Bei Penelope

Text

von  ManMan

Kaum hatten Vater und Sohn den Saal mit den letzten Waffen im Arm verlassen, da betrat Penelope ihn. Auf ihre Anweisung hin rückten zwei Sklaven den elfenbeinernen Lehnstuhl, ein wahres Prunkstück, mit Silber beschlagen und einstmals vom berühmten Meister Ikmalios gedrechselt, in die Nähe des Feuers.
Sie kannten das schon, es war nicht das erste Mal, dass ihre Herrin die Abwesenheit der Männer nutzte, um sich ans Feuer zu setzen, auch wenn diese nächtliche Stunde ungewöhnlich und das Feuer fast vollständig heruntergebrannt war. Penelope ließ die herbei eilenden Mädchen abräumen, was vom Essen übrig geblieben war. Aus den Leuchten holten sie brennende Reste heraus und benutzten sie, um den neu errichteten Holzscheiterhaufen anzuzünden.
Penelope nahm Platz und starrte gedankenverloren auf das knisternde Holzfeuer zu ihren Füßen. Sie genoss die Ruhe. Allerdings währte die nicht lange, Denn eine gewisse Melantho wollte sich nicht damit abfinden, dass der Bettler sich wieder auf der Türschwelle niederließ. Sie ging auf ihn los, als wolle sie ihn eigenhändig vertreiben und fragte zeternd, was er überhaupt hier suche.
„Drückst dich hier herum, weil du die Weiber begaffen willst, wie? Ich sage dir“, sie drohte mit der Faust, ,,hau ab von dieser Tür, mach dich über dein Essen her und sieh zu, dass es kein herumfliegendes Stück Holz ist, das dich von hier vertreibt!"
Der Bettler aber hatte gemerkt, dass sich die Gelegenheit bot, mit Penelope ins Gespräch zu kommen. So war das, was er auf Melanthos Herausforderung erwiderte, auch mehr an jene gerichtet als an das keifende Weib.
„Es ist hart und ungerecht, mich so zu behandeln“, klagte er, „Bettler bin ich nur, weil mich die Not dazu zwingt. Früher ging es mir besser, 0 ja! das könnt Ihr mir glauben! In einem reichen Palast habe ich gewohnt, unzählige Sklaven standen mir zur Verfügung. Aber dann ließ Zeus es zu, dass alles zunichte wurde. Wartet ab, solch ein Schicksal kann auch Euch treffen, wenn Eure Herrin einmal nicht mehr so gut auf Euch zu sprechen ist!"
Er machte eine Pause und nachdem er sich vergewissert hatte, dass Penelope seinen Worten folgte, fuhr er fort:
„Und erst wenn der König wiederkommt! Er wird erfahren, was Ihr und die anderen Frauen sich in seiner Abwesenheit herausgenommen haben, sein Sohn wird es erzählen."
Penelope erhob sich und ging auf Melantho und den Bettler zu.
„Er hat Recht“, bestätigte sie heftig, ,,mir sind alle Schandtaten bekannt, die ihr begangen habt und ihr werdet sie büßen, wenn die Stunde gekommen ist!"
Melantho grinste bloß verächtlich. Solche Drohungen interessierten sie nicht.
Penelope aber wandte sie sich dem Bettler zu:
,,Ich bitte Euch, kommt zu mir ins Gemach, damit Ihr erzählen könnt, was Ihr über meinen Gatten erfahren habt."
„Gerne“, antwortete der Bettler. Bereitwillig folgte er der Hausherrin nach oben.
Es war eine große Ehre, die ihm zuteil wurde, und hätten sie es mitbekommen, wären die Freier empört gewesen über die Bevorzugung dieses fremden Mannes.
Als der Bettler oben eintrat, hatte Penelope bereits einen Sessel herbeigeholt und Felle darauf ausgebreitet. Sie bat ihn, Platz zu nehmen.
„Ihr könnt Euch denken, was ich von Euch möchte“, sagte sie, als sie ihm gegenüber saß.
„Aber bevor Ihr erzählt, was Ihr von meinem Gatten gehört habt, sagt, wer Ihr seid. Woher kommt Ihr, wer sind Eure Eltern?"
„Woher ich komme?" Der Bettler suchte Zeit zu gewinnen.  „Natürlich dürft Ihr fragen. Das ist Euer gutes Recht, zumal Ihr ein Ansehen genießt, wie es sonst nur einem König zukommt.“
„Also: wie ist Eure Antwort?"
