42 Der Jätti ist verschwunden! [42]

Schundroman

von  DIE7

Die Tage gingen ins Land. Der Jätti entpuppte sich als wirklich scheues Geschöpf. Tagsüber traute er sich nicht einmal, die Nasenspitze aus der Ruine zu halten, nachts unternahm er kurze Streifzüge, die sich jedoch auf das unbeleuchtete Hinterland des Hafens Jesterfields beschränkten.

Fynn Lander organisierte den beiden Lebensmittel aus Abfalltonnen und den Lagern, hin und wieder fand er eine Tür unverschlossen und gelangte ins Innere der Lagerhäuser, wo er sich aus unverschlossenen Containern und den Kühlschränken der Mannschaftsunterkünfte bediente, immer so bescheiden, dass nicht auffiel, wenn etwas fehlte. Und wenn doch, so hatten die rauen Hafenarbeiter eher ihresgleichen als einen Fremden in Verdacht.

Das Hündchen wich Fynn nicht mehr von der Seite. Der Jätti hatte sich zwar anfangs interessiert gezeigt, doch bald zog er vor, den Kleinen zu ignorieren anstatt ihn zur Abwechslung seiner überwiegend vegetarischen Kost auf die Speisekarte zu setzen. Der Hund wiederum kläffte den streng riechenden Riesen nicht mehr an, sondern begnügte sich mit einem wenig einschüchternden Knurren, wenn der Jätti ihm zu nah kam. Vor allem dann, wenn er sich neben den schlafenden Lander eingerollt hatte und dessen Schlummer bewachte.

Manchmal sah Lander den Jätti in Begleitung des Pflaumenkopfs. Das schimmernde Wesen glitt neben dem Jätti bei dessen nächtlichen Ausflügen über die grasbewachsene Ödfläche, ohne eine Spur zu hinterlassen.

Spur. Fynn Lander erschrak. Was, wenn’s zu Schneien begönne? Liegt erst einmal Schnee, wirds bald vorbei sein mit der Ruhe. dachte Lander. Die riesigen Pratzen des Jätti werden Neugierige in die Ruine führen. Wenn auch nur einer von denen nach Alkohol stinkt, herumschreit oder ihn grob behandelt, wird der Jätti ihn in Stücke reißen wie die Rabauken, die ihn quälten, als er noch in seiner Kiste eingepfercht saß und der Typ mit der Nikolausmütze auftauchte.

Noch immer zermarterte Fynn sich das Hirn, wie er den Jätti ohne Aufsehen zu erregen zurück ans Nordkap an den Korvatunturi bringen könnte. Er brauchte dazu etwas, dass den Pflaumenköpfen als Vehikel für einen Zeit/Raumsprung dienen konnte. Außerdem musste er den Jätti hineinbekommen. Das würde das größere Problem sein.
Der Seemann zweifelte, ob der Wildling sich noch zutraulicher zeigen würde als bisher. Fynn war froh, dass der Jätti weder vor ihm weglief noch ihm mit einer Bewegung aus dem Handgelenk heraus den Kopf abriss. Das Obst und Gemüse, das er dem Jätti mitbrachte, legte er immer in der Nähe seiner Schlafstelle ab, der Jätti kam und bediente sich, suchte jedoch nie die Nähe des Menschen, selbst wenn der ihm mit ruhiger, sonorer Stimme gut zuredete.

Allmählich jedoch wurde der Jätti zutraulicher. Ob der Pflaumenkopf dabei seine Hand im Spiel hatte? Er schien auf den Jätti einen stabilisierenden, befriedenden Einfluss zu haben. Auch wenn Fynn Lander nie verstehen konnte, was die beiden mit einander beredeten, wenn überhaupt, so wurde allein schon aus der Körperhaltung des Jätti und seinem wohligen, manchmal heiterem Grunzen deutlich, dass er sich wohl fühlte und entspannte. Warum nur hatte der Pflaumenkopf, der ihn, Lander, in Sekundenbruchteilen die Informationen aus hunderten von Jahren Geschichte, Kultur- und Technikentwicklung hatte übertragen können, nicht zugleich das nötige Wissen zum Umgang mit dem Jätti zukommen lassen? Zumindest die Sprache wäre für den Anfang gut gewesen. Denn die beiden Gestalten unterhielten sich nicht auf Finnisch, das war klar. Eine sonderbare, kehlige Sprache voller Vokale wars, mit der sich die beiden unterhielten, doch schienen sie ohne viele Worte auskommen zu können.

Den Pflaumenkopf konnte Fynn nicht fragen, denn ihm hatte der sich seit der Begegnung im Lagerhaus nicht mehr gezeigt.

Die heutige Vollmondnacht sollte eine Überraschung für Fynn Lander bereithalten. Wie üblich schaute er nachdem Aufwachen nach dem Jätti, doch dessen Lager war leer und bereits ausgekühlt – und vom Fenster aus war draußen weit und breit kein Jätti auszumachen. Fynn Lander schlüpfte hastig in seine Wolljacke und stiefelte ins Freie: Nichts. Der Jätti war spurlos verschwunden.

Der wird doch nicht etwa …

Fynn Lander mochte diesen Gedanken nicht zu Ende denken, doch er brach unverzüglich auf in Richtung Stadt.

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Kommentare zu diesem Text

LudwigJanssen (54)
(21.12.09)
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