Zuspitzung der Lage

Text

von  ManMan

Ein wirklicher Bettler kam herbei, um dem vermeintlichen Konkurrenten den Platz an der Türschwelle streitig zu machen. Sein Name war Amaios, doch wurde er in Anlehnung an die Götterbotin Iris von allen Iros gerufen. Dieser Iros war mitunter nützlich, weil er sich auf Anforderung der Freier zu Botengängen bereit fand.
Bescheiden war er nicht, aber berüchtigt für einen unersättlichen Magen, den er für seinen ständigen Hunger verantwortlich machte. Obwohl er von riesiger Gestalt war, verbargen sich dahinter eher bescheidene Kräfte.
„Geh nur weg von der Tür, ehe ich dich wegzerre!" raunzte er Odysseus an.
Dieser zeigte keinerlei Bereitschaft, dem Wunsche nachzukommen. Er blieb ruhig und meinte Schulter zuckend:
„Die Türschwelle ist groß genug, um jedem von uns hinreichenden Ertrag zu bringen.“
Dann musterte er ihn von oben nach unten, ganz so, als nehme er ihn jetzt erst richtig zur Kenntnis. Dabei verzogen sich seine Mundwinkel voller Verachtung und er sagte:
„Fordere mich nicht heraus, sonst schlage ich dir ohne große Mühe Brust und Rippen ein! Glaub nur nicht, ich sei dafür zu alt!"
Sollte Iros sich das gefallen lassen?
„Schwätzer!" rief er laut, „plapperst drauf los wie ein altes Weib. Lass das sein, oder ich bin gezwungen, dir sämtliche Zähne aus dem Kiefer zu hauen!"
„Woher sollen die Helfer kommen, damit du das schaffst?" höhnte Odysseus.
,,Pah! Als ob ich bei dir Helfer brauchte! Aber Zuschauer können kommen und teilhaben an unserem Kampf. Lange wird er nicht dauern, dafür werde ich sorgen!"
So gab ein Wort das andere. Schließlich war es unvermeidlich, dass den Worten Taten folgten.
„Gürte dich nur“, meinte Iros, „auch die anderen im Palast sollen an diesem Kampf teilhaben."
Antinoos ging jetzt zu den bei den hin. Er stellte sich neben die Männer, fasste sie an der Schulter und wandte sich den Freiern zu:
„He, kommt her, uns steht eine ergötzliche Stunde bevor. Seht nur, wie sie sich zanken! Lasst uns noch nachhelfen, damit sie richtig aufeinander losgehen!" Zustimmung und Gejohle, allgemeiner Aufbruch von den Sitzen. Antinoos kündigte an, der Sieger in dem Zweikampf dürfe sich nach Belieben an den Ziegenmägen schadlos halten, die auf der Feuerstelle zum Braten lagen.
Dafür erhielt er wiederum Beifall. Die Stimmung war gekennzeichnet von einer zunehmenden Hemmungslosigkeit auf Seiten der Freier. Sie schienen zu Handlungsweisen bereit, die sie zuvor abgelehnt hätten. Antinoos spürte das und es kam ihm nicht ungelegen. Er hoffte, Vorteile daraus zu ziehen, denn seine Stellung unter den Männern war nicht mehr unumstritten. Zu lange schon hielt Penelope sie hin, und Antinoos konnte daran offenbar nichts ändern. Wenn sich also eine Gelegenheit ergab, bei der sich die anderen unbedacht selber in Schwierigkeiten brachten, konnte das seine Position nur stärken.
Jetzt aber meldete der Bettler Bedenken an. Er forderte Gewissheit, dass keiner der Freier dem Bettler zur Hilfe käme, denn sonst müsse er sich auch noch mit ihnen anlegen, die doch so viel jünger seien als er.
War dieser Bettler nicht köstlich! Er schien tatsächlich von einem Sieg auszugehen!
Aber gut: den Schwur leisteten sie gern, Antinoos als erster. Sollte das Spektakel denn an solch einem Punkt scheitern?