„Ich bitte Euch, fragt mich andere Dinge, alles, was Ihr wollt, nur bitte nicht nach meiner Heimat und nach meiner Herkunft. Der Jammer ist auch so groß genug."
Penelope sah ihn verwundert an. Ein merkwürdiger Bettler war das!
„Wie kommt Ihr übrigens darauf, dass ich ein so hohes Ansehen genieße? Ihr wollt mir schmeicheln, nicht wahr? Aber Ihr vergesst, was geschehen ist und was immer noch geschieht, Tag für Tag!"
Sie erhob sich und machte ein paar Schritte, bis sie ganz nah vor dem fremden Mann stand.
„Seit die Achäer nach Troja gezogen sind, bin ich eine andere geworden. Ich lebe mit dem Gefühl, dass ein Dämon unablässig neues Unheil schickt. Oft weiß ich nicht, wie ich das aushalten soll, so grausam ist es!"
Sie hielt inne. Ihr wurde mit einem Mal bewusst, dass sie sich einem Fremden offenbarte, in einer Weise, die dieser als unziemlich empfinden könnte. Rasch setzte sie sich wieder in den Sessel.
,,Es ist wirklich nicht einfach für mich!" beteuerte sie schwer atmend.
Der Bettler zeigte Verständnis.
„Das glaube ich. Sagt mir, wie habt Ihr es geschafft, diese aufdringlichen Freier so lange hinzuhalten?"
„Nicht wahr, da staunt Ihr!"
Sie nickte zufrieden und reckte stolz die Brust vor. Unversehens erkannte Odysseus vertraute Züge. So hatte er seine Penelope in Erinnerung: als eine starke Frau, die nicht gleich anfing zu jammern.
„Ich habe mir eine List ausgedacht, müsst Ihr wissen...ach was! warum erzähle ich Euch das alles, wo Ihr mir nicht einmal Eure Herkunft kundtun wollt?"
Ja, hartnäckig sein konnte sie auch, das wusste er.
„Wenn Ihr so drängt“, gab der Bettler nach, „erzähle ich Euch eben auch von mir."
Er zögerte einen Moment. ,,Also: welche List ist Euch eingefallen?"
Es folgte die Geschichte von dem mächtigen Webstuhl, den sie im Palast hatte aufstellen lassen. Ein großes Tuch wolle sie noch weben, teilte sie den Freiern mit, ehe sie sich für einen von ihnen entscheide.
„Für den alten Laêrtes sollte das Tuch sein, wenn seine Tage gezählt wären. Nun, tagsüber webte ich auch eifrig..."
Bei dem Gedanken musste sie lachen.
„Keiner kam auf die Idee, dass ich nachts heimlich wieder auftrennte, was am Tag dazugekommen war! Und wer weiß, ob sie nicht noch heute ahnungslos wären, hätte nicht eines der Mädchen, das mit ihnen herum gehurt hat, ihnen die Wahrheit gesteckt. Immerhin habe ich aber drei Jahre gewonnen."
Drei Jahre. Wie sie das sagte: als handele es sich um eine Kleinigkeit. Dabei hatten ihr diese Männer die Jahre gestohlen. Und verlorene Jahre geben die Götter den Sterblichen nicht zurück, dachte der Bettler.
„Ihr scheint sehr tapfer zu sein“, meinte er.
„Ich habe es gelernt“, sagte sie schlicht und sah ihn eindringlich an. „Jetzt aber ist es an Euch, das Versprechen einzulösen. Wer seid Ihr und woher kommt Ihr?"
Der Mann seufzte.
„Nun gut, ich habe versprochen, dass ich Auskunft geben will. Aber glaubt mir: meinen Schmerz lindert Ihr dadurch nicht!"
Sie gab keine Antwort.
„Ich stamme aus Kreta. Ihr habt gewiss von dieser großen Insel gehört. Dort gibt es 90 Städte, und in jeder spricht man eine andere Sprache! Ein wahres Völkergemisch mit Achäern, Eteokretern, Dorern, Kydonen und Pelasgern. Die größte Stadt ist Knossos. Dort hat Minos geherrscht. Alle neun Jahre empfing er Ratschläge und Gesetze von Zeus, denn er war sein Vertrauter. Minos hatte einen Sohn, der Deukalion hieß. Der wiederum zeugte zwei Söhne. Idomeneus, der als Verbündeter der Achäer nach Troja zog, und mich. Ich heiße Aithon und bin der jüngere Bruder."
