Treibjagd

Erzählung zum Thema Vergangenheit

von  Mutter

Draußen hat sich die Wetterlage nicht verändert – die Sicht bleibt beschissen. Molly flucht und zieht sich den Kragen ihrer Allwetterjacke dichter am Hals zusammen.
Ich mache mich auf den Weg nach Westen, mitten durch den Ort. Sie folgt mir, beschleunigt kurz, um gleichauf zu ziehen und neben mir laufen zu können.
‚Zu wem wollen wir?‘, will sie wissen.
Ich lege einen Finger auf die Lippen und schüttele sanft den Kopf. Verärgert will sie mich an der Jacke packen, mich aufhalten. Sie hat keinen Bock auf Spielchen.
Verstehe ich, kratzt mich gerade aber nicht. Ist mir zu mühselig, ihr die gesamten Sachverhalte zu erklären. Muss sie akzeptieren, dass sie im Beifahrersitz sitzt. Along for the ride.
‚Fuchsjagd‘, sage ich, kurz angebunden. Kurz frage ich mich, ob das eine Retourkutsche für all die Gelegenheiten ist, in denen sie mir die Alpharolle streitig gemacht hat. Durchaus möglich, denke ich mit einem Lächeln.
Mit einer geschmeidigen Bewegung schüttele ich ihren Griff ab, beschleunige meinen Schritt. Sie bleibt weiter stehen.
Nach zwei, drei Schritten halte ich inne, drehe ich mich um. Die Arme ergeben ausgebreitet, sage ich: ‚Ich erklär’s dir, wenn wir bei Paddy waren, in Ordnung?‘
Molly zischt einen Fluch und folgt mir.
Wir gehen die einzige größere Straße des Ortes entlang, die Häuser auf der rechten Seite sind im Dunst gerade noch zu sehen. Links liegt der Hafen, und aus dem Feucht stehen die schwarzen Masten und Spanten kleinerer Boote.
‚Wird hier noch gefischt?‘, fragt Molly überrascht, die Stimme merkwürdig gedämpft.
‚Wie man’s nimmt. Sie fahren raus zum Fischen, und ab und an bringen sie Meeresfrüchte mit zurück. Die leben nicht von ihren Erträgen, sondern von den Subventionen, die ihnen die Regierung zahlt.‘
‚Damit sie auf der Insel bleiben?‘
‚Ja. Es gibt drüben im Westen, in der Republik eine ganze Menge Inseln, da hat das nicht geklappt. Auf denen lebt heute keine Sau mehr. Das würden sie hier gerne verhindern.‘
‚Gut für die Schmuggler.‘
Mit einem Seitenblick nicke ich. ‚Geradezu paradiesisch.‘
Kurz vor Ende des Ortes steuere ich uns einen kleinen Weg hoch, auf eine geduckte Hütte zu. Statt in traditionellem Weiß sind die Häuserwände mit grobem, grauen Putz bedeckt. Insgesamt macht das Haus den gleichen tristen Eindruck, den Paddys Leben früher gemacht hatte.
Paddy sei der ‚runt of the litter‘ – der kleinste und schwächste, hatte Money immer verächtlich gesagt. Den alle wie ein Maskottchen tolerieren würden.