Es war wann, und alle hatten nur leichte Gewänder an oder trugen knielange Hosen und ein Tuch um den Oberkörper. Als der Bettler sich zu entkleiden begann, schenkte ihm zunächst niemand Beachtung, doch als er da stand, nur noch die Lenden mit einem Lumpen verhüllt, hörte der Lärm schlagartig auf. Was sie da sahen, war einfach unglaublich: starke, prächtig anzusehende Schenkel, breite Schultern, muskulöse Arme und eine kräftige Brust. Wer hätte das gedacht!
Ein Geraune war zu hören, während sich die Freier ungläubige Blicke zuwarfen.
Ob diesem Iros am Ende nicht doch eine Niederlage bevorstand?
Was machte er da? Der Mut schien ihn auf einmal zu verlassen. Er begann sich langsam vom Kampfplatz zurückzuziehen, zitterte gar vor Erregung. Am liebsten hätte er die Herausforderung ungeschehen gemacht. Stattdessen kamen auf einen Wink von Antinoos Sklaven herbei, die ihn dorthin drängten, wo der Kampf stattfinden sollte. Fast mussten sie ihn hinschleppen, unter den aufmerksamen Blicken von Antinoos, der ihn immer mehr verachtete.
,,Prahlhans!" schimpfte er schließlich, als er sich nicht länger zurückhalten konnte. „Erst forderst du ihn heraus, und dann zitterst du vor diesem Greis! Wenn du ihn nicht besiegst, werde ich dich aufs Festland fahren, zu König Echetos, dem Menschenfresser!"
Jetzt zitterten die Knie des Herausforderers so stark, dass er kaum noch zu stehen vermochte, aber auch wenn er ein Bild des Jammers bot, vermochte er kein Herz zu erweichen. Schließlich wollten alle ihren Spaß haben.
Der Kampf begann. Beide hoben die Arme und umkreisten sich, wie es der Brauch verlangte. Iros schlug zuerst. Obwohl er alle Kraft in den Hieb legte, prallte er wirkungslos an der rechten Schulter von Odysseus ab.
Der zögerte nicht zurück zu schlagen. Seine Faust landete unterhalb des Ohrs auf des Gegners Schulter. Sogleich ergoss sich ein Schwall Blut aus dessen Mund. Ehe er sich’s versah, musste er einen weiteren Hieb einstecken, und der streckte ihn zu Boden. Schreiend und zähneklappernd lag er im Staub und schlug mit den Füßen um sich.Während die Fersen auf den Boden trommelten, konnten sich die Freier vor Lachen kaum halten und hoben grölend die Hände.
Da fasste Odysseus ihn an den Füßen, zerrte ihn durch die Tür hinaus in den Hof, setzte ihn an die Mauer und drückte ihm einen Stock in die Hand.
„Hier ist dein Platz“, sagte er energisch, ,,Hunde und Schweine magst du vertreiben, aber maße dir keine Rechte gegenüber Fremden oder anderen Bettlern an!"
Er warf ihm den ausgedienten Ranzen über die Schulter, ging zurück zur Türschwelle und ließ sich wieder dort nieder. Weil er gesiegt hatte, wurde ihm unerwartet auch die Sympathie der Freier zuteil. Sie eilten herbei. „Glückwunsch!" hieß es von allen Seiten. Endlich habe jemand den unersättlichen Gierhals vertrieben! Ha! Man werde ihn ausliefern an den Menschenfresser, das habe man schon lange vorgehabt!
Antinoos kam. Er brachte die versprochenen Mägen, zusammen mit zwei Brotstücken. Dann hob er seinen Becher und wünschte dem Bettler Glück für die Zukunft, denn daran habe es ihm bisher offenbar gemangelt. Artig bedankte sich der bettelnde Mann zunächst für das Verständnis, das ihm hier entgegengebracht werde. "Mein Vater Nisos aus Dulichion ist wohl angesehen. Ihr scheint es ihm gleichtun zu wollen."
Aber dann begann er zu schimpfen:
„Auch Ihr werdet lernen, wie rasch sich Glück in Leid und Unheil verwandeln kann. So wie ich es gelernt habe."