„Und Odysseus? Was ist mit ihm?"
„Auf dem Weg nach Troja hat es ihn nach Kreta verschlagen. Er wollte zu Idomeneus, doch der war bereits zehn Tage vorher nach Troja aufgebrochen. Also nahm ich ihn auf und gab ihm Geschenke. Zwölf Tage blieben er und seine Gefährten, weil ein heftiger Nordwind nicht zuließ, dass sie abreisten. Erst am dreizehnten Tag legte er sich und sie fuhren davon. Seit jenem Tag habe ich nichts mehr von ihm gehört."
Er schwieg und wartete ab. Ob sie ihm die Geschichte glaubte? Immerhin war ein beachtlicher Teil frei erfunden.
Penelope aber trieb die Vorstellung, dass Odysseus noch lebte und wiederkommen könnte, die damit verbundene Hoffnung, das Unglück der letzten Jahre könnte bald ein Ende haben, Tränen in die Augen. Es dauerte eine Weile, bis sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Dann beschloss sie, die Glaubwürdigkeit des Fremden auf die Probe zu stellen.
,,Könnt Ihr mir sagen, welche Kleidung der König von Ithaka getragen hat?"
„Genau weiß ich es nicht mehr, inzwischen sind ja zwanzig Jahre verstrichen“, gab der Bettler mit unschuldiger Miene zu bedenken.
„Trug er einen Mantel?"
„Ja, jetzt, wo Ihr es sagt, erinnere ich mich.. Er trug einen gefütterten, purpurfarbenen Mantel, der mit einer doppelt verschließbaren, goldenen Spange versehen und vorne mit Gesticktem verziert war..."
,,Könnt Ihr die Spange genauer beschreiben?" unterbrach Penelope ihn aufgeregt.
,,Ein Hund war auf ihr abgebildet, einer, der mit den Vorderpfoten ein Hirschkalb festhielt, das sich wehrte."
Penelope nickte langsam.
„Könnt Ihr etwas über die Männer sagen, die in seiner Begleitung waren?"
Einer von ihnen hatte runde Schultern, eine dunkel gebräunte Haut und wollige Haare. Sein Name war Eurybates. Er war es, den Odysseus mehr als alle schätzte."
Erst seufzte Penelope tief, dann beugte sie sich vor, und barg das Gesicht in den Händen. Die Stille war Odysseus unerträglich, doch er schwieg, denn die Gefahr, sich vorzeitig zu offenbaren, war groß. Der richtige Zeitpunkt war noch lange nicht gekommen.
Nach einer Weile wischte sie mit einem Tuch die Tränen aus dem Gesicht und sah ihn mit verquollen Augen an, so dass ihm das Herz brechen wollte. Dann sagte sie tapfer:
„Ich selber habe ihm aus der Kammer die Kleider mit der Spange gegeben, ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen."
Erneut starrte sie ihn mit geweiteten Augen an. Einen Augenblick lang fürchtete der Bettler, sie könnte ihn erkennen. Aber sie brach nur erneut in Tränen aus und brachte schließlich schluchzend hervor;
„Ich werde ihn niemals wieder sehen, niemals! Ja, ich weiß es genau! Er ist in das Land gefahren, wo Tod und Verderben zu Hause sind!"
Wie gern hätte er jetzt seine Frau in den Arm genommen und gesagt: Ich bin es, ich bin es doch, der vor dir sitzt, ich lebe, du brauchst nicht zu verzagen...
Stattdessen meinte er nur:
,,Ihr werdet ihn wieder sehen, damit rechne ich fest."
,,Dass Ihr ihn gesehen habt, glaube ich Euch ja, aber das war, bevor er nach Troja zog."
Odysseus schluckte. Ich treibe ein gefährliches Spiel, dachte er. Laut sagte er:
,,Dass der König am Leben ist, habe ich kürzlich von thesprotischen Männern gehört."
Entgeistert starrte sie ihn an.
,,Kürzlich? Von thesprotischen Männern? Und das sagt Ihr mir erst jetzt?"
„Setzt Euch“, meinte er begütigend, „ich will ja alles erzählen."
