Nausikaa, die Königstochter

Text

von  ManMan

Als Odysseus am Morgen aufwachte, ließ er ungläubig die Augen durch das fremde Gemach streifen, zunächst zur Decke, die mit einem samtenen Baldachin verhängt war, dann zu dem silbernen Kleiderständer und schließlich zum offenen Fenster, dessen Läden goldene Knöpfe hatten, an denen man sie zuzog. Als er aufstand, traten seine Füße auf einen kostbaren Teppich, dicht und angenehm weich, mit einem kunstvoll hinein gewebten Jagdmotiv.
Auch in dieser Nacht hatte er geträumt, wieder war es ein seltsamer Traum. Große schwarze Vögel flogen über das weite Meer, an dem kein Horizont zu sehen war. Seltsam, dass er gar nicht vorkam in dem Traum, nur das Meer und die großen Vögel. Nichts an ihnen war bedrohlich, sie flogen ruhig dahin, ohne sich um etwas zu kümmern. Dass er nicht dabei war, wunderte ihn. Konnte man überhaupt von etwas träumen, ohne beteiligt zu sein?
Während er sich ankleidete, grübelte er weiter. Standen die Vögel für den Wunsch, nach Hause zu kommen? Oder wollte ihm einer der Götter die Botschaft senden, dass es Zeit war abzureisen?
Er wusch sich flüchtig mit Wasser aus dem Eimer, den man ihm für diesen Zweck vor die Tür gestellt hatte. Der Saal unten war leer und wirkte größer als am Vorabend. An seinem Platz fand er eine Melone und eine Kanne mit weißem Inhalt. Ziegenmilch, wie sich herausstellte. Er setzte sich, teilte und schälte die Melone und füllte den Becher zweimal auf. Dann ging er vor den Palast.
Die Luft war frisch. Er blieb stehen und atmete tief ein und aus. Morgens war es am angenehmsten. Man geriet nicht gleich ins Schwitzen, wenn man sich bewegte.
Plötzlich hörte er ein Geräusch. Als er sich umdrehte, sah er Nausikaa mit ihren drei Begleiterinnen, unter ihnen Atossa.
Die Königstochter neigte zur Begrüßung den Kopf. Ob er gut geschlafen habe? „Nein“, sagte Odysseus, „es war zu viel Wein gestern Abend."
„Ihr wolltet niemandem wehtun und habt daher nicht Nein sagen können?" fragte Nausikaa mitfühlend.
Als er nickte, schlug sie vor, gemeinsam einen Spaziergang zu machen.
„Gerne“, willigte er ein, ,,zeigt mir euern Garten."
„Wollt Ihr einen männlichen Begleiter?"
Odysseus winkte ab. „Nicht nötig. Oder brauche ich etwa einen?"
Die Mädchen kicherten, und Nausikaas Gesicht lief rot an.
„Gehen wir!" sagte der Mann und bot Nausikaa den Arm, den sie dankbar nahm.
Der Garten war von einer Mauer umgeben. Odysseus sah zuerst die hohen Obstbäume mit Äpfeln und Birnen. Es gab auch süße Feigen, und wie er bereits erfahren hatte, köstliche Oliven. Nausikaa reichte ihm einen Apfel.
„Probiert einmal! Sie schmecken herrlich. Und wir können sie über das ganze Jahr ernten. Mein Vater sagt, das liegt am milden Westwind, den Zephyros wehen lässt."
Sie gingen weiter und kamen an einer Quelle vorbei.
Das Wasser floss in Gräben, die es überallhin verteilten. An der sonnigsten Stelle befand sich ein Feld mit Weinreben, die voll hingen mit dunklen Trauben. Nausikaa erläuterte, ein Teil der Trauben werde geerntet, der andere gekeltert.
Odysseus deutete auf ein schattiges Plätzchen unter einem Olivenbaum.
„Wollen wir uns ein wenig ausruhen?"
Wieder kicherten die Mädchen und sahen sich bedeutungsvoll an. Nausikaa wandte sich an sie.
