Odysseus' Vorstellung und Abreise

Text

von  ManMan

Am Abend war im Palast wiederum eine Versammlung der phaiakischen Fürsten, zu der Odysseus eingeladen war. Er wusste, was man von ihm erwartete.
König Alkinoos hatte ihm einen Ehrenplatz an seinem Tisch zugewiesen. Er bat den Gast um Verständnis dafür, dass es zunächst galt, über den Fürsten Marinos zu Gericht zu sitzen. Dieser hatte seinem Nachbarn versprochen, während einer Reise auf sein Hab und Gut zu achten. Stattdessen hatte er des Nachbarn Abwesenheit dazu genutzt, mit der zurück gebliebenen Gattin anzubändeln. Außerdem hatte er die Schafherde um 20 Tiere dezimiert, ohne einen Ersatz auch nur anzubieten.
Auf ein solches Vergehen stand in Scheria die Todesstrafe. König Alkinoos, der kein Anhänger dieser Strafe war, forderte die anwesenden Fürsten auf, eine bessere zu finden, denn wenn Fürst Marinos tot war, nutzte das niemandem.
Aus der Versammlung kam der Vorschlag, den Mann, der inzwischen seinen Fürstentitel verloren hatte, seinem geprellten Nachbarn als Sklaven zu geben, was bei Alkinoos sogleich Zustimmung fand. Auch Königin Arete hieß diesen Vorschlag gut, weil er doch der Aufrechterhaltung von Sitte und Ordnung auf der Insel dienlich sei.
Andere Gerichtsfälle gab es nicht. Man konnte zum Essen übergehen. Dazu wurde auch Demodokos herbeigerufen, der Lieder vortragen sollte.
Das Fleisch wurde ausgeteilt und der Wein gemischt. Odysseus schnitt ein besonders saftiges Fleischstück ab und ließ es Demodokos von einem Diener bringen.


Ob er jenes Lied kenne, in dem Epeios mit Athenes Hilfe ein hölzernes Pferd baute, um den Trojanern eine Falle zu stellen?
Der Sänger antwortete gar nicht erst, sondern erhob sich, nahm die Leier zur Hand und begann zu singen. Um die Stimme zu schonen, sang er leise. Die Männer, die sich soeben noch lautstark unterhalten hatten, verstummten bei den ersten tiefen und schwermütigen Tönen. Demodokos sang von der erfolgreichen Finte der Griechen, die das Schiffslager angezündet und die Schiffe bestiegen hatten. Die Trojaner glaubten, sie hätten die lange Belagerung der Stadt aufgegeben. Dabei waren sie nur bis zu der kleinen Insel Tenedos gefahren. Dort warteten sie ab, wie die Trojaner reagieren würden auf das große hölzerne Pferd, das sie ihnen hinterlassen hatten.
Mit lebhaften Worten schilderte der Sänger, wie sich die Männer stritten. Der eine sagte, man müsse das hohle Gebälk zertrümmern und das monströse Stück anschließend vom Felsen hinabstürzen. Es folgte der Refrain: Sie warteten in Tenedos, sie warteten in Tenedos.
Ein anderer Trojaner schlug vor, das Pferd stehen zu lassen, um damit die Götter zu erfreuen, ein dritter sagte, dieses Pferd müsse durch das Tor hindurch in die Stadt gezogen werden.
Und wieder hieß es: Sie warteten in Tenedos, sie warteten in Tenedos.
Was für ein Sänger und was für ein Lied! Alle hörten gebannt zu, manches Stück Fleisch blieb unbeachtet auf dem Teller liegen.
Dann sang Demodokos von dem tragischen Irrtum der Trojaner, der zu ihrem Untergang führte. Er schilderte, wie die Männer aus dem trojanischen Pferd strömten, wie sie den zurückgekehrten Griechen die Stadttore öffneten und gemeinsam die Stadt zerstörten, wie Odysseus nach vorne drängte, zusammen mit Menelaos, und wie sie aus den schrecklichsten Kämpfen als Sieger hervorgingen. Er sang so leidenschaftlich, als sei er selber dabei gewesen. Auch die Zuhörer fühlten so, das sah Odysseus ihnen an. Vor allem die Kinder hörten gebannt zu und blieben ungewöhnlich still.