Während die Freier sich noch erstaunt fragten, was denn nun schon wieder in diesen merkwürdigen Bettler gefahren war, fuhr Odysseus fort:
„Auch wenn einem Unheil widerfährt, muss man sich an Recht und Gesetz halten, anders als ihr es tut! Ihr seid verbrecherisch, denn ihr verzehrt ungestraft fremdes Hab und Gut und obendrein besudelt ihr die Ehre der zurück gebliebenen Gattin. Aber ihr werdet es erleben: er kommt wieder, sogar schneller, als ihr es euch vorstellen könnt."
Er wandte sich an Antinoos.
„Betet zu den Göttern, dass Ihr ihm nicht begegnet, denn er wird Euch nicht verschonen! Euch nicht und keinen der anderen hier. Der Kampf wird blutig sein, doch niemand wird ihm ausweichen können, wenn er erst einmal begonnen hat."
Er setzte den Becher an den Mund und leerte ihn in einem Zug.
Die Freier schimpften zwar auf den unverschämten Bettler, aber verhalten, denn der Kampf gegen den anderen Bettler hatte ihnen Respekt abgenötigt.
Antinoos hatte eine sorgenvolle Miene, als er an seinen Platz zurückkehrte. Er fühlte, dass Unheil in der Luft lag.

Oben im Schlafgemach hatte Penelope die Entwicklung der Dinge mit banger Sorge verfolgt. Jetzt sagte sie zu Eurynóme:
„Ich denke, ich sollte heruntergehen und mich ihnen zeigen. Dabei kann ich Telemachos ein paar Worte sagen. Sie führen Böses im Schilde. Er soll von ihnen Abstand halten."
Weil sie wusste, dass alle Einwände fruchtlos blieben, wenn ihre Herrin in solch einer Stimmung war, pflichtete Eurynóme ihr bei. Sie solle sich aber, ehe sie nach unten gehe, waschen, schminken und ein wenig hübsch machen.
„Ihr könnt doch nicht bis ans Lebensende trauern! Ihr habt nicht nur einen Gatten, sondern auch einen Sohn, der inzwischen zum Manne herangewachsen ist. War es nicht stets Euer sehnlichster Wunsch, das erleben zu dürfen?"
Penelope seufzte:
„Also gut, helft mir mit, und wenn ich geschminkt bin, holt ein schönes Gewand herbei."
So geschah es. Als sie sich mit Eurynómes Hilfe geschminkt hatte und das wundervolle farbige Gewand angelegt hatte, das ihre Haut weißer erscheinen ließ, fühlte sie sich sicherer und war Eurynóme für ihr Drängen dankbar. Allerdings bestand sie darauf, ihr Gesicht zu verschleiern. Hippodomeia und Autónoe sollten sie nach unten begleiten. Als die drei die Treppe hinab stiegen, verstummte der Lärm bei den Freiern augenblicklich. Begehrliche Blicke trafen die Frau, wegen der alle hier waren. Sie aber trat, ohne sich beirren zu lassen, an die Säule und wandte sich mit lauter Stimme an ihren Sohn:
„Wie konntest du nur zulassen, dass der fremde Mann so schändlich behandelt wurde!"
Alle starrten Telemachos an. Der aber meinte nur Schulter zuckend:
„Soll ich es allein mit den fremden Männern aufnehmen?"
Er blickte sich im Saal um und fuhr dann, an seine Mutter gewandt, fort:
„Da müsste noch jemand kommen, der es mit ihnen aufnehmen kann!"
Die Freier, die sich in ihrer Dreistigkeit bestätigt fühlten, lachten grölend und wandten sich ihren Bechern zu, die ständig von Sklaven mit Wein nachgefüllt wurden.
Eurymachos war in besonders weinseliger Stimmung. Er schwärmte von Penelope, und zwar so laut und auffällig, dass nach und nach die Unterhaltung bei den anderen Männern wieder erstarb und sie ihre Aufmerksamkeit ihm zuwandten.
„Sie ist die stattlichste Frau, die ich kenne“, meinte er und erntete anerkennende Pfiffe. „Sie übertrifft an Schönheit alle, die ich kenne. Und klug ist sie auch noch."
Jetzt spendeten die anderen Beifall. Gespannt blickten sie Penelope an.
Da gebot diese mit einer Handbewegung Schweigen.
„Als mein Gatte nach Troja zog, sagte er mir, es sei nicht sicher, dass er heil zurückkommen werde.“
Sie hielt inne und schluckte, wie immer, wenn sie daran dachte.