„Ihr könnt an den Strand gehen!" sagte sie und wies auf ein Tor in der hinteren Mauer.
Sie ließen sich unter dem Baum an einer mit Gras bewachsenen Stelle nieder.
„Manchmal muss ich mich von den Mädchen erholen“, meinte sie, offensichtlich bemüht, ihre Verlegenheit zu überbrücken.
Odysseus wandte ihr das Gesicht zu. ,,Ist es der Wunsch Eures Vater, dass sie Euch ständig begleiten?"
Nausikaa nickte. „Väter sind immer um ihre Töchter besorgt."
Dabei sah sie den Mann herausfordernd an, doch der nickte bloß. ,,Die Töchter sollten den Vätern dafür dankbar sein."
Beide schwiegen und lauschten dem Lärm der Spatzen in dem Birnbaum nebenan. Es war kühl und schattig. Odysseus hatte die Hände hinten ins Gras gestützt und betrachtete Nausikaa. Sie war groß, sogar größer als er selbst, aber er mochte große Frauen. Auch wenn ein weites Gewand ihren Körper verbarg, ahnte er seine Konturen. Und welchen Liebreiz ihr Gesicht ausstrahlte: eine Frau, eine richtige Frau... Auf einmal wurde ihm bewusst, wie stark sein Verlangen war. Aber er hatte es nicht mit einer wie Kalypso zu tun, die sich ihm bereitwillig hingegeben hatte. Behutsam richtete er sich auf und strich der Frau, die sich in das Gras gelegt hatte, die langen Haare aus dem Gesicht.
Sie zuckte zusammen. Ihr Körper wurde starr. Sie nahm seine Hand und schob sie beiseite. Dann richtete sie sich auf.
„Mein Vater ist sehr besorgt um seine Tochter. Wir sollten zum Palast zurückgehen."
Als sie aufstehen wollte, bot er ihr erneut seine Hand. Nausikaa übersah sie.
Die langen Tische waren zu einem Viereck angeordnet, in dessen Mitte der knorrige Stamm des großen Maulbeerbaumes aus dem Boden ragte. Der Himmel war schwarz und die wenigen Sterne wurden von dem Baum verdeckt, der in den Himmel wachsen wollte.
Die königliche Familie hatte sich zum Nachtmahl im Hof des Palastes versammelt. Auch Kinder waren anwesend. Überall ringsum waren Öllampen aufgestellt oder mit langen Stäben im Baum befestigt. Diener oder Sklaven trugen Speisen und Getränke auf und Demodokos, der etwas abseits auf einer Bank saß, die vom Licht nur wenig beschienen wurde, spielte auf der zwölfsaitigen Kithara leise vor sich hin. Der königliche Hofsänger mochte diese Zeit, wenn alle mit dem Essen beschäftigt waren und er kaum beachtet, aber auch nicht gestört wurde. Er spielte mit der Melodie, wie mit einem Ball, dessen Umfang sich ständig verändert, der springt und nicht rollt. Der König und seine Familie mochten solche Tonfolgen nicht sehr, aber man ließ den Sänger gewähren.
Nausikaa saß neben ihrer Mutter und hatte bereits mehrmals geflüstert: Er soll singen, er soll singen!
Das sei Sache des Vaters, hatte die Königin geantwortet, ungnädig und laut. Prompt kam Alkinoos von der anderen Seite, wo er mit seinen Söhnen Laodamas, Halios und Klytoneos zusammen saß, herüber.
,,Bitte, Vater, lass ihn das Lied von Troja vortragen, ich höre es so gern."
Alkinoos schmunzelte über seine vorwitzige Tochter. Er gab dem Sänger ein Zeichen. Alle wurden still und er begann.
Es war offenbar ein bekanntes Lied, doch alle lauschten so aufmerksam, als hörten sie es zum ersten Mal.
