Karamelldinosaurier

Kurzgeschichte zum Thema Erinnerung

von  Papalagi

In einer der ruhigen Straßen der Stadt steht ein Haus aus rotem Backstein. Die quadratischen Kastenfenster schauen auf die überdachten Spielplätze des benachbarten Kindergartens. Ich habe gehört, dass die Ureinwohner von Samoa (einer kleinen Südseeinsel) ihre Häuser zwar mit Dächern, aber ohne Wände zu bauen pflegten. Ganz genau so, oder so ähnlich sieht es hier auf den Kinderspielplätzen aus. Wenn man viel Fantasie aufwenden würde, könnte man sich auch vorstellen, dass einige dieser Ureinwohner es bis in meine Stadt geschafft haben. Sie haben sich hier heimlich eingenistet und versuchen die Besonderheiten ihrer Baukunst an die hiesigen Architekten weiterzugeben. Und damit ihr Plan geheim bleiben kann, fangen sie mit dem unauffälligen Gelände des benachbarten Kindergartens an. Die Kinder würden sich so schon sehr früh an die überdachten wandlosen Konstrukte gewöhnen …

Ich stand noch eine Weile vor der Sitzbank. Diese befand sich drei, vier Meter von dem Haus entfernt. Ja so viel Durchhaltevermögen muss man heutzutage noch aufbringen. Man geht aus dem Haus, humpelt die drei, vier Meter und dann sitzt man schon wieder und beobachtet die Welt um einen herum aus der bequemen Höhe eines Sechsjährigen. Vielleicht ist dies das Geheimnis des Sitzvergnügens? Man erblickt die Welt nicht aus der Höhe eines Erwachsenen, was bei den meisten Europäern ein Meter siebzig, ein Meter achtzig entspricht, sondern aus der Kopfhöhe eines Kindes. Es ist fast wie eine Reise in die eigene Kindheit. Und dafür braucht man nur eine Sitzbank vor dem Haus aufzustellen, die drei, vier Meter in der gewohnten Erwachsenenhöhe zu überwinden und sich hinzusetzten.

Ich dachte kurz nach und setzte mich vorsichtig auf die Bank.
So lange ich mich erinnern kann, stand die Sitzbank einsam vor dem Haus. Die Farbe pellte sich im Sommer von ihr ab. Sie glich dann einer ungelenken, seltsamen Schlange, die ihre Haut wechselt. Im Winter verschwand die Bank unter einer flockigen Schneeschicht. In dem Schneeweiß des Hofes sah die Bank dann wie eine aus Creme gebastelte Figur auf einer Hochzeitstorte aus. Jedes Mal in einer solchen Situation musste ich dem Drang widerstehen, einen Teil von der Bank abzubrechen, um rauszufinden, ob diese doch nicht aus dem Karamell oder der getrockneten Buttercreme besteht. Im Übrigen mag ich die Creme, Zucker und Ähnliches gar nicht so sehr. Zum Tee nehme ich zum Beispiel keinen Zucker, Schokoladengebäck und Torten lassen mich auch kalt. Die Getränke, die mehr Zucker als Wasser enthalten, kann ich nicht ausstehen. Als Kind faszinierten mich  aber die selbstgemachten Lutscher. Am Straßenrand standen manchmal die betagten Frauen, die diese glänzenden Karamellfiguren verkauften. Rosarote Kühe, Hasen und durchsichtige Hähne glänzten beim klaren Wetter so sehr, dass keines der Kinder einfach so an ihnen vorbei kam. Die einen streckten ihre kleinen Finger nach goldenen, zauberhaften Figuren, die anderen Kinder vergaßen zeitweise die Bewegungen ihrer Körperteile aufeinander abzustimmen. Sie verhedderten sich in den eigenen Beinen. Jeder Fuß versuchte gleichzeitig einen Schritt in Richtung der begehrten Objekte auszuführen. Von den Eltern forderte dieser Abschnitt der Straße sehr viel. Jederzeit mussten sie bereit sein mit der Schnelligkeit eines Akrobaten ihr desorientiertes, vom Lichte des Glücks verheißenden süßen Vergnügens, geblendetes Kind aufzufangen. Die Farben der Karamellfiguren blieben mir in der Erinnerung gut erhalten, genau so wie das traurige Ende dieser süßen Liebesgeschichte.  Meine Liebe zu diesen Geschöpfen aus Gold und Silber, zu den glanzvollen Tierfigürchen aus Zucker und Wasser endete als ich fast sieben Jahre alt war. 