Er beobachtete, dass Nausikaa, die neben ihren Eltern saß, immer wieder zu ihm hinschaute, vor allem wenn von ihm die Rede war. Ahnte sie etwas?
Der Beifall wollte kein Ende nehmen. Alle hatten sich von den Plätzen erhoben, die Kinder hatten sich auf die Bänke gestellt, und alle gemeinsam ließen den Sänger und die tapferen Griechen hochleben. Nur Odysseus beteiligte sich nicht daran. König Alkinoos, der ihn aufmerksam beobachtete, ließ ihn darauf hin an seinen Tisch bitten.
Ob er nicht die Gelegenheit nutzen wolle, auch von seinen Erlebnissen zu erzählen? fragte er ohne Umschweife, und seinem Tonfall war anzumerken, dass es sich weniger um eine Frage als um eine Aufforderung handelte. Odysseus überlegte nicht lange. Er nickte.
„Kommt, lieber Mann! Geht auf den Platz des Sängers!"
Eifrig wies er in die angegebene Richtung und machte mit der anderen Hand eine Bewegung in den Saal, auf die hin sogleich Stille eintrat. Der Gast, der so lange verheimlicht hatte, wer er war, stellte sich neben die Bank, auf der sonst Demodokos mit seiner Leier saß und wandte sich an die Männer im Saal. So jedenfalls sah es aus, aber wer ihn genauer beobachtete, merkte, dass seine Augen vor allem auf der Tochter des Königs verweilten, die neben ihrem Vater saß und gespannt wartete.
„Ihr wisst bereits, dass ich an der Eroberung Trojas beteiligt war“, begann er, " aber ihr wisst nicht, wer ich bin. Trotzdem habt ihr mich gastlich aufgenommen“, er wandte sich an Alkinoos und deutete eine Verbeugung an, "und Ihr habt damit gezeigt, dass Ihr die Gebote der Gastfreundschaft ernst nehmt. Dafür danke ich Euch.“
Und dann sagte er das, worauf alle warteten:

„Ich bin Odysseus, Sohn des Laêrtes und König von Ithaka. Ich habe in Troja gekämpft, das stimmt, und wir haben die Stadt nach einem Jahrzehnt erobert. Aber dann hat mich der Weg nicht zu meiner Frau Penelope, meinem Vater Laêrtes und meinem Sohn Telemachos zurückgeführt. Im Gegenteil: Anstatt heimzukehren und mich von den Strapazen des langen Krieges auszuruhen, hat es mich und meine Gefährten in fremde Länder und Inseln verschlagen.“
Alle hörten seinen Worten aufmerksam zu. Das Gesicht Nausikaas aber war starr und auch in dem des Königs bemerkte Odysseus Enttäuschung. Er erzählte  -in aller Ausführlichkeit und sehr temperamentvoll, mal sitzend, mal stehend, häufig mit den Händen gestikulierend, dann und wann eine Frage von den aufmerksamen Zuhörern beantwortend- von seinen Erlebnissen, beginnend mit dem Abenteuer bei den Kyklopen. Dieser Polyphem habe ihn nicht so gastlich empfangen wie ihr König, sagte er scherzhaft. aber letztlich sei ihm das zum Verhängnis geworden. Bei der Schilderung der Ereignisse, die mit dem Aufenthalt auf Aiola zusammenhingen, war er zurückhaltend in seinem Urteil und ließ Verständnis für die Neugier der Gefährten erkennen.
Leider hätten die Götter weniger Verständnis gehabt, auch später, als es bei den Rindern des Sonnengottes, nur die Wahl gab, zu verhungern oder gegen göttliches Gebot zu verstoßen.
„Wer leben will, muss dafür kämpfen“, rief der Mann von Ithaka aus, "diese Lektion habe ich gelernt."
Mehrere Stunden erzählte er von seinen Abenteuern und Erfahrungen, und die Anwesenden, sogar die Kinder, waren so gebannt, dass sie während der ganzen Zeit ruhig und konzentriert zuhörten. Auch Nausikaa. Als er von der Zauberin Kirke und der Nymphe Kalypso erzählt hatte, verließ sie den Saal, kam aber bald darauf zurück und nahm neben ihrem Vater Platz. Es dauerte dann nicht mehr lange, bis Odysseus am Ende seiner Erzählung angelangt war.