Odysseus aber hatte von Anfang an das Gefühl, es müsse ihm das Herz zerreißen. Der Streit mit Achill. Die Frage, was wertvoller ist im Krieg, hatte sie damals aneinander geraten lassen: ist es List oder Tapferkeit, ist es die Klugheit oder die Stärke? Ihn hatte erbost, dass Achill alle Probleme mit Tapferkeit und Stärke lösen wollte. Zwar war er keineswegs der Meinung, dass sie im Krieg unwesentliche Tugenden waren, denn dann wäre er ein Narr. Aber er hatte die Meinung vertreten, List und Klugheit könnten mehr bewirken. Hatte er nicht Recht behalten? Es war schließlich seine List mit dem hölzernen Pferd, die zum Sieg führte.
Anderseits: Was half der Sieg, wenn er nicht wie ein Sieger heimkehren durfte? Das beschäftigte ihn schon lange, und eine Antwort fand er nicht.
Verstohlen rieb er sich einige Tränen aus dem Gesicht. Dann wandte er sich möglichst unbefangen Alkinoos zu. Ein schönes Lied trage der Sänger vor, sagte er tapfer.
,,Ist es Euch nicht bekannt?" fragte Alkinoos verwundert. ,,Aber von dem Kampf vor Troja habt Ihr gehört, nicht wahr?"
Es war still geworden ringsum, wie immer, wenn der König der Phaiaken sich an Odysseus wandte.
„Und ob! Ich war selbst bei dem Kampf dabei."
Der letzte Satz war ihm gegen seinen Willen aus dem Mund gerutscht, doch jetzt konnte er ihn nicht mehr zurücknehmen.
Alkinoos gebot dem Sänger Schweigen.
„Dann müsst Ihr ein tapferer Mann sein“, meinte er beeindruckt.
Odysseus sah alle Blicke auf sich gerichtet. Der König sprach leise ein paar Worte mit seiner Gattin. Diese stand auf, ging zu Nausikaa und verließ zusammen mit ihr den Hof in Richtung Palast.
Während sich Odysseus noch verwundert fragte, was das zu bedeuten hatte, kam Alkinoos und nahm neben ihm auf der Bank Platz. Er suchte das Gespräch.

„Ihr seid mein Gast“, begann er, „und das Recht des Gastes ist mir heilig. Ich will Euch also nicht drängen, dass Ihr uns sagt, wer Ihr seid."
Offenbar doch! dachte Odysseus. Laut sagte er:
„Ich werde es euch allen bald mitteilen. Lasst mir ein wenig Zeit."
Alkinoos neigte höflich seinen Kopf.
„Es wäre unverzeihlich, ließen wir sie Euch nicht!"
Er hielt inne, aber es war ihm deutlich anzumerken, dass er noch nicht fertig war. Odysseus wartete gespannt.
„Auch wenn Ihr Euch noch nicht vorgestellt habt“, meinte Alkinoos schließlich, „seid Ihr mir inzwischen schon fast vertraut, und meiner Tochter wohl auch." Erwartungsvoll sah er den Ithaker an. Dieser nickte.
„Ihr habt eine Tochter, die nicht nur gut aussieht, sondern auch sittsam und keusch ist. Ihr könnt stolz auf sie sein."
Alkinoos nickte.
„Ich bin es. Aber ich mache mir Sorgen, weil sie noch keinen Mann gefunden hat, der ihr gefällt."
,,Ach“, winkte Odysseus ab, „der wird sich finden."
Alkinoos sah ihn bedeutsam an.
„Ihr gefallt meiner Tochter“, sagte er langsam und gewichtig. „Wollt Ihr sie nicht zur Frau nehmen? Ihr müsst mir nicht gleich eine Antwort geben. Übrigens könnt Ihr auch jederzeit den Heimweg wählen, wenn es Euch lieber ist. Ich habe ein Schiff bereitstellen lassen, das Euch geleiten wird."
„Ich danke Euch für Euer Angebot. Es zeugt davon, dass Ihr mir großes Vertrauen schenkt. Aber“, er zögerte einen Augenblick, „auch für diese Frage gilt, was ich vorhin gesagt habe: Lasst mir ein paar Tage Zeit."
Kurze Zeit später kam Nausikaa mit ihrer Mutter zurück. Die Kinder waren inzwischen zum Schlafen in den Palast gebracht worden. Demodokos durfte wieder ein Lied vortragen, während seine Zuhörer tranken und aßen und sich angeregt unterhielten.