Die anderen Eltern versuchten  ihre Kinder vor dem gefährlichen Abschnitt der Straße abzulenken. Sie hofften die Kinder würden die Karamellfiguren vergessen. Es gab Eltern die hart blieben. Sie zerrten ihre schreienden Kinder weg, trugen sie auf dem Arm oder nahmen sie Huckepack. Meine Mutter hatte keinen so starken Rücken. Dafür nutzte sie ihre schlaue weibliche Art, um einen kleinen Jungen wie mich auf den rechten Weg zu führen.
Einmal näherten wir uns den Straßenverkäuferinnen. An diesem Tag schien die Sonne. Im Übrigen erinnere ich mich an die selbstgemachten Karamelllutscher nur in Verbindung mit dem guten Wetter.  Vielleicht hängt es mit der Wahrnehmung eines kindlichen Verstandes zusammen. Oder die Frauen, die die Lutscher zu Hause zubereitet hatten, suchten sich nur sonnige Tage zum Verkauf aus. Die magere Rente durch den Verkauf von selbstgemachten Süßigkeiten an einem regnerischen Tag aufzustocken, ist ja wirklich nicht das Wahre. Ihre morschen Knochen würden das nicht sehr gut vertragen, genau so wie die Lutscher aus Zucker. Meine Mutter hielt mich an der Hand. Wir standen an der gegenüberliegenden Seite des Bürgersteiges. Meine Mutter, eine Frau Mitte dreißig mit schulterlangem kastanienfarbenem Haar, beugte sich zu mir hinüber und flüsterte mir leise ins Ohr. „Schau dir die Verkäuferinnen an. Schau sie genau an.“  Zum ersten Mal habe ich mit meinen sechs oder sieben Jahren die alten Frauen am Straßenrand richtig angesehen. Bis jetzt wurden sie immer vom Licht der begehrten Süßigkeiten überstrahlt. Es gelang mir auch dieses Mal nur schwer den Blick von den bunten Tier- und Vogelfiguren abzuwenden. Die Verkäuferinnen standen in einer Reihe. Ihr Alter war schwer auszumachen. In Vergleich zu den farbenfrohen Karamellfiguren erschienen die Frauen grau. Ihre Kleider, ihre verbogenen, krummen Rücken, auch ihre Gesichter schienen grau zu sein.

Für ein Kind von sechs Jahren ist es sehr schwer oder fast unmöglich das genaue Alter eines Erwachsenen auszumachen. Da gibt es andere Kinder. Ok. Notfalls nimmt man die eigenen Finger als Rechenhilfe und nach einem kurzen hin und her weiß man wie alt man selber ist. Dann schließt man von sich auf die anderen und voila. Nun gut alle größeren Kinder fallen in die Kategorie der älteren Geschwister. Diejenigen, die wegen ihrer Größe oder dem seltsamen Wachstum von Haaren im Gesicht auf keinen Fall Kinder sein können, sind dann bestimmt so etwas wie die Eltern von anderen Kindern. Und wenn diese Erwachsenen keine Kinder bei sich haben, sondern alleine durch die Stadt schlendern, dann sind sie gewiss unterwegs zum Kindergarten oder der Schule, um ihr geliebtes  Kindlein abzuholen. Die Verkäuferinnen der Karamelllutscher gehörten eindeutig zu keiner dieser Gruppen. Ihre wichtigste Eigenschaft war ihr Alter. Nein. Anders ausgedrückt sie waren alt. Alles an ihnen war alt. Ihre Füße waren alt, ihre Nasen waren alt und verschrumpelt. Sie schienen auseinanderzufallen genau so wie ihre altmodischen großen Schuhe und ihre Kleidung. Auch im Sommer trugen sie warme Halstücher. Hinter den provisorischen Verkaufsständen lagen ihre Gehstöcke oder sogar Krücken. Es war an ihnen nichts Schönes. Nichts erinnerte mehr an den Glanz des bunten Karamells. Sie gehörten eindeutig zu der Gruppe der sehr, sehr, sehr alten Frauen. Das Wort Oma kam mir damals nicht in den Sinn. Dieses  Wort war schon reserviert. Ich hatte zwar nur eine Oma gehabt, aber diese roch nach Plätzchen und Seife. Sie sah ganz anders aus. Sie war auch nicht wirklich alt, sie war einfach meine Oma. Die grauen Frauen am Straßenrand hatten mit ihr nichts gemein.

