Empfang beim Schweinehirten

Text

von  ManMan

Er richtete sich halb auf und rieb den Sand aus den Augen. Feiner Sand, doch gröber als der, den er von Scheria her kannte. Das Meer war nahe, er hörte sein Rauschen, aber sehen konnte er es nicht, denn der Nebel war zu dicht. Zu feucht auch, dachte Odysseus. Er fror. Mit klappernden Zähnen erhob er sich und faltete das Tuch zusammen, auf dem er gelegen hatte. Sie mussten ihn hier an den Strand getragen haben, während er noch schlief. Bei dem Gedanken brummte er unwillig vor sich hin. Hätten sie ihn nicht wecken können, ehe sie ablegten, um ihm wenigstens zu sagen, wo er war? Unsicher sah er sich um. Ein Baum schien das dahinten zu sein, ein Ölbaum. Langsam bewegte er sich darauf zu. Dann kam ihm ein Gedanke, der ihn veranlasste, erneut stehen zu bleiben. Hatten die Seeleute ihn etwa auf einer anderen Insel abgesetzt und sich mit seinen Geschenken davongemacht? Er seufzte. Warum schlief er immer gerade dann, wenn es am wichtigsten war? Dieser Ölbaum. Er wusste, dass es einen in der Phorkys-Bucht gab, aber nicht so einen riesigen. Anderseits war er ja lange fort gewesen...
Der Nebel lichtete sich bald, erste Sonnenstrahlen wärmten ihn. Mit dem Verschwinden des Nebels stellte sich zunehmend ein Gefühl von Vertrautheit mit dieser Umgebung ein. Als dann der Wind die letzten Schwaden fort geblasen hatte, sah er zur Linken und zur Rechten mit Bäumen bewachsene Hänge und einen steilen Felsen.
Diese Farben! Die grünen Bäume, das Blau des Wassers, aber auch des Himmels und seine weißen Wölkchen. Diese Gerüche von Salz, Harz und Sand! War das nicht wie in Ithaka? Oder? Er holte tief Luft. Ja! Es war Ithaka! Es konnte nur Ithaka sein! Ja! Ja! Ja! Er war wieder in Ithaka!
Er ließ sich in den Sand fallen und genoss einen Augenblick lang das berauschende Gefühl, am Ziel seiner Wünsche zu sein. Bedächtig zunächst, als könne da durchaus noch etwas kommen, das ihm alles verderben würde, dann aber in übermütiger, auf einmal gelöster Stimmung rollte er sich erst auf die eine, dann auf die andere Seite und wieder zurück. Er ließ den Sand zwischen den Fingern rinnen, atemlos und ungläubig.
Aber was er auch überprüfte, das bestätigte seine Annahme und ließ es schließlich zur Gewissheit werden, dass er wieder am Ausgangspunkt seiner langen Reise war. Mit Mühe bekämpfte er die aufsteigenden Tränen. Dann sah er den Stapel Geschenke am Ölbaum. Sie hatten ihn also nicht beraubt. Erleichtert klopfte er den Sand von der Kleidung, ging die letzten Schritte und blieb nachdenklich neben den Gaben des Königs der Phaiaken stehen, im Schatten des Baumes, über dessen Stamm seine Hände noch einmal prüfend fuhren, als könnte ihm das letzte Gewissheit geben.
Er wusste eine Höhle nicht sehr weit von hier, die Najaden-Grotte. Dort konnte er die Geschenke zeitweise unterbringen. Leichte Arbeit war es nicht, denn der Weg zur Grotte war steil und steinig und er musste mehrmals gehen, aber ihm war zumute, als könnte es zu diesem Zeitpunkt nichts geben, das ihn aufhalten würde, schon gar nicht Müdigkeit. Nach zwei Stunden hatte er es geschafft.
Er rollte einen Stein vor den Eingang der Grotte, so dass er leidlich verborgen
war, richtete sich zu voller Größe auf, stemmte die Arme in die Seiten und betrachtete das Meer und das Land zu seinen Füßen. Wie hatte er sich danach gesehnt! Die von Bäumen bestandenen Hänge, das tiefblaue Meer, die Wolken darüber: so etwas gab es nirgendwo sonst. Hier war er groß geworden, hier hatte er mit seinem Vater Laêrtes die Wälder durchstreift, hier hatte er seine Penelope geheiratet. Ein warmes Gefühl durchflutete seine Brust.