Die Stille, die augenblicklich eintrat, wirkte gespenstisch. Odysseus setzte sich auf die Bank, erschöpft atmend wie einer, der einen langen Weg gemacht hat. Schließlich erhob sich König Alkinoos und wandte sich an ihn.
„Ihr seid ein tapferer und kluger Mann, Ihr nehmt es selbst mit den Göttern auf! Glücklich das Land, das Euch zum König und glücklich die Frau, die Euch zum Gatten hat! Wir werden Euch Schutz geben für die Heimfahrt und haben auch Geschenke für Euch."
Einige Fürsten klatschten beifällig in die Hände und andere fielen ein. Der Beifall war respektvoll, aber zurückhaltend. Schließlich hatten auch sie gehofft, dieser Mann könnte die Königstochter zur Frau nehmen. Nach einer Weile stand Odysseus auf und ging zum Tisch des Königs.
,,Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft und für Euer Verständnis."
Unvermittelt richtete er das Wort an Nausikaa, die mit bleichem Gesicht neben ihrem Vater saß.
,,Auch Euch wünsche ich Wohlergehen und ein langes Leben."
Sie verneigten sich kurz voreinander, dann brach Nausikaa endgültig auf und verließ den Saal mit ihren Begleiterinnen. Der König der Phaiaken wandte sich an Pontoos, der ihm zugleich Herold und oberster Mundschenk war:
„Lasst Wein einschenken! Wir wollen auf den Mann von Ithaka und seine glückliche Heimkehr anstoßen. Alle Fürsten von Scheria sollen ihm ein Geschenk machen, damit er seinen Aufenthalt bei uns in guter Erinnerung behält."
Man befolgte seine Anweisung und schickte Diener, um Geschenke herbeizuholen: Kleider, Schmuck, Gold und andere Dinge. Als sie getrunken hatten, erhob sich Odysseus und reichte Königin Arete seinen Becher:                                                                                               
„Lebt wohl Königin, ich kehre heim! Mögen der König, das Volk und die Kinder dir Freude bereiten!"
Damit hatte er sich endgültig verabschiedet, und jetzt führte ihn ein Bote zum Schiff, wo bereits die Geschenke der phaiakischen Fürsten angekommen waren. Königin Arete schickte drei Frauen:  eine, die einen sauberen Leibrock und einen Mantel brachte, eine weitere, die für die Truhe mit Geschenken zuständig war und die dritte, die nach Absprache mit Pontoos Nahrung und Wein zum Schiff brachte. Odysseus überwachte das Verladen. Er war ungeduldig und müde, und immer wenn einer der Träger im Dunkel stolperte oder mit dem Fuß versehentlich irgendwo anstieß, zuckte er zusammen.
Ich muss dringend schlafen, dachte er und ließ sich auf dem Hinterdeck aus Polstern und Leinentüchern ein Lager bereiten. Er legte sich hin und schaute in den Sternenhimmel. Er musste an Nausikaa denken. Wenn Penelope nicht wäre, schoss es ihm durch den Kopf, könnte ich mich für sie entscheiden.

Die Tochter des Königs lag wach auf ihrem Lager. Tief enttäuscht war sie heimgekehrt, hatte die Begleiterinnen verabschiedet und sich hingelegt. Anfangs waren reichlich Tränen geflossen. Auch Tränen der Wut darüber, dass dieser Odysseus ihr nicht von Anfang an gesagt hatte, dass er verheiratet war und seine Frau auf ihn wartete. Wie hieß sie nur...? Richtig: Penelope! Bestimmt nicht so jung wie sie, und nicht so hübsch! Alle sagten ihr, dass sie hübsch war. Und Tochter eines Königs war sie auch. Aber was nützten solche Gedanken? Er war entschlossen, zurückzufahren, spätestens übermorgen, vielleicht schon eher. Sie würde ihn nie mehr sehen, das war gewiss.