Als sie seinem Wunsch nachgekommen war, begann er: I
Odysseus habe alle Gefährten verloren, denn diese hätten auf der Insel Thrinakia den Frevel begangen, die Rinder des Sonnengottes zu töten, und dafür hätten Zeus und Helios sie bestraft. Alle seien mit dem sinkenden Schiff zugrunde gegangen, nur Odysseus habe sich retten können. Er sei dann zu den Phaiaken gekommen, die ihn freundlich empfangen und ihm Geleit gegeben hätten. Inzwischen wäre er vielleicht schon hier, wenn er sich nicht entschlossen hätte, noch einige Schätze zu erwerben. Auf diesem Gebiet müsse seine besondere Stärke liegen, verriet der Bettler im Plauderton, denn auch bei Pheidon, dem thesprotischen Fürsten habe er viele Kostbarkeiten zurückgelassen. Dieser habe ihm zugesichert, das Schiff, das Odysseus nach Ithaka bringen werde, liege bereit und auch eine Mannschaft könne jederzeit angeworben werden. Doch Odysseus habe das Angebot abgelehnt. Er wollte erst nach Dodona zum Zeus-Orakel, um sich Rat zu holen, wie er am besten zurückkehren solle, heimlich oder vor aller Augen.
„Er wird bald kommen, glaubt mir, ich denke, noch in diesem Jahr“, schloss er und fragte sich, ob er nicht zu viel erzählt hatte. Bis er das Leuchten in ihren Augen sah.
„Wer hat Euch geschickt!" jubelte sie. „Ich will Euch mit Geschenken überhäufen, wenn Ihr Recht behaltet. Jedermann soll Euch glücklich preisen!"
Plötzlich brach sie ab.
„Aber wenn es nicht stimmt? Wenn er doch nicht wiederkommt?"
Erneut begann sie zu schluchzen. Dann besann sie sich und rief eine Sklavin herbei.
„Dieser Fremde ist mein Gast. Man möge ihm die Füße waschen. Er bekommt ein Bett mit Kissen und Decken."
Sie sagte es zu einer jungen, hoch gewachsenen Sklavin, schaute aber den Bettler dabei an und fuhr fort:
„Morgen sollt Ihr im Saal neben Telemachos zu sitzen kommen. Und es soll keiner wagen, Euch zu kränken oder gar Euer Leben zu bedrohen, wenn er kein Hausverbot bekommen will! Das bin ich Euch schuldig, Ihr! Oder glaubt Ihr, nach dem, was Ihr mir erzählt habt, lasse ich Euch ungewaschen, schlecht gekleidet und ohne Essen vorm Hauseingang sitzen?"
Der Bettler aber winkte ab.
„Nein, lasst nur, Bett und Kissen sind mir längst ein Gräuel geworden, so lange schlafe ich schon ohne sie. Und wer sollte mir die Füße waschen? Etwa eine der Frauen hier im Palast?" Er schüttelte den Kopf. „Dazu wird es nicht kommen, denke ich. Das heißt..."
„Ja?"
,,Höchstens ein altes Weib, das schon viel erlebt und erduldet hat..."
Penelope nickte eifrig.

„Ja, so eine haben wir, natürlich. Sie hat schon Odysseus in den Armen gehalten, als er gerade auf der Welt war, sie hat ihn genährt und erzogen." Sie wandte sich an die wartende Sklavin. ,,Ruf Eurykleia herbei, rasch!"
„Jetzt gleich?" vergewisserte diese sich erstaunt.
,,Ja, tu was ich dir sage!"
Es dauerte eine Weile, dann kam eine verschlafene alte Frau herbei und fragte nach den Wünschen der Herrin.
„Du sollst diesem Mann, einem Freund von Odysseus, die Füße waschen“, ordnete Penelope an, und die Alte begann, ohne viel nachzufragen, mit den nötigen Vorbereitungen. Penelope zog sich zurück.
Während die Alte eine Schüssel, Wasser und Tücher herbeiholte, klagte sie vor sich hin:
„Ach Odysseus, mein Söhnchen, wärst du es doch selber! Wie gern würde ich dir helfen, aber was kann ich schon gegen Zeus ausrichten. Dabei warst du immer so fromm, hast ihm so viele Opfer dargebracht."
Zeitweise schien sie die Anwesenheit des Bettlers vergessen zu haben. Dann blieb sie stehen und wandte sich direkt an ihn:
„Auch er wird in der Fremde den Spott von Weibern kennen gelernt haben, so wie Ihr. Ich verstehe, dass Ihr Euch von ihnen nicht die Füße waschen lasst. Ich tu es gern, nicht bloß, weil die Herrin es befiehlt."