Sein Blick ging in die Richtung, wo der Palast stehen musste. Er lag hoch, man konnte von dort weit auf das Meer hinausblicken, aber von hier aus war er nicht zu sehen. Worauf wartete er noch? Warum machte er sich nicht unverzüglich auf den Weg? Der Wunsch war so stark wie seine Sehnsucht, aber er hatte gelernt, Wünsche gegen Gefahren und Risiken abzuwägen.
Er setzte sich auf einen Stein, schaute nachdenklich auf das blaue Wasser. Ihm war hinterbracht worden, dass sich Freier in seinem Haus aufhielten. Wenn es zutraf, musste er zunächst Genaueres herausfinden. Der Schweinehirte fiel ihm ein: Eumaios. Ein zuverlässiger Mann. Er hatte eine Hütte, zu der von hier aus ein Weg führte. Wenn er überhaupt noch da war nach so langer Zeit...
Odysseus stand auf, brach einen Stock ab und betrachtete seine Kleidung. In der Grotte befanden sich noch Gewänder und Hosen zum Wechseln. Aber wirkte er nicht glaubwürdiger, wenn er es bei den Lumpen beließ, die er auf dem Leib trug. Er musste ja nicht gleich erzählen, wer er war.
Also brach er auf, endlich, vorsichtig, wo es angebracht schien, mit forschern Schritt, wo das Gelände einen solchen erlaubte, noch immer innerlich jubelnd. Bald passte der Takt des Schrittes nur auf ein einziges, stets wiederkehrendes Wort: I-tha-ka, I-tha-ka. Dabei sah er sich um, bewunderte die Bäume, hielt mehrmals an, um sich prüfend nach einer blauen oder weißen Blume zu bücken, brach aber keinen Stängel ab, als könnte er es sich sonst mit jemandem verderben, wer es auch sein mochte, wich geschickt herabhängenden Ästen aus, wie es einer tut, dem solche Hindernisse vertraut sind und verlangsamte den Schritt erst, als er in der Feme das Ziel seines Weges auftauchen sah.

Vor der Höhle, in der Eumaios wohnte, befand sich ein Vorhaus, das der Schweinehirte errichtet haben musste, aus Findlingsblöcken, die oben mit wildem Birnbaum umfriedet waren. Außen ein Zaun aus nebeneinander in den Boden gerammten, von Rinde befreiten Eichenpfählen.
So waren im Innern des Hofes ein Dutzend großer Schweinekofen entstanden, jeder gefüllt mit vielen tragenden Muttersäuen, während die Eber draußen lagerten. Odysseus hörte heftiges Hundegebell und blieb vorsichtshalber stehen. Da stürmten auch schon drei große Hunde auf ihn zu. Nur gut, dass er es verstand, mit Hunden umzugehen! Während er unbeweglich da stand, redete er begütigend auf die Tiere ein. Sie blieben knurrend stehen, noch unentschlossen, wie sie sich dem Eindringling gegenüber verhalten sollten.
Da vernahm er die Rufe eines herbei eilenden alten Mannes. Sofort rannten die Hunde zu ihm hin.
,,Beinahe wärst du zerrissen worden, Alter!"
Nach einem prüfenden ersten Blick auf den Neuankömmling fügte er etwas freundlicher hinzu:
,,Ich habe auch so schon genug Ärger!"
,,Das war nicht meine Absicht!" beteuerte Odysseus, ,,Ärger wollte ich Euch wirklich nicht machen. "


Langsam gingen sie zum Gehöft. Die Hunde hatten sich bereits damit abgefunden, dass der Fremde kein Feind war. Sie liefen immer wieder schnüffelnd zu ihm, und er hielt ihnen bereitwillig die Hand hin. Bald wedelten sie mit den Schwänzen. Eumaios beobachtete das interessiert. Er vertraute seinen Hunden. Sie freundeten sich sonst nicht so schnell mit einem Fremden an. Dieser schien in Ordnung zu sein. Er lud ihn ein, in die Hütte zu kommen.
Eine richtige Hütte im Wortsinn mit Fenstern und Fenster1äden war es allerdings nicht, eher eine Höhle im Felsgestein mit einer großen Öffnung zum Hineinsteigen und einer weiteren, fenstergroßen, durch die spärlich Licht ins Innere fiel. Es war dunkel, besonders dort, wo Eumaios reichlich Laub aufschüttete und dem Fremden seinen Platz zuwies. Odysseus war es recht, weil der Hirte so sein Gesicht nur undeutlich sah. Er bedankte sich höflich und wünschte dem Gastgeber jede erdenkliche Wohltat von den Göttern.