Immer wieder wälzte sie sich ruhelos hin und her.
Schließlich stand sie auf, öffnete die Fensterläden und sah hinaus. Die Sterne und der Mond waren sehr deutlich zu sehen und wirkten heute näher als sonst. Kein Tier war zu hören, alle schienen zu schlafen. Nur das Rauschen des Meeres konnte man vernehmen.
Wo lag dieses Ithaka überhaupt? Die Seeleute ihres Vaters, die Odysseus dorthin bringen würden, wussten es, sie waren häufig unterwegs und kannten sich aus. Aber außer den Seeleuten gab es keine Phaiaken, die mit Menschen außerhalb Scherias zusammen kamen. Sie hatte gelernt, dass es Inseln gab und das Meer irgendwo in weiter Feme aufhörte und sich dahinter Festland erstreckte, wo es Pferde und Maultiere in großer Zahl gab und die Augen der Menschen schlitzförmig waren. Fremde eben, und Fremdes galt es zu meiden, so hörten die phaiakischen Kinder es von Kindsbeinen an. Natürlich war Odysseus auch ein Fremder, aber immerhin ein Grieche. Wie Penelope.
Oh, diese Frau ging ihr nicht aus dem Sinn! Doch während sie den Mond mit seinem kleinen Vorhof betrachtete, fragte sie sich, ob sie nicht vorschnell aufgab? Sollte sie nicht den Kampf mit der Konkurrentin aufnehmen? Aber wie? Übermorgen würde er fahren. Sie hatte keine Möglichkeit, ihn zurück zu halten. Und wenn sie ihn dazu brachte, dass er sie mitnahm nach Ithaka? Nein, das würde er nicht tun. Und wenn doch: in Ithaka konnte sie es nicht mit Penelope aufnehmen, unvorstellbar!
Wieder brach sie in Tränen aus und schluchzte. Er war ein Mann, der sich von einer Frau nicht gerne Vorschriften machen ließ, ein starker und kluger Mann, ein Held! Ach, hätte sie ihm doch deutlicher gezeigt, wie sehr sie sich nach seinen starken Armen sehnte! Aber immer waren ihre Begleiterinnen im Wege gewesen, vor allem Atossa...
Sie hatte eine Idee. Anfangs erschien sie ihr allzu kühn, aber dann kam der Mut der Verzweiflung über sie. Wenn es keine Möglichkeit gab, nach Ithaka zu fahren, dann musste Odysseus eben daran gehindert werden, dorthin zu
kommen! Es gab da eine Alte, die bei Entbindungen half. Melissa hieß sie und sie kannte sich auch mit Kräutern aus. Atossa hatte Wunderdinge von ihr erzählt.. .
Nausikaa wischte mit einem Tuch die Tränen ab. Ihre Stimmung wandelte sich, die Verzweiflung machte neuer Hoffnung Platz. Plötzlich war sie entschlossen zu kämpfen. Rasch stand sie auf, strich das Gewand glatt und fuhr mit den Händen durch die Haare. Dann glitt sie leise zur Tür hinaus.

Odysseus wusste nicht, wie spät es war, als er aufwachte. Die Sonne war schon ein beträchtliches Stück den Himmel hinaufgestiegen und wurde jetzt von einigen dünnen Wolken verschleiert. Es war aber warm. Warum fahre ich nicht bereits heute mit dem Schiff ab, fragte er sich, doch dann fiel ihm ein, dass es nicht sein Schiff war. Die Phaiaken wollten ihn auf ihrem Schiff nach Ithaka bringen, und sie hatten als Termin den morgigen Vormittag bestimmt. Dabei hatte er sich gestern von allen verabschiedet...Richtig: die Mannschaft war noch nicht vollständig. Der Kapitän hatte
mitgeteilt, einige Männer kämen erst heute nach Scheria zurück, und er wollte die erfahrenen Seeleute gerne dabei haben.
Er aß ein paar Feigen und war gerade dabei, vom Schiff auf den Strand hinab zu steigen, als er eine Frau mit schwarzen Haaren und dunkler Hautfarbe sah, die auf das Schiff zulief. Als sie näher kam, erkannte er Atossa. Sie winkte ihm zu und Odysseus blieb neben dem Schiff stehen.