Der Abend war mild. Als Odysseus sich von der Gesellschaft freimachen und schlafen gehen konnte, war es tiefe Nacht.

Schon kurz nach Sonnenaufgang wurde er von dem Lärm vor dem Palast geweckt. Als er hinaus sah, entdeckte er viele junge Männer, die in Gruppen zusammen standen, unter ihnen auch die Königssöhne. Andere Jungen standen neugierig abseits. Was hatte das zu bedeuten? Odysseus erkundigte sich bei einem Diener. Ein sportlicher Wettkampf stehe auf dem Programm, erfuhr er, der König werde auch kommen. Odysseus horchte auf. Ob er sich daran beteiligen konnte?
Nausikaa holte ihn mit ihren Dienerinnen ab. Sie gingen auf eine große Wiese unweit des Palastgartens und fanden dort schon einige Männer vor, leicht bekleidet und bereit, sich im Kampf zu messen. Kurz darauf kamen auch jene, die ihn aufgeweckt hatten, hinzu, aber jetzt war Alkinoos bei ihnen.
Der Wettkampf begann mit einem Lauf über eine Sandbahn. Kinder in hellen Gewändern riefen den Athleten aufmunternde Parolen zu und klatschten in die Hände. Bald herrschte eine Stimmung, wie Odysseus sie lange nicht erlebt hatte, freudig und ausgelassen.
Sieger wurde mit großem Vorsprung der Königssohn Klytoneos. Im Ringkampf gewann Euryalos. Amphialos siegte im Weitsprung, Etatreus im Diskuswerfen, und Laodamas, des Alkinoos Sohn, im Faustkampf. Übrigens siegten immer die, von denen man es erwartet hatte, wie Odysseus beobachtete.


Der Faustkampfsieger Laodamas war es schließlich, der den abseits stehenden Gast fragte, ob er sich nicht am Wettkampf beteiligen wolle. Euryalos meinte herausfordernd:
„Ein Kenner von Spielen scheint Ihr nicht gerade zu sein".
„Wie kommt Ihr auf diese Idee?" wunderte sich Odysseus.
„Nun, Ihr wirkt auf mich eher wie eine Krämerseele, die nur nach Ladung Ausschau hält. Ihr gleicht nicht einem Athleten!"
UUnd Ihr? Eine stattliche Erscheinung habt Ihr, doch um Euren Verstand ist es wohl nicht so gut bestellt“, sagte Odysseus scharf. „Ich soll im Wettkampf unerfahren sein? Das Gegenteil ist wahr: man zählt mich zu den Besten! Fordert Ihr mich heraus?"
Er verlangte nach einem Diskus, der ihm auch rasch gebracht wurde.
Odysseus holte aus. Die Scheibe blieb lange in der Luft und landete viel weiter als bei den Versuchen vor ihm. Die Kinder jubelten, und niemand verwehrte es ihnen. Ein Mann neben ihm sagte:
„So weit kann kein Phaiake werfen!"
Das beflügelte Odysseus noch mehr. Er wandte sich an die umstehenden Männer.
„Glaubt nur nicht, ich wollte einem Kampf ausweichen. Nein! Ich nehme es mit jedem auf."
Er atmete heftig und machte eine kurze Pause, Dann meinte er, etwas ruhiger als zuvor:
„Gegen Mitglieder der Königsfamilie kämpfe ich allerdings nicht. Das wäre unschicklich, weil ich beim König zu Gast bin."
„In welchem Wettbewerb seid Ihr denn am besten?" wollte Euryalos wissen.
,,Im Bogenschießen. Nur Philoktet hat weiter geschossen als ich. Im Laufen hätte ich allerdings zurzeit keine Aussichten auf einen Sieg. Meine Füße sind wund und die Knie schlaff."
„Ich verstehe gut, dass Ihr Euch herausgefordert fühlt. Aber bei allem Respekt: Bei uns bevorzugt man andere Wettkämpfe als bei euch. Faust- und Ringkampf lieben wir nicht so, dafür laufen wir gern, sind gute Seefahrer und lieben Tanz, Musik und Gesang."