,,Etwa weil ich Euch bei mir aufnehme?" meinte Eumaios und winkte ab: ,,Auch einem anderen Gast dürfte ich das nicht versagen, schließlich ist Zeus der Vater aller Menschen! Ich aber“, er zuckte bescheiden mit den Schultern, „ich bin nur ein Diener. Viele Diener haben es schlechter als ich, besonders wenn sie einen jungen, strengen Herrn haben." Er seufzte. „Das trifft auf mich allerdings nicht zu, müsst Ihr wissen! Aber meinem Herrn versagen die Götter die Heimkehr, seit fast zwei Jahrzehnten schon! Es ist allen unerklärlich, wieso, nur die Götter wissen es. Vielleicht ist er auch längst zugrunde gegangen!"
Er unterbrach seinen Redefluss und legte den Gürtel um den Leibrock. Dann wandte er dem Fremden erneut sein Gesicht zu, das wehmütig wirkte im einfallenden Sonnenlicht.
„Ich habe mir schon oft gewünscht, es hätte Helenas Sippschaft statt seiner getroffen, denn die hat so viele ins Verderben gerissen! Wegen ihr ist er ja auch nach Troja gezogen."
Er winkte dem Fremden, der sich erhob und mit ihm zu den Schweinekofen hinüberging, wo sich Eumaios zwei Ferkel griff. Odysseus fand es in der Sonne angenehmer als in der dunklen Hütte. Während er sich auf einem Stein niederließ und den Schweinehirten beobachtete, schlachtete dieser die Tiere, zerteilte ihr Fleisch und steckte es auf Spieße. Dabei ging er geschickt ans Werk. Keiner der beiden Männer sprach ein Wort. Als das Fleisch fertig gebraten war, legte Eumaios mehrere Stücke vor Odysseus hin und bestreute sie mit weißem Mehl. Ein Milchnapf diente zum Mischen des Weines.
Während sie aßen, kam Odysseus auf seine Geschicklichkeit zu sprechen. Offenbar schlachte er des Öfteren Schweine, das erkenne man deutlich...
Eumaios unterbrach ihn: "Nicht für mich! Ich muss es für fremde Männer tun, Eindringlinge im Palast meines Herrn. Sie wollen erst wieder gehen, wenn seine Gattin einen von ihnen zum Mann nimmt. Pah!"
Verächtlich spuckte er auf den Boden. „Sie machen sich hemmungslos über den Besitzstand meines Herrn her. Tag und Nacht opfern sie und lassen schlachten. Was glaubt Ihr, welche Mengen Wein sie dabei trinken!"
Es stimmte also. Obwohl er es befürchtet hatte, war Odysseus entsetzt. Was musste seine Penelope nur aushalten!
Der Schweinehirte fuhr fort: sein Herr habe immer zu den wohlhabenden Männern gehört. Zwölf Rinder- und zwölf Schafherden allein auf dem Festland, außerdem zahlreiche Herden mit Schweinen und Ziegen. Elf Ziegenherden weideten auf Ithaka. Von diesen müsse jeder Hirt täglich ein Tier an die Freier abgeben. Er selbst müsse stets den besten Eber heraussuchen.
Je mehr Odysseus hörte und je mehr Gründe zur Beunruhigung es gab, desto ruhiger wurde er. So war es immer, wenn er sich herausgefordert fühlte. Er aß bedächtiger, ja: sorgsamer, wie einer, 
                                                                                                                         
der weiß, wie viel Kraft er in der nächsten Zeit benötigt. Seine eigene Kraft, denn sich auf die Götter zu verlassen, reichte nicht aus. Das hatte er gelernt.
So aß er und trank er und beschränkte sich aufs Zuhören. In seinem Kopf aber arbeitete es und erste Ideen, wie diesen Freiern beizukommen war, nahmen die Gestalt von Plänen an. Dabei bezog er den Hirten mit ein, auch wenn er noch nicht vollständig von dessen Zuverlässigkeit überzeugt war.
Wie denn sein Herr heiße und wo er sich nach seiner Ansicht wirklich aufhalte? erkundigte er sich beiläufig, als Eumaios ihm einen mit Wein gefüllten Becher reichte.
,,Er heißt Odysseus und ist hier in Ithaka der König."
Er schluckte und versuchte vergeblich, der aufsteigenden Tränen Herr zu werden. „Alle anderen sind von Troja zurückgekehrt, er nicht. Warum nur?"
