Der Bogen

Text

von  ManMan

Einstmals hatte Pandareos einen Hund gestohlen, einen goldenen Hund, jenen, der die Heilige Grotte des Zeus auf Kreta bewachte. Zeus verwandelte den Dieb in einen Felsen. Allerdings waren jetzt seine Töchter verwaist. Deshalb kümmerte sich Aphrodite um sie, brachte ihnen reichlich Käse, Honig und Wein. Hera sorgte dafür, dass sie mehr Verstand hatten als andere Frauen und ein auffallend gutes Aussehen. Artemis verlieh ihnen eine gute Figur und Athene
förderte ihre künstlerische Begabung. Doch als Aphrodite bei Zeus vorstellig wurde, um die Töchter des Pandareos glücklich zu verheiraten, zeigte sich, dass er nachtragend war. Er ließ die Mädchen von Harpyien durch die Luft entführen
zu den heulenden Erinnyen. Deren Dienerinnen mussten sie fortan sein. Gab es ein grausigeres Schicksal?

Penelope dachte häufig an diese Geschichte. Inzwischen fand sie ihr eigenes Schicksal allerdings schlimmer als das der Töchter des Pandareos. Wäre nicht selbst der tödliche Pfeil vom Bogen der Artemis besser? Dann würde sie ihren geliebten Mann wenigstens in der Unterwelt wieder sehen, und vor allem müsste sie sich keinem anderen hingeben.
Wenn sie doch nachts Ruhe fände! Mit der Aussicht auf nächtlichen Schlaf wären die langen, tränenreichen Tage besser zu überstehen, glaubte sie. Stattdessen quälende Träume. Etwa jenen von Odysseus, der neben ihr im Bett lag, in derselben Gestalt, die er bei der Abreise hatte. Ja, dann freute sie sich und fühlte sich wohl! Bis sich herausstellte, dass es wieder einmal ein Traum war und die Wirklichkeit eine andere.
Am Morgen, als die Sklavinnen längst aufgestanden waren und begannen, Vorbereitungen zu treffen für das, was bevorstand, lag sie noch immer auf ihrem Lager und wälzte sich ruhelos hin und her.

Telemachos war bereits auf, hatte sich angekleidet, die Sandalen unter die Füße gebunden und den Speer genommen. Unten im Saal sah er Eurykleia.
„Wie geht es dem Fremden?" erkundigte er sich bei ihr. ,,Fehlt es ihm an nichts?"
,,Nein. Er hat Wein getrunken und wollte nichts mehr essen, als ich ihn fragte. Die Herrin wollte ihm ein Bett aufbauen lassen, doch das lehnte er ab und beharrte darauf, im Vorraum auf Fellen zu nächtigen."
Telemachos erwiderte nichts, sondern verließ den Saal, begleitet von zwei Hunden. Eurykleia wandte sich an die Frauen. Bald würden die Männer kommen und heute sei ein Festtag. Sie sollten rasch die Tische abwaschen, Decken darauf legen, die Mischkrüge für den Wein säubern und Wasser von der Quelle holen. Kurz darauf machten sich einige Frauen auf den Weg zur Quelle, während die Übrigen im Palast tätig wurden, sich um die Tische und Bänke kümmerten und den Boden fegten, wie Eurykleia es ihnen aufgetragen hatte. Zwei Männer zerkleinerten Holz für das Feuer.
Bald kamen die Frauen mit dem Wasser zurück, und zeitgleich mit ihnen traf auch Eumaios ein. Er brachte drei Schlachttiere mit. Als er in den Saal kam, begegnete er Odysseus.
,,Nun“, fragte er neugierig, „wie werdet Ihr von den Männern behandelt? Haben sie sich gebessert?"
„Gebessert?" Odysseus warf den Kopf ungläubig nach hinten. „Wie sollten sie.." Mitten im Satz unterbrach ihn eine bekannte Stimme:
,,He, Fremder! was treibst du hier?" schimpfte Ziegenhirt Melanthios, der gekommen war, um den Freiern ein Tier zu bringen, „willst hier betteln und die Herren im Haus verärgern, wie? Weißt du nicht, wo der Ausgang ist!" Er hob die geballte Faust. „Wir beiden haben noch eine Rechnung zu begleichen!"
Der Bettler ließ sich aber nicht herausfordern, sondern schüttelte lediglich den Kopf. Seine finsteren Gedanken konnte glücklicherweise niemand sehen.
Ein weiterer Hirte kam herbei, der Rinderhirte Philoitios, der den Freiern eine Färse und eine fette Ziege brachte. Der Hirte und die Tiere kamen vom Festland und waren von Fährleuten übergesetzt worden.
Philoitios band die Tiere an und begrüßte Eumaios. Sie standen ein wenig abseits.
Wer denn der Fremde sei, wollte er wissen. Er sehe ja arg mitgenommen aus, aber seine Gestalt mache irgendwie einen aristokratischen Eindruck, da lasse er, Philoitios, sich nicht täuschen! Sprach's und ging, ohne die Antwort abzuwarten, zu dem Bettler hin. Er gab ihm die Hand und sagte:
„Ihr seht nicht aus wie jemand, der vom Glück verwöhnt ist. Aber ich denke, Ihr habt auch einmal bessere Zeiten erlebt."
Er hielt inne, betrachtete sein Gegenüber von oben bis nach unten und fuhr dann fort:
„Wisst Ihr, an wen ich zuerst denken musste, als ich Euch sah?"
Er blickte sich um und sagte dann mit leiserer Stimme:
„Ich habe an den edlen Odysseus denken müssen, wisst Ihr? Er wird auch irgendwo in der Fremde umherirren, vielleicht in ähnlicher Kleidung. Oder er ist bereits im Hades..."
„Meint Ihr?" fragte der Bettler mit gerunzelter Stirn.
„Wer weiß? Ich kenne niemanden, der darüber Auskunft geben kann. Vor vielen, vielen Jahren hat er mir ja die Rinder anvertraut, obwohl ich noch sehr jung war und auf dem Festland bei den Kephalienern aufwuchs. Ach, aus wenigen Tieren ist längst eine stattliche Herde geworden, und der Herr hätte seine Freude daran." Er seufzte.
„Weniger Freude hätte er, wenn er wüsste, dass ich gezwungen werde, die besten Tiere aus seiner Herde den fremden Männern zu geben!"
Sein Gesicht verzog sich, dann spuckte er hasserfüllt auf den Boden.
„Ich kann es kaum noch mit ansehen, wie sie sich hier aufführen! Wäre der Sohn nicht da, hätte ich mich längst mit der Herde davongemacht, das könnt Ihr mir glauben!"
„Glaubt Ihr nicht, dass der König zurückkehren wird?"
„Ach, ich weiß nicht. Wenn ich meinem Gefühl glauben darf, gibt es diese Hoffnung noch. Manchmal träume ich sogar, dass er zurückkommt und die Männer davonjagt."
,,Mancher Traum wird unversehens Wirklichkeit..."
,,Ach Fremder" seufzte Philoitios, "Ihr redet kühn! Aber..." sein Gesicht wurde grimmig. „Glaubt mir, meine Fäuste würden bei der Abrechnung mithelfen!"