Auf einmal erinnerte ich mich an ein Märchen, das uns die Kindergärtnerin vorgelesen hatte. Dem Schneewittchen bot eine alte böse Hexe einen wunderschönen, glänzenden Apfel an. Der Apfel war aber vergiftet. Genau das! Das war die Erklärung, die einzige Erklärung für das, was ich gesehen hatte. Wie könnte es denn anders sein. Wie kommen denn sonst diese grauen, alten, hässlichen Hexen an die wunderschönen zauberhaften Tiere und Vögel aus Karamell. Bestimmt sind das verzauberte Märchenprinzen und Prinzessinnen. Die grauen Hexen lauerten ihnen  auf und verwandelten sie in kleine Figürchen aus Karamell. Sie vergifteten sie und verkauften sie an die Kinder. Ich schaute die krummen Finger der Hexen an. Die rheumatischen Gelenke und die zugegeben langen Nägel haben meine auch ohnehin entzündete Fantasie beflügelt. Jetzt nach so vielen Jahren weiß ich nicht mehr, ob ich damals geweint habe. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob mir meine Mutter vielleicht sogar ein böses Märchen aufgetischt hatte, um von dem sechsjährigen Bengel mal in Ruhe gelassen zu werden. Stellen Sie sich das nur mal vor, Sie gehen als Frau mit mindestens vier Taschen voller Lebensmittel, Toilettenpapier und Socken beladen nach Hause. Und irgendwann müssen Sie sich noch einen dritten Arm wachsen lassen um Ihr Kind davon abzuhalten den Bauch mit den Süßigkeiten vollzustopfen und das vor dem Abendessen!!!!

Ja, an vieles aus dieser Zeit kann ich mich nicht erinnern.
Aber Zwei Dinge weiß ich noch sehr gut. Ich habe seit dem Tag niemals mehr in meinem Leben selbstgemachte Karamelllutscher gegessen. Alles was nicht das sichere Siegel eines großen Kaufhauses hatte, alles was nicht niet- und nagelfest in einer Plastikhülle oder ähnliches verpackt wurde, war für mich seitdem Tabu. Es fiel in dem Sinne nicht weiter auf. Beim Essen war ich ansonsten wenig anspruchsvoll. Ich aß alles. Meinen Teller hinterließ ich gewöhnlich blank geputzt. Und für meine Mutter war es nun leichter mit nur zwei Händen auszukommen.