Ich drücke die Klinke der unverschlossenen Tür hinunter und denke darüber nach, wie ich verhindere, dass Paddy mit einem Herzkasper tot zu Boden fällt, wenn er mich sieht.
Von einem engen, dunklen Flur gehen zwei Türen und eine Treppe ab, und ich erinnere mich, dass die Küche zur Rechten liegt. Öffne auch diese Tür, spähe hinein.
Tatsächlich steht Paddy drinnen am Herd, in Unterwäsche und Pantoffeln, und gießt gerade kochendes Wasser in einen tiefen Teller. Porridge – Haferschleim.
‚Hallo Paddy‘, sage ich gutgelaunt und schiebe mich in den Raum. Hinter mir höre ich Molly.
Er fährt herum, erstarrt. Ich überlege kurz, ob er jetzt gleich den Emaille-Teller fallen lässt. Macht er nicht - er ist eingefroren. Eventuell ist es gar nicht Angst, sondern die Tatsache, dass ihn seit dreißig Jahren zum ersten Mal eine Frau in Unterwäsche sieht. Sein spitzes Gesicht passt gut zu einem Fuchs, den wir in der Ecke des Feldes gestellt haben.
Ich gehe zu ihm rüber, nehme ihm sanft den Teller und den Kessel aus der Hand und setze beides auf der gefliesten Anrichte ab.
‚Setz dich‘, fordere ich ihn auf. Lege ihm sanft die Hand auf die Schulter, steuere ihn in Richtung Tisch, an den sich Molly bereits gesetzt hat. Er lässt es geschehen.
‚Corker‘, bringt er endlich heraus, als ich ihn auf den alten Stuhl hinunter drücke. Sieht nicht mich, sondern Molly an. Sie lächelt.
Ich mache zwei Schritte zurück an den Herd und suche den Porzellan-Behälter, in dem Paddys Mom immer ihre Teebeutel aufbewahrt hat. Werde fündig und schmeiße drei Beutel und heißes Wasser zusammen in den Teepott.
Drehe mich zum Raum um und betrachte das Stillleben dort vor dem Fenster. Die gnadenlos schöne Mörderin und der einfältige Idiot, der den Blick nicht von ihr lassen kann.
‚Paddy!‘, sage ich. Keine Reaktion.
Lauter. ‚Hey, Paddy.‘ Sein Kopf zuckt herum.
‚Corker‘, krächzt er erneut.
Ich lächele ihm zu. Wie ein Hai eine Bikini-Schönheit anlächeln würde, der er mitten in der Ägäis begegnet. ‚Du erinnerst dich noch an mich.‘
‚Klar‘, stammelt er. Stellt fest: ‚ Du bist zurück.‘
Ich trage die Teekanne rüber zum Tisch und stelle energisch drei Becher mit der anderen Hand auf das glattpolierte Holz. Bei dem Lärm zuckt er zusammen. Ich lehne mich herunter, komme ihm ganz nah, lege ihm die Hand auf die Schulter.
‚Schenk ein‘, befehle ich ihm mit einem Nicken in Richtung der Becher und lasse mich auf einen Stuhl an seiner anderen Seite fallen.
Gehorsam greift er nach der Kanne, verbrennt sich die Finger. Pustet sich in die Hand, streckt sie ein weiteres Mal aus, befüllt die braunen Becher. Die kenne ich ebenfalls noch von seiner Mutter.
‚Wann ist deine Mom gestorben?‘, will ich wissen, während ich Milch aus einem Töpfchen in meinen Tee gießen.
Paddy sieht mich überrascht an.
Antwortet, während er seine Tasse mit dem Finger hin und her schiebt: ‚Vor zwei Jahren. Die Ärzte konnten ihr nicht länger helfen.‘
Ich nicke, nehme einen heißen Schluck. ‚Das tut mir leid.‘
Er nickt, zuckt mit den Schultern. ‚Ist schon okay.‘
Unvermittelt komme ich zur Sache. ‚Paddy, hast du eine leise Ahnung, warum ich hier bin?‘
Sein Blick hebt sich, er sieht mich an. Mit erstaunlich festem Blick. Nickt langsam, nachdenklich, und sagt: ‚Schätze schon. Trickster meinte, du würdest hier auftauchen.‘
‚Verstehe. Und da ist der kleine Paddy überhaupt nicht überrascht, sondern serviert seinen Gästen Tee. Wie es sich gehört.‘
Sein Blick wird unsicherer, wandert zu Molly.
Blitzschnell lehne ich mich vor – als er sich zu mir zurückdreht, berühren sich unsere Nasenspitzen kurz. Mit geweiteten Augen sieht er mich an.
‚Paddy, ich bin fuckin‘ pissed. Mir haben sie die Knochen gebrochen, mich aufs Rad geflochten, mir in die Suppe gespuckt – jetzt bin ich hier, um jemanden in den Arsch zu treten. Bist du dieser Jemand, Paddy? Muss ich dir in deinen knochigen Hintern treten, bis es knackt?‘
Stumm verneint er.
‚Gut.‘ Ich lehne mich zurück, betrachte ihn. ‚Erzähl mir von der Insel. Was macht der Trickster dieser Tage? Hast du von Money gehört?‘
‚Money? Monaghan? Nein, seit Jahren nicht.‘ Er scheint ehrlich verwirrt. ‚Wie kommst du auf den? Ist der nicht über den Teich?‘
‚Ist er. Scheißegal, vergiss Money. Reden wir über den Trickster. Ist er noch im Geschäft? Runs?‘
Paddy orientiert sich, versucht, mir zu folgen. ‚Naja, schon. Irgendwie‘, fügt er hastig hinzu.
‚Heißt was?‘
Er räuspert sich, schiebt sich auf dem unbequemen Stuhl hin und her. ‚Die Grotte - sie haben die wieder in Betrieb genommen.‘
Die Info überrascht mich. Davon hatte Jill nichts erzählt. ‚Aber dich haben sie nicht mitgenommen?‘
Schnell schüttelt er den Kopf. Lächelt verlegen: ‚Ich glaube, der Trickster mag mich nicht mehr, seit meine Mom gestorben ist.‘
Der Trickster war immer eine linke Sau, und es gab Gerüchte, dass er was mit Paddys Mutter am Laufen hatte. Bei dem Gedanken an den bulligen Mann mit den kleinen, wachsamen Augen läuft mir ein Schauer über den Rücken. Ein wohliges Gefühl der Vorfreude – dem Penner wollte ich seit Jahren mal die Fresse polieren.
Mit einem Ruck stehe ich auf. ‚Die Grotte? Ich schätze, ich weiß, wo der Trickster hin ist. Von wegen Hummerbänke.‘
‚Was machst du?‘, will Paddy wissen, der mich von unten verstört ansieht.
Ich grinse wölfisch. ‚Wir sind auf Treibjagd: Erst der Fuchs, jetzt geht es um größere Beute. Schießen uns einen kapitalen Eber.‘
Wir lassen einen verunsicherten Paddy in der Hütte hinter uns zurück – bevor die Tür zuklappt, rufe ich zu ihm hinein: ‚Und zieh dir was an. Du verkühlst dir die Leiste.‘
Molly läuft neben mir auf den Platten aus Waschbeton zur Straße runter und fragt: ‚Was für eine Grotte? Hat die was mit den Schmugglern zu tun?‘
Mit zusammen gebissenen Zähnen sage ich: ‚Die Höhle am Wasser war früher das Epizentrum der Insel, der Herzschlag. Dahin gehen wir jetzt und verursachen einen Infarkt!‘

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(02.11.09)
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 Mutter meinte dazu am 02.11.09:
Okay, bisschen was aufgespürt ...
Manches durfte weiterschlafen. :)
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