Mühsam stand er auf, hob den Becher und wandte sich mit glänzenden Augen an seinen Gast.
„Wahrscheinlich ist er längst zugrunde gegangen. Aber ich werde ihn nie vergessen. Lasst uns also auf sein Wohl trinken!"
Sie taten es und Eumaios wischte mit dem Handrücken über die Augen. Dann sagte er mit leiser, brüchiger Stimme:
„In meinem Herzen wird er weiter leben, was auch geschieht. So einen Herrn finde ich nicht wieder!"
Der Gast war bemüht, seine Rührung zu verbergen.
„Ja“, sagte er, „das Schicksal kann einen hart treffen, das stimmt! Aber Ihr tut gut daran, die Hoffnung nicht vorzeitig aufzugeben."
Eumaios zog die Augenbrauen hoch:
„Wie kommt Ihr darauf?"
,,Nun, ich bin viel herumgekommen und habe viel gehört."
Eumaios zog misstrauisch die Augenbrauen hoch:
,,Ihr wollt von meinem Herrn gehört haben?"
Der Gast nickte:
,,Er lebt."
Eumaios hätte vor Überraschung fast den Becher fallen lassen.
„Ihr habt gehört, dass er lebt? Wo? Teilt es mir mit!"
„Ein Seemann hat es mir erzählt, in einem fernen Hafen. Es war Nacht und seine Zunge war schwer, aber seine Augen zeigten, dass er die Wahrheit sagte.“
"Was hat er gesagt? Erzählt es mir endlich!"
Sein Ton wurde laut vor Ungeduld.
„Was er gesagt hat? Dass Odysseus am Leben ist und sogar, dass er sich auf der Heimfahrt befindet.“
Eine Weile war nur das Scharren der Tiere zu hören, dann der durchdringende Schrei einer Möwe. Der Schweinehirte hatte sich wieder hingesetzt, lehnte sich an einen Ballen aus Stroh, der von grünem, durchscheinendem Stoff zusammengehalten wurde und starrte seinen Gast an. Der bemühte sich um Gelassenheit und hielt dem Blick stand.
Die Hunde knurrten. Als Eumaios einen Schluck trank und kurz die Augen von seinem Gast abwandte, warf dieser einen neugierigen Blick auf den Vorhof. Eumaios bemerkte es und machte eine begütigende Handbewegung.
„Sie spielen miteinander, es ist harmlos."
Bald kehrte in der Tat Ruhe ein. Die beiden Männer saßen sich schweigend gegenüber, und jeder hing seinen Gedanken nach. Odysseus überlegte, wie er die Zuverlässigkeit des Schweinehirten prüfen könnte. Wenn sie sich bestätigte, wäre er ein wichtiger Helfer bei der Auseinandersetzung mit den selbst ernannten Freiern, auch wenn er es in Bezug auf die Gottesfürchtigkeit übertrieb... Ihm kam ein Gedanke:
"Würde es Euch überzeugen, wenn ich schwöre, dass Euer Herr am Leben ist? Mit einem heiligen Eid?"
Eumaios warf ihm einen skeptischen Blick zu.
,,Natürlich wäre es mir sehr lieb, wenn Ihr Recht hättet, aber ist das überhaupt möglich?" Er seufzte. ,,Im Augenblick macht mir das Schicksal seines Sohnes mehr zu schaffen."
Der Gast horchte auf.
,,Das Schicksal seines Sohnes? Wieso das?"
,,Er ist ganz allein nach Pylos gefahren."
„Warum?"
Er wollte etwas über seinen Vater in Erfahrung bringen. In jüngster Zeit ist er sehr unruhig. Er will den Freiern zeigen, dass er ein würdiger Nachfolger seines Vaters ist, denke ich. Bisher hat ihn die Mutter in den meisten Angelegenheiten vertreten, aber jetzt weist er auch sie in ihre Schranken." Er zuckte mit den Schultern. "So habe ich es jedenfalls gehört."
,,Aber wieso ist er in Gefahr?"
"Weil die Freier ihm bei der Rückkehr auflauern wollen."
Odysseus hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Zu gern hätte er Näheres in Erfahrung
gebracht. Aber er schwieg, weil er befürchtete, ein zu großes Interesse könnte ihn vorzeitig verraten. Eumaios vertraute ihm noch nicht, das spürte er. Und er hatte das Gefühl, dass er noch etwas vorbringen wollte, was ihn betraf. Als sie noch einmal getrunken hatten, bestätigte sich seine Vermutung. Eumaios meinte, nachdem er sein Gegenüber eine Zeitlang eindringlich gemustert hatte, er wolle jetzt endlich wissen, wer er sei.
