Linken blieb.
Siebzehn Tage lang ging das so. Odysseus gewann Zuversicht. Diesmal würde er es schaffen! Alle Sinne waren gespannt, auch wenn er gerade nicht am Steuer saß. Keine Änderung am Horizont entging ihm. Dabei kreisten seine Gedanken um die Zukunft. Das Kapitel Kalypso hatte er abgehakt: eine Erfahrung in seinem bewegten Leben, mehr nicht. Die Veränderung, die dazu führte, dass sie ihm die Abfahrt ermöglichte, war gekommen, weil er gelassen abgewartet hatte. Er fühlte sich bestätigt. Weniger wohl war ihm bei dem Gedanken an die Gefährten. Es war nicht leicht, sich damit abzufinden, dass sie gestorben waren, weil sie die Rinder des Sonnengottes geschlachtet hatten. Was hätten sie denn machen sollen? Sich hinlegen und auf das Ende warten? Verlangten die Götter so etwas von den Sterblichen? Dass sie sich eher selbst aufgaben als dass sie gegen ein göttliches Verbot verstießen? Odysseus spürte, dass er sich auf ein gefährliches Gebiet vorwagte. Die Götter ließen nicht mit sich spaßen, wenn man sie angriff, das hatte er von Kind auf gelernt. Aber wenn sie es waren, die ihn angriffen? Sollte er sich dann nicht wehren?

Blaues, von leichten Wellen gekräuseltes Wasser trug das Floß in die nördliche Richtung. Alles lief wie geplant. Dann tauchte Land auf, und es waren Berge zu sehen. Offenbar eine Insel, sogar recht groß. Odysseus überlegte, wo er war, aber er wusste es nicht.
Der Wind wurde immer stärker. Wolken türmten sich übereinander, bald geriet das Meer in heftige Bewegung. Der Himmel verfinsterte sich. Die Winde schienen von allen Seiten zu kommen und aufeinander zu prallen, mit unglaublicher Wucht. Die Wogen wurden immer größer, das Floß wurde hin und her, hoch und runter geschleudert, es wurde immer schwieriger, sich festzuhalten. Kalypso hat nicht übertrieben, dachte er. Die Nymphe hatte verkündet, er müsse noch eine Fülle von Leiden überstehen. Wie lange das Floß wohl halten würde?
Gerade da kam eine mächtige Woge angerollt, direkt auf ihn zu. Das schwere Floß wurde wie ein leichtes Boot hin- und hergewirbelt. Die kalten Hände vermochten das Steuer nicht länger zu halten. Odysseus wurde in die tosende See geschleudert. Von dort aus beobachtete er, wie eine gewaltige Sturmböe den Mast umknickte. Segel und Rahe flogen davon und verschwanden nach kurzer Zeit in den Fluten. Was für ein Glück ich doch habe! dachte er unwillkürlich. Da kam eine Welle und riss ihn hinweg. Er konnte sich nicht länger über Wasser halten, verschluckte sich, versuchte mit heftig rudernden Armbewegungen hochzukommen, sank aber immer wieder unter. Plötzlich tauchte unmittelbar neben ihm ein Brett auf. Rasch ergriff er es und klammerte sich daran fest. Immer wieder zogen ihn die nassen Kleider nach unten. Er beschloss, sich ihrer zu entledigen. Kein einfaches Unterfangen, aber schließlich gelang es. Die See beruhigte sich zusehends.
Es war heller geworden. Das Ufer lag nicht mehr weit entfernt. Er beschloss, den Versuch zu wagen, es schwimmend zu erreichen. Das Wetter hatte sich weiter gebessert. Die Sonne kam hervor. Während er mit kräftigen Stößen schwamm, legte sich der Wind. Bald regte sich kein Lufthauch mehr. Das Land rückte immer näher. Er wunderte sich, dass er nicht erschöpfter war. Im Gegenteil: Jetzt, wo der Wind sich gelegt hatte, lag eine Leichtigkeit über allem, für die es weder Mühsal noch Entfernung gab. Eine Zeitlang ging es ihm richtig gut.
Bis er ein Brausen hörte, das immer mächtiger anschwoll. Bis er die Felsen, Klippen und Riffe sah, an die das Wasser brandete. Die Strömung! Wie sollte er das Wasser verlassen?! Sie war so stark, dass er sich nicht auf den Beinen halten konnte. Jeder Versuch endete mit einem Sturz, es war zum Verzweifeln! Zurück ging es auch nicht mehr.
In seiner Not griff er nach einem spitzen Felsvorsprung und klammerte sich mit letzter Kraft fest. So kann es gelingen! dachte er schon, da erfasste ihn eine anbrandende Woge, dass es ihn zurückriss in die See, hinweg über alle Steine, und die waren spitz und schmerzhaft.
Im tieferen Wasser tauchte er ab und entfernte sich mit kräftigen Zügen vom Ufer. Er schwamm ein Stück weiter. Hier war es nicht mehr so felsig, ein Fluss schien einzumünden, Odysseus sah glattes Gestein. Die Strömung wurde schwächer, je mehr er sich in Ufernähe bewegte. Schließlich geriet er in seichtes Gewässer, so flach, dass es nicht einmal seine Knie erreichte. Unendlich müde ließ er sich flach auf den Rücken fallen. Das Wasser lief ihm aus Nase und Mund, aber er blieb reglos liegen, ohne einen Ton von sich zu geben. Erst nach geraumer Zeit kam er wieder zu sich. Es gelang ihm, heraus zu kriechen, wobei er noch einmal gurgelnd Unmengen Wasser von sich gab. Dann ging er ein paar taumelnde Schritte und sank zu Boden. Glücksgefühle überwältigten ihn jetzt. Er war gerettet und konnte es kaum fassen. Überschwänglich drückte er den Mund in das weiche Gras. Er holte tief Luft und schloss die Augen. ..
Aber schon im nächsten Augenblick war Mutlosigkeit angesagt. Hier am Strom konnte er nicht bleiben, er würde die Nacht nicht überleben, nass und ausgehungert, wie er war, zumal ein eisiger Wind wehte. Legte er sich unter einen Strauch, bestand die Gefahr, von einem wilden Tier zerrissen zu werden.
Er entschloss sich, die Böschung ganz hinaufzuklettern und im nahen Wald ein geeignetes Versteck zu suchen.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(18.09.16)
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