„Er hat alles mitgenommen, was mich größer machte“, sagte sie dann auf einmal, und es hörte sich an, als sagte sie es zu sich selber. Die Männer schwiegen.
„Es war sein Wunsch, dass ich für alle Angehörigen Sorge tragen sollte, vor allem für unseren Sohn, solange dieser nicht erwachsen war." 
Sie schaute zu ihm hin.
„Er ist es nun. Mein Gatte aber hat gesagt, wenn er es wäre und er selber sei bis dahin nicht wiedergekommen, dann stünde es mir frei, mich erneut zu vermählen und dieses Haus zu verlassen."
Sie seufzte.
„Es scheint nun, als ob eine solche entsetzliche Vermählung der einzige Ausweg sei. Zeus verwehrt mir ein glücklicheres Leben."
Anklagend und theatralisch warf sie einen Blick nach oben, und spätestens jetzt hätten weniger Befangene gemerkt, dass sie ihnen in Wahrheit etwas vorspielte. Die Freier aber warteten nur gespannt darauf, was sie weiter vorbringen würde. Noch einmal holte sie tief Luft. Dann sagte sie, in einem ganz anderen, eher listigen Tonfall:
„Mich bedrückt dabei ein Verstoß gegen die guten Sitten. War es nicht immer so, dass Männer jener Frau, um die sie freiten, Geschenke brachten? Wollt ihr etwa mit dieser Tradition brechen und fremden Besitz verzehren, ohne selber etwas einzubringen?"
Der unerkannte Odysseus hörte zu und fühlte eine Welle zärtlicher Gefühle aufsteigen, so warm und kräftig, dass es ihm Herzklopfen bereitete. Wie gut sie sich auszudrücken verstand! Und wie sie sich Vorteile verschaffte!
Antinoos reagierte als erster. Rasch erhob er sich und versicherte, es läge nur an ihr, ob sie Geschenke annähme oder nicht. Sie seien ja bereit, Geschenke zu bringen, natürlich!
„Aber glaubt nicht, dass Ihr uns loswerdet, ehe Ihr Euch entschieden habt, wer von uns Euer Gatte werden soll."
Zwar spendeten die Freier dem Sohn des Eupeithes Beifall, wie immer, wenn er Siegesgewissheit oder ihren unbeugsamen Willen verkündete, doch dann schickten sie ihre Sklaven los, um die Geschenke zu holen.
Der Bettler setzte sich ans Feuer. Nach dem siegreichen Kampf fiel es ihm nicht schwer, die Frauen, die sich bisher darum gekümmert hatten, zu vertreiben. Sie murrten zwar, fügten sich aber seinem Wunsch.
Es fiel Odysseus auf, dass Telemachos den Frauen finstere Blicke zuwarf. Schon befürchtete er, sein Sohn könnte entgegen der Absprache eingreifen, doch dann konnte er an seinem Gesicht ablesen, dass er sich wieder beruhigte.
Die ersten Boten kamen mit Geschenken zurück, und was sie brachten, waren keine Kleinigkeiten. Einige Jungen und Mädchen, Kinder der Sklavinnen, die hier lebten, standen am Rande des Saales und staunten über das herrliche Gewand mit einem Dutzend goldener Spangen, das von Antinoos kam, oder über die mit Bernstein besetzte Goldkette von Eurymachos.

Eurydamas ließ Ohrengehänge herbeiholen, dreifach mit Perlen besetzt, der Sohn des Polyktor brachte ebenfalls eine prächtige Halskette herbei, und weitere prachtvolle Geschenke kamen von Boten der anderen Freier. Auf Anweisung Penelopes wurden alle Geschenke in die Obergemächer gebracht. Dann begab sie sich ebenfalls dorthin.
Bald zeigte sich, dass die Freier keineswegs ruhiger geworden waren. Sie amüsierten sich weiterhin auf Kosten des Bettlers, mir Witzen und derben Bemerkungen über ihn, und ihre Worte wurden mit jedem geleerten Becher Wein heftiger. So kam, was kommen musste.
Eurymachos behauptete, vom Kopf des Bettlers leuchte es hell wie von einer Fackel, ja, man könne dort nicht einmal das kleinste Härchen ausmachen.