„Woher kommst du, und mit welchem Schiff hast du Ithaka erreicht?"
Das war es also? Nun, darauf hatte Odysseus sich auf dem Weg vorbereitet. Er trank einen Schluck Wein und begann zu erzählen. Einem alten kretischen Adelsgeschlecht entstamme er. Allerdings sei sein Vater allzu früh gestorben.
„Meine Brüder und ich teilten das Erbe untereinander. Später heiratete ich dann. Die Braut kam aus einer reichen Familie, aber leider konnte auch sie mir die Häuslichkeit nicht schmackhaft machen. Im Gegenteil: Wo immer es einen Kampf zu bestehen galt, wollte ich dabei sein."
Er hielt inne, und das Schweigen sollte die Worte noch bedeutungsvoller machen. „Neunmal“, fuhr er dann fort, „vielleicht auch zehnmal sind wir aufgebrochen zu entlegenen Völkern und jedes Mal mit reicher Beute zurückgekehrt. Ach ja: es ging uns gut! Aber dann kam Troja. Das war ein Kampf! Und wie lange er dauerte! Erst im zehnten Jahr fiel die Stadt."
Jetzt befand er sich auf vertrautem Gebiet und konnte ungestört weiter phantasieren:
„Als Troja gefallen war, kehrte auch ich heim, aber lange hielt es mich dort nicht. Kaum einen Monat nach meiner Ankunft brach ich wieder auf, diesmal zum Nil. Ja, wir hatten neun Schiffe, als wir abfuhren, und bereits fünf Tage später kamen wir am Ziel an. Ein herrliches Ziel, das müsst Ihr mir glauben! Allein die Palmen dort: Manche sind groß wie ein Turm!"
Er sah, dass Eumaios nicht so leicht zu überzeugen war und die Stirne runzelte. Aber immerhin lauschte er gespannt und nahm Anteil an dem, was er hörte.
„Hätte ich mir damals nur andere Männer für die Schiffsbesatzung ausgewählt! Vielleicht wäre mir manches erspart geblieben. Dabei hatte ich ihnen die Anweisung gegeben, nicht an Land zu gehen. Aber sie scherten sich nicht darum, im Gegenteil: Meine schlimmsten Befürchtungen wurden übertroffen. Sie plünderten, nahmen Frauen gefangen und ermordeten wehrlose Kinder, alles für eine bescheidene Beute. Ich warnte sie, sagte, ich könnte mir nicht denken, dass die Männer der Frauen, die Väter der Kinder es dabei belassen würden. Und was glaubt Ihr: natürlich behielt ich Recht! Schon am nächsten Morgen kamen berittene Krieger und Fußsoldaten, so zahlreich und so gut bewaffnet, dass wir keinen Widerstand wagten. Und das will etwas heißen, denn wir Kreter sind für unsere Tapferkeit bekannt. Aber gegen diese Übermacht hatten wir
keine Chance."
Er schwieg einen Moment, gänzlich gefangen von der Geschichte, die doch nur seiner Phantasie entsprungen war. Dabei beobachtete er Eumaios aus den Augenwinkeln und nahm befriedigt zur Kenntnis, dass dieser beeindruckt war.
„Viele Gefährten kamen ums Leben, andere wurden gefangen genommen und in die Sklaverei verschleppt. Nur um mein Leben zu retten, gab ich auf, legte den Schild beiseite und nahm den Helm ab. Stellt Euch vor, zunächst wollten einige dieser wilden Krieger trotzdem mit Speeren auf mich losgehen, aber da griff der König zu meinen Gunsten ein. Er war dann sehr freundlich und nahm mich bei sich auf. Ich blieb lange bei ihm, insgesamt sieben Jahre. Dabei ließ ich es mir gut gehen, konnte Gold sammeln. Aber“, er seufzte theatralisch, ehe er fort fuhr, „bis dann im achten Jahr erneut ein Unglück über mich kam."
„Was für ein Unglück?"
„Ein gerissener, heimtückischer Phoenizier kam des Weges daher. Er schlich sich in mein Vertrauen ein, weil ich zu gutmütig war. Schließlich überredete er mich, mit nach Phoenizien zu kommen. Ich fuhr mit und bliebe dort ein weiteres Jahr. Dann nahm mich derselbe Mann auf dem Schiff mit, angeblich um Ladung nach Libyen zu bringen."