„Meine Herrin schickt mich“, sagte sie atemlos, als sie herangekommen war, „sie wünscht Euch noch einmal zu sehen."
„Nausikaa?" fragte Odysseus mechanisch. Damit hatte er nicht gerechnet.
„Wo will sie mich denn sehen? Im Palast?"
Atossa winkte ab.
„Nein, nein! In der Nähe des Palastgartens ist das Haus einer alten Frau, die bei Geburten hilft. Ich führe Euch hin. Kommt Ihr mit?"
Er überlegte, ob er jemandem Bescheid sagen musste, entschied, das sei nicht nötig und folgte dann Atossa. Sie führte ihn ein Stück Weges am Strand entlang und bog dort, wo der Wald begann, in einen Weg ein, der zu einer Siedlung führte. Zur Linken konnte Odysseus die Mauer des Palastgartens erkennen. An einem kleinen, schmucklosen Steinhaus machte Atossa Halt. Die Fensterläden waren geschlossen. Die Dienerin ging hinein und kam kurz darauf mit Nausikaa wieder. Sie öffnete die Läden von außen.
„Soll ich eine Bank holen?"
Nausikaa nickte. Während Atossa in dem Haus verschwand, wandte sie sich an Odysseus. „Ich danke Euch, dass Ihr gekommen seid. Ihr nehmt mir meinen Wunsch nicht übel?"
Odysseus schüttelte den Kopf.
„Nein, ich habe Verständnis dafür, dass Ihr überrascht wart, als ich sagte, wer ich bin. So war es doch, nicht wahr?"
Die Dienerin kam mit einer Bank aus dem Haus und stellte sie unter eine Palme in der Nähe des Hauses.
,,Du kannst jetzt gehen, Atossa!" sagte Nausikaa.
Sie setzten sich auf die Bank. Wortlos strich der Mann über ihr langes, strähniges Haar und sie ließ ihren Kopf auf seinen Schoß sinken. Er streichelte sie, auch im Gesicht. Schließlich zog er sie sanft an den Schultern hoch, stand auf und ging vor
ihr in die Hocke.
„Wenn Ihr einen Gatten habt, soll er Euch doch auch treu sein, oder?"
Sie sah ihn mit Tränen in den Augen an und nickte. Mit leiser Stimme fuhr er fort:
,,Die Frau, der ich treu bin, heißt Penelope."
Wieder dieser verhasste Name! Ruckartig richtete sie sich auf, machte sich los und stand auf.
„Warum habt Ihr mir nicht eher von ihr erzählt?"
Odysseus zuckte nur gleichmütig die Schultern.
„Hätte uns das geholfen?"
Nein, dachte Nausikaa, er hat Recht. Es hätte nichts geholfen, ich hätte ihn auch dann haben wollen!
,,Aber woher wisst Ihr, dass sie Euch treu geblieben ist nach so vielen Jahren?"
„Sie hat es mir versprochen.“
Sie sah ihn erstaunt an:
„Und das genügt Euch?"
„Wenn ich in Ithaka bin, werde ich wissen, ob sie ihr Versprechen gehalten hat."
Ithaka... Ithaka... Ithaka... anderes hatte er nicht im Sinn...
"Lasst uns zum Abschied einen Becher leeren“, sagte Nausikaa.
Während sie hineinging, um die Getränke zu holen, setzte er sich auf die Bank. Die Sonne stand im Zenith, aber hier im Schatten der Palme war es angenehm. Er überlegte, ob es nicht doch möglich war, dass sie schon heute losfuhren. Nausikaa war bald zurück mit zwei Bechern in der Hand. Da ertönte hinter ihr eine Stimme. Eine runzlige Alte kam um das Haus herum.
„Das ist Pelissa“, sagte Nausikaa. Sie stellte die beiden Becher auf der Bank ab und wandte sich an die Alte.
„Und hier seht Ihr Odysseus, den König von Ithaka. Er hat gerade gesagt, dass er uns in einiger Zeit besuchen will."
Sie lächelte tapfer und die Alte lächelte mit. Odysseus bemerkte, dass ihr Mund zahnlos war.