Sie sah ihn, der den Tränen nahe war, forschend an
,,Es waren schon viele Fremde hier, aber mir ist keiner begegnet, dessen Gestalt, Gang und Stimme Odysseus so sehr glich."
,,Ja“, bestätigte der Bettler so unbefangen wie möglich, „das mag sein."
Jetzt holte Eurykleia das Becken herbei, in dem sie Füße zu waschen pflegte, eine Kupferschüssel, die im Schein des Herdfeuers glänzte und füllte sie mit warmem und kaltem Wasser. Der Bettler rückte unbemerkt ein Stück weiter, wo der Feuerschein nicht so hell war.
Die Narbe! dachte er. Sie wird sie wieder erkennen! Ein Mal, das er sich zugezogen hatte, als er mit dem Großvater auf der Jagd nach einem Eber war. Ehe er ihn mit dem Speer durchbohren konnte, hatte das große, kräftige Tier ihm mit den Hauern kurz über dem Knie ein Stück Fleisch herausgerissen.
Die Amme, die nicht gut sehen konnte, machte sich an ihre Aufgabe. Dabei sagte sie kein Wort, so beschäftigt war sie. Ihr Gesicht war über die Beine des Mannes gebeugt. Nur das Plätschern vom Wasser war zu hören. Auf einmal hielt sie inne. Ihre Finger glitten prüfend über die Stelle, an der die Narbe war, einmal, zweimal.
Mit einer heftigen Bewegung stieß sie den Fuß zurück. Dröhnend kippte das Becken um, das Wasser rann auf den Boden.
„Du bist es, mein Odysseus“, rief sie ,,Ja, ja du selber bist es, oh, ich muss dich anfassen, damit ich es glauben kann."
Zärtlich strich die fast blinde, alte Frau über sein Knie, bis sie Gewissheit hatte, und dann war sie nicht mehr zu halten. Hätte Odysseus ihr nicht mit der Rechten grob an die Kehle gegriffen, so hätte sie gewiss in ihrem Überschwang aller Welt kundgetan, dass er, den sie liebte wie eine Mutter ihr Kind, wieder hier war.
Odysseus zog mit der Linken ihr Ohr dicht vor seinen Mund.
„Schweig und stürze mich nicht ins Verderben! Keiner der Freier darf erfahren, dass ich hier bin, keiner! Andernfalls..." er hielt inne und sah sie streng an: ,,Ich werde auch dich bestrafen, obwohl du meine Amme bist."
Sie hatte sich aber längst gefasst und beruhigte ihn. Eisern werde sie den Mund halten, versprach sie, ja, mehr noch. Im Flüsterton fügte sie hinzu:
,,Die Namen all jener Frauen will ich dir sagen, die dir nicht treu geblieben sind und es mit den Freiern getrieben haben."
Odysseus winkte ab.
„Nicht nötig, Mütterchen, das erledige ich selbst. Denke du nur daran, dass du schweigst!"

Später saß er dann wieder mit Penelope am Feuer. Sie hatte ihre Zurückhaltung vollends aufgegeben.
„Am Tag ist es nicht so schlimm, da finde ich Ablenkung“, sagte sie, „aber nachts kommen immer wieder dieselben Fragen, und ich kann nichts dagegen tun."
„Welche Fragen?" erkundigte sich der Bettler teilnehmend.
„Die erste ist die, ob ich überhaupt hier bleiben und alles lassen soll, wie es ist. Die nächste: Soll ich meinem Gatten die Treue halten oder einem der Freier das Jawort geben?"
,,Erwägt Ihr das ernsthaft?"
Penelope zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht habe ich bald keine Wahl mehr. Als Telemach klein war, verbot es sich von allein, aber jetzt ist er erwachsen. Er hat bereits von mir gefordert, ich sollte in das Haus meiner Eltern zurückkehren, wenn ich die fremden Männer sonst nicht loswürde. Er fürchtet um seinen Besitz und um sein väterliches Erbe."
Der Bettler nickte verständnisvoll.
Wie es um ihre Nachtruhe bestellt sei, erkundigte er sich und gähnte dabei herzhaft. Aber die Frau nahm den Hinweis nicht zur Kenntnis.
„Ach, ich schlafe wenig. Und wenn doch, dann immer wieder diese Träume..."