Eumaios runzelte die Stirn.
,,Eine Falle?"
Odysseus nickte.
„Genau! In Wahrheit wollte er mich als Sklave verkaufen und eine enorme Summe Gold einheimsen. Dabei hatte ich bereits ein ungutes Gefühl, als ich an Bord ging. Nun ja, das Schiff fuhr an Kreta vorbei. Dann wurde es mit einem Mal finster, Zeus schleuderte Blitz und Donner vom Himmel."
Er hielt inne und trank einen Schluck Wein.
„Einer der Blitze traf das Schiff. Es war furchtbar! Giftiger Schwefel raubte den Seeleuten die Besinnung. Eine riesige Woge spülte schließlich alle Mann von Deck. Ich konnte mich retten, indem ich mich an den Schiffsmast klammerte. Eine mühsame Art, sich zu retten, glaubt es mir! Neun Tage musste ich aushalten, bis es soweit war."
,,Neun Tage?" unterbrach ihn der Schweinehirt ungläubig.
„Ja, es müssen neun Tage gewesen sein. Dann erst hatte ich wieder Boden unter den Füßen, und zwar dort, wo die Thesproter wohnen. Ihr werdet von ihnen gehört haben, nehme ich an. Von deren König erfuhr ich etwas über Odysseus."
„Was hat er Euch denn erzählt?"
„Der König hieß Pheidon. Er sagte, er hätte Odysseus einst gastlich aufgenommen. Aber er sei sehr unruhig gewesen, weil er nicht gewusst habe, wie er nach Hause kommen konnte. Er sei dann nach Dodona gesegelt, um beim Zeus-Orakel nach zu fragen."
„Und dann?" fragte Eumaios gespannt.
Odysseus zuckte die Schultern:
„Er sagte mir, er hätte nichts mehr von ihm gehört. Er zeigte mir Schätze, die Odysseus gehörten und die er bei ihm zurückgelassen hätte. Deshalb glaube er, dass er wieder zurückkommen werde."
Der Schweinehirte war sichtlich enttäuscht. ,,Also wieder nichts Genaues." Er machte eine Pause. „Hört sich abenteuerlich an, was Ihr mir da erzählt habt. Jetzt fehlt noch, wie Ihr von dort nach Ithaka gekommen seid."
Odysseus nickte eifrig.
„Ja, Ihr habt Recht. Hört nur weiter: Der König gab vor, mir helfen zu wollen. Er sagte, im Hafen warte ein Schiff. Es werde mich nach Kreta bringen. Das war aber gelogen. In Wahrheit war es unterwegs nach Dulichion. Die Seeleute hatten den Auftrag erhalten, mich zum König Akastos zu bringen."
Er gestikulierte heftig, als könnte er so seine Glaubwürdigkeit erhöhen.
„Sie überfielen mich, raubten mir die Kleidung, steckten mich in
Lumpen und fesselten mich. Aber dann kamen wir an dieser Insel vorbei. Ich konnte mich befreien, als sie gerade unter Deck eine Mahlzeit einnahmen. Ich sprang ins Meer, schwamm an Land und versteckte mich. Sie haben dann nach mir gesucht, aber ohne Erfolg." 
Er schwieg und lehnte sich an den Holzpfosten. Der Sauhirte blieb ebenfalls eine                                                          Weile still. Er hatte die Augen geschlossen und stützte das Kinn auf die gefalteten Hände. Als Odysseus bereits überlegte, ob er vielleicht eingeschlafen war, öffnete er die Augen, und Odysseus meinte darin Belustigung zu erkennen. Sollte alle Mühe umsonst gewesen sein?
„Spannend ist es ja, was Ihr erzählt“, bestätigte Eumaios, „aber wie kann ich Euch das alles glauben? Vor allem das, was Ihr über Odysseus gehört habt, stimmt nicht! Nein, ich weiß es besser. Er ist den Göttern so verhasst, dass sie ihm nicht einmal den Tod in Troja und einen Grabstein gegönnt haben. Und jetzt sind sie dabei, ihm auch noch den Sohn zu nehmen. Ich aber sitze hier bei den Schweinen, ein armer, einsamer Mann."
Wieder füllten sich seine Augen mit Tränen.
„Ich gehe nur noch selten in den Palast, vor allem dann, wenn Penelope mich rufen lässt.“
Er erhob sich und trat ohne weitere Erklärung vor die Tür. Odysseus überlegte, wie er sich verhalten sollte. Anscheinend glaubte Eumaios ihm wirklich nicht.