Sie liebten Musik, das hatte Odysseus schon bemerkt. Er nickte. Sein Zorn war so schnell verflogen, wie er gekommen war. Sie meinten es gut mit ihm, und dieser Euryalos war eben ein Hitzkopf.
Alkinoos machte den Vorschlag, sich auf den im Schatten mehrerer großer Nadelbäume gelegenen Tanzplatz zu begeben. Man solle Demodokos mit der Leier herbeiholen.
Der Gast verstand. Sie wollten ihm ihre Meisterschaft in Tanz, Gesang und Musik vorführen. Höflich verneigte er sich vor dem König. Es sei ihm eine große Ehre, versicherte er.
Bald kam der Sänger mit seinem Instrument. Mit eleganten Schritten begab er sich in die Mitte des Platzes, umringt von jungen Frauen und Männern, die tanzten, sobald er zu spielen begann. Um den Tanzplatz herum hatten sich viele andere aufgestellt, Männer, Frauen und Kinder. Nicht nur die Melodie zog alle in ihren Bann, sondern auch die Geschichte, die Demodokos erzählte. An sich war es ein unerhörter Vorgang, den Odysseus zu hören bekam, und er konnte sich nur schwer vorstellen, dass der Sänger Phemios auf Ithaka dieses Lied vorgetragen hätte.
Ares, der Gott des Krieges und Aphrodite, die Göttin der Liebe vereinigten sich und ihre göttlichen Körper, und zwar heimlich im Hause von Hephaistos. Eine unglaubliche Schande brachten sie damit über sein Haus, und der Sonnengott Helios, der die beiden beobachtet hatte, zögerte nicht, Hephaistos durch einen Boten zu informieren. Es galt zu handeln. So schnell es ging, eilte Hephaistos in die Schmiede, wo er Fesseln herstellte, die niemand zerreißen konnte. Er spannte Netze rund um die Pfosten des Bettes, die von der Decke herabhingen und so
fein gesponnen waren, dass es selbst für göttliche Augen nicht möglich sein würde, sie zu bemerken. Und darauf kam es an.
Er verließ das Haus, durchaus nicht heimlich, sondern wohl wissend, dass Ares ihn beobachtete, weil er ungeduldig auf ein weiteres Techtelmechtel mit Aphrodite hoffte. Kaum war er fort, stürmten er und Aphrodite, die gerade von Zeus kam, in das Haus. Unbändig war ihr Verlangen, und so kam es bald zur Erfüllung. Sie schliefen ein. Hephaistos kam zurück. Die kunstvollen Fesseln legten sich um die Liebenden. Welch ein Gejammer erhob sich da!
Aber Hephaistos ließ sich nicht erweichen. Im Gegenteil! Er rief Zeus und die anderen olympischen Götter herbei. Alle sollten sehen, wie Aphrodite ihn missachtete, bloß weil er ein lahmes Bein hatte! Nicht nur, dass sie sich weigerte, ihm zu Willen zu sein! Sie trieb es in seinem eigenen Haus, ja: in seinem eigenen Bett mit einem anderen Gott, ausgerechnet mit Ares, den er schon immer als überheblich empfand.
Nein, das musste bestraft werden! Sollten sie doch liegen bleiben in seinen Fesseln! Und die Brautgeschenke mussten ihm erstattet werden...
Aus seinen Träumen riss ihn die Ankunft der anderen Götter, nur der männlichen allerdings (denn die Göttinnen zogen es vor, nicht Zeuginnen einer so peinlichen Situation zu werden). Zeus, Apollon, Poseidon und Hermes umstanden das Bett, zunächst in fassungslosem Staunen, bis Zeus zu lachen begann, so laut und so gewaltig, wie eben nur ein Zeus lachen kann, und Apollon und Hermes stimmten ein, bis sie nicht mehr konnten und das brauchte seine Zeit.
Der redegewandte Apollon fasste zusammen: „Wir stehen vor einem Kunstwerk, mit dem der lahme Hephaistos den schnellen Ares besiegte."