„Welche Träume?"
„Neulich waren im Traum 20 Gänse bei mir. Sie pickten Körner und tranken Wasser, gierig, aber durchaus friedlich. Dann kam aus den Bergen ein gewaltiger Adler herbei, größer als andere. Wenn ich allein an den großen, krummen Schnabel denke!"
,,Ein Adler, der angriff?"
„Ja, er griff die Gänse an. Einige wollten entfliehen, aber keine schaffte es. Er war so schnell und so stark! Ach, er brach ihnen den Hals, überall lagen getötete Tiere. Ich stand weinend dabei, umringt von anderen Frauen, die mit mir über den grausamen Vogel klagten. Dieser war inzwischen verschwunden, aber nach einer Weile kam er zurück. Wir dachten schon, jetzt wolle er uns angreifen, da setzte er sich auf den First des Daches und begann zu reden wie ein Mensch. Es war die Stimme eines Mannes, die mir sagte, ich solle stark sein..."
,,Die Stimme eines Mannes? Welches Mannes?"
„Das konnte ich zunächst nicht genau erkennen. Die Stimme sagte, den Männern, die mich bedrängten, würde es ergehen wie den Geiern. Und da wusste ich auf einmal, dass es die Stimme von Odysseus war, und da wurde aus dem Vogel ein Mann, aber dann..."
Sie brach ab und schwieg, sichtlich erschüttert.
Der Bettler drängte:
„Was war dann? Wollt Ihr es nicht erzählen?"
„Viel bleibt nicht mehr zu erzählen“, gab sie zur Antwort und zuckte mit den Schultern. „ Ich wollte mir den Mann ansehen, aber dann wachte ich auf, und es war vorbei mit dem Traum."
,,Ja“, bestätigte der Bettler nachdenklich, „so geht es bei mir auch oft. Ich ärgere mich dann so sehr darüber, dass ich aufwache."
Er musste an die Frauen im Boot denken, als er im Meer schwamm, und als es Penelope war, die ihm die rettende Hand reichte. Vielleicht erzähle ich ihr später davon, dachte er. Er sagte:
„Anscheinend wollte der Traum Euch sagen, dass Euer Gatte bald zurückkommt und es den Freiern dann wie den Gänsen in Eurem Traum ergeht. Würde Euch das gefallen?"
„Gefallen?" Sie sagte es voller Verbitterung. „Es wäre mein sehnlichster Wunsch! Aber was sind schon Träume! Wenn in ihnen etwas nach Wunsch verläuft, geht es im Leben bestimmt nicht so."
Wieder schwieg sie nachdenklich, und der Mann wartete und starrte in das Feuer, das fast gänzlich niedergebrannt war.
„Wisst Ihr“, begann sie erneut, „vielleicht wollen die Träume mir sagen, dass ich diesen Ort verlassen soll."
Sie setzte sich mit plötzlicher Entschlossenheit auf.
„Ich werde einen Wettkampf ansetzen. Alle zwölf Äxte lasse ich aufstellen, eine hinter der anderen, als wären es Stützen aus Eichenholz, wie man sie beim Schiffsbau benötigt. Dann sollen sie einen Pfeil nehmen und ihn hindurch schießen. Wer alle zwölf Äxte durchbohrt, dem will ich folgen."
Odysseus horchte auf. Die Idee war gut. Nach seiner Erfahrung würde keiner der Freier dazu imstande sein...
„Vielleicht kommt Euer Mann zurück, ehe es einer von ihnen schafft“, sagte er leichthin. Dann gähnte er erneut, und diesmal übersah Penelope es nicht.
„Kein Mensch kommt ganz ohne Schlaf aus." meinte sie. „Ich sehe, Ihr seid müde. Am besten ziehe ich mich zurück."
Sie musterte ihn prüfend.
„Und Ihr wollt kein anderes Lager?"
Der Bettler schüttelte energisch den Kopf. ,,Mir reichen die Schafsfelle, die in der Ecke liegen."
Er ging wieder nach unten, nahm ein Stück ungegerbte Rinderhaut als Unterlage und deckte sich mit reichlich vorhandenen Fellen zu. Es waren Felle von Schafen, die den Freiern als tägliches Opfer dienten.
Dann legte er sich hin. Etwas später kam Eurynóme, die Verwalterin des Palastes, um nach ihm zu schauen. Sie deckte ihn mit einem weiteren Fell zu.

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