Das Zweite was mir noch in Erinnerung blieb, war ein seltsamer Gedanke. Dieser geisterte noch wochenlang in meinem Kopf herum, bis er irgendwann in dem fröhlichen und chaotischen Gedankensalat eines Sechsjährigen verschwunden war.
Dieser Gedanke kam mir in den Sinn einen Tag nachdem ich die volle Wahrheit über die Hexen und die verzauberten Karamellprinzen erfuhr. Wir gingen mit meiner Mutter einige Strassen von dem schrecklichen Ort der grauen Hexen entfernt zu der Bushaltestelle. Ich weiß nicht mehr wie das Wetter an diesem Tag gewesen ist. Wir beeilten uns sehr. In drei Minuten mussten wir an der Haltestelle sein. Um Schritt zu halten musste ich fast schon laufen, während meine Mutter einfach nur gezielt vorwärts ging. Ich dachte in dem Augenblick an die Geschichte von Gulliver. Wie schön wäre es so groß zu sein, um nur in drei, vier Schritten die Haltestelle zu erreichen. Man muss dann nicht laufen, der Bus fährt einem auch nicht vor der Nase weg und… Etwas riss mich aus meiner Traumwelt. Eine Frau, deren Gesicht ich nicht wirklich deutlich gesehen habe, führte einen Jungen in meinem Alter an der Hand. Sie trug einen roten Hut mit breiter Krempe, so dass nur die Nase und der Mund noch zu erkennen waren. Meine ganze Aufmerksamkeit zog der Junge auf sich. Meine Mutter schleppte mich immer weiter und wir liefen fast, um den Bus noch rechtzeitig zu erwischen. Aber das was ich gesehen habe, schien mir nicht nur eine Sekunde sondern einige Minuten zu dauern.
Die Augen des Jungen waren noch rot von Tränen. Diese trockneten bereits auf seinen vollen Wangen. Seine kleinen Ohren, die spitze Stupsnase und das runde Gesicht ließen mich an eines der drei Schweinchen denken. Er strahlte das vollkommene und uneingeschränkte Glück aus. Den Grund dafür hielt er in den Händen. Es war ein großer, rosaroter Karamellvogel. Wie der Prinz in einem roten feierlichen Gewandt wölbte dieser die stolze Brust. Die angedeuteten Flügel waren fast wie die Saumecken des königlichen Umhangs. Der Kamm erinnerte an die strahlende Krone aus Edelsteinen. Es war ein Prinz, ein verzauberter Prinz. In dem Augenblick war ich mir dessen hundertprozentig sicher. Irgendwo war sein Schloss, seine Diener und Bauern, seine Prinzessin und… Das dicke Kind, eines der drei lustigen Schweinchen, führte den Prinzen noch näher an den Mund und biss ihm mit einer einzigen ruckartigen Bewegung des mächtigen Schweinchen-Kiefers den Kopf ab. Es ertönte ein trockenes Knacken. Einige winzige, blutrote Karamellsplitter flogen seitwärts und ein kopfloser Prinz verschwand in den  Händen des Riesen-Schweinchens aus meinem Blickfeld. Noch einen Augenblick später glaubte ich das leise Knirschen der Milchzähne auf Karamell zu hören.

Den Bus hatten wir verpasst.



Die Haltestelle war leer und wir konnten noch den bitteren Gestank seiner Abgase riechen.
Der Dunst, der in einigen Sekunden weggeweht wurde.
Meine Mutter atmete schwer. Ich keuchte ebenfalls. Einige Sekunden lang standen wir still. Es war so, als ob wir darauf warteten, dass der Bus doch noch umkehren und uns von dieser einsamen, stinkenden Haltestelle wegbringen würde. Nur weg. Irgendwohin.
Meine Mutter stellte die Tüten ab und ließ sich auf einen der Sitze, die durch die groben Schweißnähte an dem Stahlgerüst der Haltestelle befestigt waren, nieder.

Nun ja. Die kindlichen Fantasien. Wie lang saß ich denn hier schon. Das ist ja zum Lachen. Vielleicht hatte ich wirklich Recht. Ein erwachsener Mann Mitte dreißig sitzt alleine auf einer alten teilweise roten, teilweise morschen Bank und sieht die Welt aus der Perspektive eines Sechsjährigen. Ich stand schnell auf, schüttelte die kleinen Farbkrümel ab, die an meiner Hose hingen und blickte zum letzten Mal auf die Bank. Mit ihrem Holzgerippe erinnerte sie mich jetzt an einen Dinosaurier. Aus irgendeinem prähistorischen Loch rausgekrochen schien er seine versteiften Glieder aufwärmen zu wollen. Die Strahlen der herbstlichen Sonne streichelten seine raue Haut. Ich drehte mich um und ging fort. Machs gut du alter Dinosaurier. Nächstes Jahr sehen wir uns wieder.

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