Anzüglich wandte er sich an Hermes.
„Würde es Dir nicht auch gefallen, bei Aphrodite gefesselt im Bett zu liegen?"
„Und ob! Und ob!" versicherte dieser mit gespitztem Mund und so schwärmerisch, dass die drei noch einmal in Gelächter ausbrachen.
Nur Poseidon blieb ernst. Eine Weile schaute er schweigend zu, dann unterbrach er die anderen.
„Willst du sie nicht endlich losmachen?" fragte er Hephaistos. „Oder hast du Zweifel, dass Ares bezahlen wird, was du verlangst?"
Der Gefragte, bekannt für seine trockene Art zu reden, antwortete:
„Zweifel dürften angebracht sein. Die Bürgschaft von Gaunern gibt schlechte Sicherheit. An wen soll ich mich wenden, wenn er nicht bezahlt, sondern einfach davonläuft?"
Zeus und Hermes mischten sich ein und forderten ebenfalls, die beiden aus der unwürdigen Lage zu befreien, aber Hephaistos blieb unnachgiebig.
Schließlich erklärte sich Poseidon bereit, sich für Ares zu verbürgen, und diese Zusicherung genügte Hephaistos, der die Fesseln rasch löste.
Die auf frischer Tat Ertappten aber stürmten aus dem Haus, Ares zu den Thrakern und Aphrodite zunächst nach Kypros, dann nach Paphos, wo sie sich von Charitinnen baden, salben und neu ankleiden ließ.

Ein Beifallssturm brach los, als Demodokos mit seinem Lied fertig war. Die Zuhörer klatschten mit den Händen oder schlugen sich, wie es auf Scheria Sitte war, auf die Schenkel und stießen dabei hell tönende Laute aus, die höchstes Lob bedeuteten.
Auch Odysseus hatte sich sehr amüsiert, auch wenn er verwundert war, dass die sittenstrengen Phaiaken sich solche Lieder anhörten.
„War das nicht ein hübsches Lied?" fragte ihn Nausikaa mit einem Lächeln.
Er nickte.
„Ja, ein gutes Lied, und gut vorgetragen außerdem."

Er wandte sich an Alkinoos:
„So etwas bekommt man nicht überall zu hören. Seid Ihr sicher, dass die Götter es Euch nicht verübeln, wenn ihr dergleichen singt?"
Alkinoos erwiderte erstaunt:
„Wie sollten sie? Der Sänger hat es doch von ihnen erhalten. Aber wir haben noch mehr zu bieten."
Er wandte sich an seine Söhne Halios und Laodamas:
„Zeigt unserem Gast den Scheria-Tanz. Keiner kann ihn so tanzen wie ihr."
Ein paar Takte Musik, dann warf der eine den Ball. Der andere sprang katzengleich, ihn aufzufangen, drehte sich in der Luft und kam wieder auf die Beine, ohne die Balance zu verlieren. Sie warfen sich den Ball zu im Takt der Musik, drehten sich, sprangen hoch, tanzten aufeinander zu, geschmeidig und im Einklang mit der Musik, eine Freude für die Zuschauer.
„Ihr habt Recht“, meinte Odysseus anerkennend, „das macht Euch so leicht keiner nach!"

Am Nachmittag ging der Mann von Ithaka mit Nausikaa am Strand spazieren. Die beiden Mädchen, die sie begleiteten, blieben ein Stück zurück. Die Sonne schien nicht mehr so stark, am Himmel waren dünne Schleierwolken zu sehen.