„Ob dieser Schein von einem Gott kommt?" fragte Pelidos neben ihm unschuldig, schaute dann seinen Nachbarn an, um gleich darauf gemeinsam mit ihm in lautes, grölendes Lachen auszubrechen.
Eurymachos fuhr fort:
„Fremder, meinst du nicht, du könntest mir als Knecht dienen, irgendwo draußen auf dem Felde? Du würdest Lohn erhalten und könntest dafür Dornen sammeln und Bäume anpflanzen. Auch Nahrung, Kleidung und Schuhzeug würdest du bekommen..."
Er hielt inne, als müsse er sich das großzügige Angebot noch einmal durch den Kopf gehen lassen.
„Ach was! Wie solltest du Arbeiten gelernt haben? Kennst doch nur Streiche, die eines Schurken würdig sind! Ziehst es vor, hier herum zu schleichen und dir den Magen ohne Arbeit voll zu stopfen, nicht wahr?"
Der Bettler blieb ruhig.
„Ich soll nicht arbeiten können?" meinte er nur. „Hätten wir Frühling und das Gras wüchse, dann könnte jeder von uns beiden eine Sense zur Hand nehmen und zeigen, wie weit er kommt, ohne Pause zu machen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit."
Mit einem Blick vergewisserte er sich, dass man ihm zuhörte.
„Wir könnten aber auch um die Wette mit Rindern Furchen pflügen."
Herausfordernd stemmte er die Arme in die Seiten.
„Glaubt Ihr, ich würde zögern, mich im Krieg zu bewähren, mit einem passenden Helm und einer Lanze? Pah! Ich wäre bei jedem Getümmel in der ersten Reihe. Ihr würdet bald merken, dass ich nicht allein dem Magen gehorsam bin."
Er wartete einen Moment und trat dann ein Stück weiter auf Eurymachos zu.
„Ihr seid hart im Denken, voller Hochmut, und Ihr seid stolz darauf. Ihr alle glaubt, dass ihr Große und Mächtige seid. Woher wisst ihr das denn? Hier bleibt ihr doch unter euch und stellt euch keiner Auseinandersetzung. Glaubt mir: Käme Odysseus zurück, wären die breitesten Türen zu schmal für euch, denn ihr würdet ihm nicht entkommen!"
Der letzte Satz war vor allem an Eurymachos gerichtet. Man konnte beobachten, wie sein Gesicht weiß wurde vor Wut.
„Du scheinst betrunken zu sein!" schimpfte er und gestikulierte mit den Armen. Und dann griff er blitzschnell erneut nach dem Schemel und warf ihn mit voller Kraft nach dem Bettler. Der aber duckte sich ebenso schnell, und so traf es statt seiner den Wein einschenkenden Sklaven hinter ihm an der rechten Hand. Die Kanne und der Mann, der sie trug, fielen mit lautem Getöse zu Boden.
Bei den Freiern wurden jetzt Rufe laut:
„Er soll verschwinden, der elende Bettler, er bringt nur Unglück!" ,,Fort mit ihm!" „Wie lange soll das noch gehen!"
Telemachos, der dem Treiben mit wachsender Erregung beiwohnte, behielt gleichwohl die Selbstbeherrschung. Laut, aber in sachlichem Tonfall verkündete er vom Rand des Saales aus, ihr Zustand habe mit Raserei zu tun. Es klang wie die Diagnose eines Arztes, und als
eer die Frage hinzufügte, ob sie sich wirklich aufführen wollten wie Menschen, die sich nicht mehr unter Kontrolle hätten, verfehlte das seinen Eindruck nicht.
Ausgerechnet Amphinomos war es, der zustimmte, kaum dass Telemachos seine Rede beendet hatte. Nein, sagte er entschieden, für einen solchen Zornausbruch wie den von Antinoos gebe es wirklich keinen Grund! Es sei ungerecht, und zwar immer, ja immer! einen Gast oder einen Diener zu misshandeln! Er sagte es mit ungewohnter Eindringlichkeit und das Schweigen, das auf seine Worte folgte, war ein betretenes. Alle schienen einen Augenblick lang zur Besinnung zu kommen. Schließlich meinte Amphinomos:
„Lasst uns die Becher noch einmal füllen und dann in Ruhe nach Hause gehen. Telemachos mag sich um den Bettler kümmern. Schließlich ist ihm dieses Haus anvertraut."