Er kam jetzt wieder herein und setzte sich.
„Nein“, sagte er und machte es sich so bequem wie einer, der länger bleiben wollte, ,,mir ist nicht wohl bei diesem Nachforschen und Fragen, besonders seit mich einmal einer belogen hat. Ein aitolischer Mann war es. Ich glaubte ihm, als er mir sagte, er habe ihn auf Kreta gesehen, wie er bei König Idomeneus Schiffe reparierte, die vom Sturm beschädigt waren. Er würde zurückkommen, wenn der Sommer vorbei wäre. Ich war sehr enttäuscht, als er nicht kam. Seither macht man mir nichts mehr vor."
Das faltige, vom Wetter gegerbte Gesicht des alten Mannes wirkte umso treuherziger, je mehr er betonte, wie misstrauisch er war, fand Odysseus, beschloss aber, nicht auf das Gesagte einzugehen. Gerüchte waren ein schlüpfriger Boden. Er stand auf und klopfte das Stroh von der Kleidung. Dann ging auch er für einen Moment vor die Tür.
„Ich mache Euch folgenden Vorschlag“, sagte er später, als sie wieder zusammen saßen, „damit Ihr mir endlich glaubt: Wenn Euer Herr wiederkommt, wie ich es gesagt habe, dann gebt Ihr mir ordentliche Kleidung und geleitet mich zur Nachbarinsel Dulichion. Kommt er aber nicht, so habt Ihr das Recht, Eure Gehilfen zu rufen, damit sie mich vom hohen Felsen herabstoßen, denn dann wird es zukünftig kein Bettler mehr wagen, Euch zu täuschen!"
Eumaios starrte seinen Gast mit offenem Mund an.
,,Meint Ihr das im Ernst?"
Odysseus nickte.
,,Allerdings!"
„Ihr traut mir also zu, dass ich einen Gast erst in meine Hütte führe und bewirte, um ihn anschließend ermorden zu lassen? Wisst Ihr denn nicht, was das bedeuten würde? Soll ich bei Zeus in Ungnade fallen, ohne Hoffnung, je wieder eine Bitte von ihm erfüllt zu bekommen?"

Später am Nachmittag kamen die Hirten, die Eumaios bei der Arbeit halfen, mit den Säuen zurück. Eumaios trat vor den Eingang.
,,Holt den besten Eber herbei, wir wollen schlachten!" rief er den beiden Männern zu.
Diesmal war es ein feister, fünfjähriger Eber, den sie herbeiholten und gefesselt nahe an den Herd legten. Um ihren ersten Hunger zu stillen, gab Eumaios ihnen von dem Ferkelfleisch, das sie am Mittag nicht verspeist hatten. Dann begann das Ritual.
Eumaios warf die Borsten vom Schweinekopf ins Feuer, rief dabei die unsterblichen Götter an und flehte, sie sollten Odysseus heimkehren lassen! Alle drei Männer beteiligten sich, und um nicht aufzufallen, blieb dem Fremden nichts übrig, als es ebenfalls zu tun. lm Anschluss daran ergriff Eumaios, der die Zeremonie leitete, einen schweren Eichenstock und ließ ihn weit ausholend mit solcher Wucht auf den Kopf des Ebers niedersausen, dass dieser sofort tot war. Anschließend zerteilten die Hirten den Kadaver und ließen ihn von allen Seiten ansengen. Eumaios umwickelte das rohe Fleisch mit einer Fettschicht, bestreute es mit Gerstenmehl und warf es ins Feuer. Das übrige Fleisch steckten die Männer, nachdem sie es klein geschnitten hatten, an Spieße und ließen diese braten. Eumaios, der eine genaue Vorstellung davon hatte, wie das Fleisch aufgeteilt werden sollte, übernahm diese Aufgabe. Eine Portion stellte er für die Nymphen und für Hermes hin, die übrigen reichte er den Männern. Odysseus bekam ein großes Rückenstück. Eine besondere Anerkennung. Dankbar nickte er. ,,Ich hoffe, dass Ihr Zeus ebenso lieb seid wie mir!"
Eumaios entgegnete, so rau wie nötig, um die eigene Rührung zu verbergen:
„Esst nur und freut Euch an dem, was Ihr habt! Die Götter geben und nehmen, wie es ihnen gefällt."