Eine Weile sprach keiner ein Wort, während jeder den eigenen Gedanken nachhing. Manchmal berührten sich ihre Handrücken. Beim ersten Mal war Odysseus zusammengezuckt und ausgewichen, beim zweiten Mal wusste er, dass es nicht versehentlich geschah. Er zog seine Hand nicht weg, sondern ließ sie dicht neben ihrer hängen, während sie weitergingen und scheinbar unbeteiligt in die Ferne blickten. Nausikaas Gegenwart ließ heftige Gefühle bei dem Mann aufkommen. Waren seine Wünsche nicht so, wie sie jeder Mann haben musste, dem lange Zeit keine Frau zu Willen gewesen war? So jedenfalls sagte sich der Ithaker, und er sah darin keinen Widerspruch zu seiner Einstellung, dass Mann und Frau sich die Treue halten mussten. Hieß das denn Enthaltsamkeit um jeden Preis? Ach was! Penelope brauchte es ja nun wirklich nicht zu erfahren... Gerade jetzt wandte sie ihm das Gesicht zu, und ihre Augen trafen sich.
Was er sah, machte ihm Mut. Rasch ergriff er ihre Hand und zog sie hinter einen dornigen Strauch. Wieder schauten sie sich voller Begehren an, während sie sich duckten und die bei den Begleiterinnen vorbeigehen sahen. Scheinbar hatten sie nichts bemerkt.
Da nahm der Mann sie in den Arm, drückte die Frau an sich und presste seinen Mund auf ihren. Sie ließ es zu und gab sich dem starken, fremden Mann leidenschaftlich hin. Beide verloren sich für einen seligen Augenblick aneinander.
Dann löste sich die Frau, und als sie sich ganz frei gemacht und erhoben hatte, sagte sie, während sie über ihr Haar strich:
„Wollt Ihr mich zur Gattin nehmen?"
Dabei warf sie den Kopf zurück, so herausfordernd und kess, wie er es nicht erwartet hätte, und gleich wollte er sie zu sich ziehen und erneut küssen, doch sie ließ es nicht zu:
,,Erst müsst Ihr mir antworten!"
Eben das aber konnte er nicht, und er wusste selber nicht, warum. Wollte er am Ende dasselbe wie sie? Nach all den Jahren? Sollte er für sie seinem Traum von der Rückkehr entsagen?
Er seufzte, während er sein Gewand glatt strich und ließ sich dann wieder am Boden nieder.
„Ein Dorn ist in meinen Fuß geraten“, sagte er, als müsse sie das als Antwort auf ihre Frage gelten lassen.
Sie aber bückte sich sogleich und schob seine Hände weg.
„Lasst mich das machen! Frauenhände sind geschickter."

Wieder träumte er. Wieder war er ein Schiffbrüchiger. Einer, der auf einer Holzplanke trieb und sich verwundert fragte, wieso diese ihn trotz der hohen Wellen noch über Wasser hielt. Lange konnte er das nicht mehr aushalten, doch woher sollte Hilfe kommen im unermesslichen Meer?
Da sah er aus der Feme jemanden heranschwimmen. Ein großer Fisch? Es schien ein Mensch zu sein. Ja. Er schrie und winkte. Dabei ließ er mit einer Hand die Holzplanke los und schluckte sich prompt Wasser, das ungewöhnlich salzig war. Der Regen hatte aufgehört und der Sturm nachgelassen. Am Himmel waren Sterne und der helle Vollmond zu sehen. Seine Bewegungen wurden schwächer und er verschluckte sich häufiger. Als er prustend wieder auftauchte, war die Gestalt näher gekommen.
Sie warf ein Tuch, das einem Schleier ähnlich sah und durch die Luft zu ihm getragen wurde. Unwillkürlich griff er danach und stellte überrascht fest, dass er sich an dem Tuch festhalten konnte. Und als er noch einmal in die Richtung sah, aus der es gekommen war, erkannte er, dass es Nausikaa war, die es ihm zugeworfen hatte. Er schlang es um seinen Leib und merkte, dass es ihn trug. Und seine Kraft war wieder da. Mit entschlossenen Zügen schwamm er los, aber er konnte Nausikaa nirgends mehr entdecken. Dafür sah er das Ufer! Er hielt darauf zu, ganz konzentriert und an nichts anderes denkend als an das Ziel. Während er schwamm, dämmerte es.
Als er das Ufer erreichte, schienen die ersten Sonnenstrahlen. Er besah sich den rettenden Schleier genau und wusste auf einmal, um was für ein Tuch es sich handelte. Es war Penelopes Brautschleier.

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