Bei der letzten Bemerkung grinste er, jedoch keineswegs siegesgewiss. Man konnte ihm auch glauben, was er da von sich gab. Die Freier aber folgten seinem Vorschlag. Noch einmal ließen sie die Becher füllen, tranken sie rasch aus und brachen auf, um sich schlafen zu legen.
Als sie fort waren, kamen Telemachos und der Bettler auch wirklich zusammen, doch wären die Freier gewiss verwundert gewesen über das, was sie besprachen.
,,Am besten stecken wir ihre Waffen in die Kammer!" schlug der Bettler vor, und das war eine Antwort auf den von Telemachos vorgeschlagenen Wunsch, die Freier zu entwaffnen.
„Und wenn sie fragen? Womit sollen wir begründen, dass wir sie in die Kammer gebracht haben?" fragte er skeptisch.
„Wir könnten sagen, der ständige Rauch schade den Waffen. Außerdem sind sie betrunken und streiten sich. Du wolltest eben verhindern, dass sie sich gegenseitig die Köpfe einschlagen."
„Verhindern? Alles andere wollte ich verhindern, glaub mir! Aber du hast natürlich Recht: so könnte es gelingen."
Er rief die Amme Eurykleia herbei. Alle Frauen müssten in den Gemächern blieben, bis sie die Waffen in der Kammer hatten. Er gab sich bewusst schwatzhaft. Früher habe ihm das ja nichts ausgemacht, dass der Rauch die Waffen zusehends verderbe, da habe er andere Sorgen gehabt, aber jetzt sei er erwachsen und sehe ein, dass es in dieser Angelegenheit keinen weiteren Aufschub geben dürfe.
Bei der Amme fanden seine Worte uneingeschränkte Zustimmung. Sie habe sich schon lange gewünscht, dass er im Haus und im Hof für Ordnung und den nötigen Zusammenhalt sorge. ,
„Ich will Euch das Licht vorantragen, und wenn der Fremde mithilft, dauert es nicht so lange." 
„Der Fremde hilft mit“, bestätigte Telemachos, „aber deine Hilfe brauche ich nicht."
Als Eurykleia merkte, dass er sich von dieser Position nicht abbringen ließ, zog sie sich resigniert zurück und sperrte, wie geheißen, die Gemächer ab. So stand der Entwaffnung der Freier nichts mehr im Wege. Unbehelligt trugen Vater und Sohn Helme, Schilde und Speere ihrer Feinde in die abgelegene Kammer.
Telemachos spürte, dass dieser Augenblick eine Vorentscheidung im bevorstehenden Kampf brachte, und unvermittelt wurde ihm feierlich zumute. „Sieh nur, Vater, wie hell es ringsum leuchtet! Woher mag das kommen?"
Odysseus zog die Augenbrauen hoch.
„Es ist nicht klug, wenn man alles wissen will“, beschied er seinen Sohn. „Leg dich schlafen. Ich habe mir vorgenommen, die Mädchen ein wenig auszuhorchen, und vielleicht auch deine Mutter, wenn sie es zulässt."                                                                                               
Telemachos tat, was Odysseus gesagt hatte und legte sich schlafen. Aber anders als sonst fand er nicht so bald Ruhe, denn seine Gedanken kreisten unentwegt um die bevorstehende Abrechnung mit den Freiern. Sie würde nicht mehr lange auf sich warten lassen, das spürte er.

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Kommentare zu diesem Text

Graeculus (69)
(03.09.16)
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 ManMan meinte dazu am 05.09.16:
bei Homer ist nur von der Götterbotin Iris die Rede. Auch Iros versah Botendienste. Natürlich war es sarkastisch, seine Dienste mit denen der Götterbotin zu vergleichen. Eris ist bei Homer im 18.Gesang nicht gemeint. Aber du hast wahrscheinlich recht. Denk dir den Halbsatz einfach weg!Und danke für den Hinweis!
Graeculus (69) antwortete darauf am 05.09.16:
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