Dazu passte, dass er den Göttern ausdrücklich die ersten Stücke weihte. Dann goss er die Becher mit Wein voll. Das Aufteilen des Brotes übernahm Mesaulios, einer der beiden Hirten, die für Eumaios tätig waren. Er war persönliches Eigentum von Eumaios, der ihn zu einer Zeit von den Taphiern gekauft hatte, als sein Herr nicht mehr da war. Die dazu nötigen Mittel hatte er selbst aufgebracht, aber von seinem Sklaven wussten nicht einmal Penelope und der greise Laêrtes.
Während sie aßen und tranken, fühlte sich Odysseus so wohl wie lange nicht mehr. Obwohl er schon das Ferkelfleisch verspeist hatte, ließ er auch diesmal nichts übrig, sehr zur Zufriedenheit seines Gastgebers.
Die beiden anderen Männer zogen sich nach einer Weile zurück und begaben sich zur Ruhe. Es war kühl geworden. Odysseus fror. Während er überlegte, wie er das ändern könnte, kam ihm der Gedanke, die Hilfsbereitschaft des Hirten erneut auf die Probe zu stellen. Erst der Wein habe ihn so betört, begann er in der Art eines unsicheren und schüchternen Mannes, dass er sich zu sagen traue, was ihm sonst nicht leicht von den Lippen komme. Noch einmal zögerte er und schluckte, wie einer, der sich Mut machen will.
„Von Troja war bereits die Rede, nicht wahr, und das, was ich Euch erzählen möchte, ist eine Begebenheit aus jener Zeit."
Er sei damals einer der drei Männer gewesen, die das griechische Heer anführten, an der Seite von Menelaos und Odysseus. Eines Nachts hätten sie in einem Hinterhalt vor den Mauem der Stadt gelegen, in einem dichten Gebüsch. Ein frostiger Nachtwind habe Schnee gebracht, und während die anderen in Mantel und Schlafrock schliefen und ihren Leib mit Schilden bedeckten, lag er da und fror jämmerlich, denn er hatte in der Eile des Aufbruchs seinen Mantel vergessen.
„Erst im letzten Drittel der Nacht stieß ich Odysseus in die Seite und bat ihn um Hilfe. Sofort ermahnte er mich, leiser zu sprechen. Aber was tat er selber? Mit lauter Stimme wandte er sich an die anderen Gefährten und verkündete, er hätte geträumt, es solle unbedingt jemand zu Agamemnon eilen, um ihm zu sagen, dass er Verstärkung schicken müsse. Einer der Männer, ich glaube, es war Thoas, der Sohn von Andraimon, machte sich dann auch auf zu den Schiffen, und zwar ohne Mantel, den er achtlos zu Boden geworfen hatte. Ich nahm ihn dann und hüllte mich darin ein."
Eumaios begriff nicht, was dieser merkwürdige Fremde ihm mit dieser Geschichte sagen wollte. Deshalb zuckte er nur die Schultern und sagte mit gekrauster Stirn:
„Warum erzählt Ihr mir das?"
Auf eben diese Frage hatte Odysseus gehofft.
„Ach“, sagte er so unterwürfig, wie es ihm nur möglich war, „wäre ich jünger, dann schenktet Ihr oder einer Eurer Männer mir gewiss hier ebenso einen Mantel, aber so...nein! Ich muss wohl mit der Verachtung leben, die einem elend Bekleideten entgegengebracht wird!"
,,Ihr glaubt, dass Ihr frieren müsst?"
Eumaios schüttelte verständnislos den Kopf.
„Das ist doch wohl nicht Euer Ernst? Natürlich bekommt Ihr einen von mir, auch wenn bei uns jeder nur einen Mantel besitzt, den er immer trägt und nichts zum Wechseln. Aber stellt Euch darauf ein, dass Ihr, wenn Odysseus heimkommt, alle Kleidung, die Ihr braucht, erhalten werdet. Und dann könnt Ihr dahin gehen, wohin Herz und Mut Euch treiben werden."
Damit erhob er sich und bereitete dem Fremden, der sein Gast geworden war, ein Lager aus Laub, bedeckt mit Schaf- und Ziegenfellen, dicht neben dem Feuer. Als Odysseus sich niedergelegt hatte, warf Eumaios einen dicken, großen Mantel, den er sonst für Unwetter bereithielt, über ihn.
Er nahm sein Schwert, zog einen Windschutzmantel über und ging mit einem Ziegenfell und dem Speer dorthin, wo die Eber, geschützt vor dem Nordwind, unter einem Felsvorsprung ruhten. Bei ihnen war sein Platz.

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