„Ich sehe, Ihr wollt auf sein Wohl trinken“, sagte sie und wies auf die beiden Becher. ,,Kann ich mich daran beteiligen?"
Sie wollte nach einem der Becher greifen, doch Nausikaa fiel ihr in den Arm.
„Lasst nur, ich hole Euch auch einen Becher. Ich weiß ja, wo der Wein steht."
„Aber nicht, wo ein dritter Becher ist, vermute ich. Wartet, ich komme mit."
Odysseus nutzte die Abwesenheit der beiden, um die Becher zu vertauschen.
Als sie zurückkamen, hielt auch die Alte einen Becher mit Wein in den Händen. Sie tranken und wünschten einander das Beste für die Zukunft. Der Wein schmeckte gut. Ich war wohl doch zu misstrauisch, dachte er.
„Gibt es auf Ithaka auch guten Wein zu trinken?" erkundigte sich die Alte und musterte ihn aufmerksam.
„Und ob!" sagte Odysseus, „Unsere Weine sind berühmt in ganz Griechenland." Auf einmal gähnte Nausikaa laut und sagte mit bereits träger Stimme:
„Wieso bin ich nur so müde?"
Dabei warf sie einen erstaunten Blick zunächst auf Odysseus, dann auf ihren leeren Becher, schließlich auf Pelissa, die kaum merklich die Stirn runzelte. Im nächsten Moment rutschte Nausikaa von der Bank. Geistesgegenwärtig fing Odysseus sie auf und verhinderte so, dass sie mit dem Kopf gegen die Bank schlug. Behutsam ließ er sie zu Boden gleiten.
„Was ist mit ihr?" fragte er und schaute die Alte eindringlich an, doch die zuckte nur die Schultern und wollte forteilen, um eine Decke zu holen. Nach wenigen Schritten blieb sie jedoch stehen.
„Sollen wir sie nicht ins Haus schaffen?“
Als sie Nausikaa auf ein Lager gebettet hatten, verabschiedete sich Odysseus von der Alten, ohne ein weiteres Wort zu dem Vorkommnis zu verlieren.
Diesmal kam ihm der Zufall zur Hilfe. Als er zum Schiff zurückgekehrt war, hörte er, die erwarteten Seeleute seien bereits da. Als er fragte, ob sie nicht schon heute abfahren könnten, stimmten sie sofort zu.
,,Braucht ihr keine Nacht, um euch auszuruhen?"
Einer von den Seeleuten lachte:
„So alt sind wir noch nicht, dass wir uns nachts ausruhen!"
Die anderen lachten. Sie trafen die letzten Vorbereitungen für die Abreise. Dann lösten sie die Haltetaue und begannen zu rudern. Der Bug des Schiffes hob sich und es glitt hinaus in die See. Die Männer setzten die Segel und bald fuhr das Schiff ruhig und gleichmäßig über das ruhige Wasser dahin. Als es dunkel wurde, legte sich Odysseus am Hinterdeck nieder und war bald eingeschlafen.
Als der Morgenstern den nächsten Tag ankündigte, waren sie der Insel Ithaka schon nahe. Sie segelten auf die Phorkys-Bucht zu, wo letzte Ausläufer der Berge im Wasser enden und einen natürlichen Damm gegen die Wellen bilden, auch bei stürmischer See, so dass Schiffe innerhalb der Bucht ohne Haltetaue liegen können. Am Ende des Hafens stand ein dicht belaubter, uralter Ölbaum. Die Phaiaken kannten die Bucht von früheren Fahrten. Das Schiff schob sich bis zur halben Länge aufs Festland, so stark war der Schwung, den die Ruderer ihm gaben.
Odysseus schlief noch immer. Die kräftigen Männer hoben ihn kurzerhand aus dem Schiff und brachten ihn an Land, wo sie ihn mitsamt Tüchern und Polstern in den Sand betteten. Sie holten die Geschenke und legten sie am Stamm des Ölbaumes, abseits vom Weg, nieder. Sie hatte somit den Auftrag, den ihnen Alkinoos erteilt hatte, ausgeführt und konnten sich auf die Heimfahrt begeben.

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