Die Freier waren wieder einmal uneins. Der Grund dafür hieß Telemachos. Natürlich wollten sich alle gerne seiner entledigen, aber waren die Erfolgsaussichten nicht gering? War es ihm nicht immer gelungen, sich ihren Anschlägen zu entziehen? Die Götter schienen an seiner Seite zu stehen...
Einer derjenigen mit der Ansicht, es sei an der Zeit, die Mordpläne aufzugeben, war Amphinomos.
„Wir sollten nicht so viel darüber grübeln, wie wir ihn loswerden, sondern uns Gedanken um unser leibliches Wohl machen."
In Wahrheit war dies ohnehin das Hauptanliegen der meisten. Aber als Amphinomos es jetzt unverblümt vorschlug, wirkte es wie eine Alternative zu den vorausgegangenen Erörterungen, die zu nichts geführt hatten, und darum erhielt er Beifall und Zustimmung. Sie gingen ins Haus. Einige ließen Decken auf den Tischen ausbreiten und Polster auf die Bänke legen, andere machten sich im Hof daran, Tiere zu schlachten. Sklavinnen fachten Feuer an, brieten die Innereien der Tiere und verteilten Weinkrüge. Es oblag Eumaios, die Becher auszugeben, während Philoitios die Aufgabe hatte, Brot auszuteilen.
Auch Telemachos war anwesend. Ausdrücklich wies er dem Bettler einen Platz direkt neben dem Eingang zu, ließ ihm ein Tischchen aufstellen und den Mann in seinen Lumpen in einem Sessel Platz nehmen. Er wies den Mundschenk an, ihm Fleisch zu geben und einen Becher Wein. Hier sei jetzt der Platz des Bettlers, sagte er, und wer ihm den streitig machen wolle, bekäme es mit ihm zu tun.
,,Dies ist kein offenes Haus!"
Seine Stimme war laut und wütend.
„Es gehört meinem Vater, und solange er nicht da ist, vertrete ich ihn. Keiner von euch soll es wagen, den Bettler zu beschimpfen oder ihm mit Schlägen zu drohen!"
Es war still. Die Freier waren beeindruckt. Nach einiger Zeit begannen sie leise zu debattieren. Einige meinten, sie dürften sich das nicht bieten lassen. Antinoos widersprach.
„Wir sollten seine Drohung ernst nehmen. Wir hätten ihn doch längst zum Schweigen gebracht, wenn er keine göttliche Hilfe hätte!"
„Ja“, riefen einige, „du hast Recht!“.
Andere widersprachen: Da sei nicht das letzte Wort gesprochen. Noch lange nicht! Der Wein sorgte dafür, dass der Meinungsaustausch heftiger wurde. Vor allem lauter. Odysseus, der alles genau verfolgte, täuschte Gleichgültigkeit vor. Die Diener brachten ihm ebensoviel Fleisch wie den anderen Gästen.
Telemachos hatte es angeordnet, und keiner der Freier hatte anfangs Bedenken dagegen. Doch je mehr der Wein sie benebelte, desto schwerer konnten sie sich abfinden mit dem, was geschehen war.
Warum macht Telemachos sich so stark für diesen Bettler? hieß es bald.
Einer der Wortführer war Ktesippos, ein sehr reicher Fürst, der in Same lebte und Einfluss besaß. Zunächst klangen seine Worte freundlich: Es sei richtig, dem Fremden seinen Teil zu geben, 0 ja! Die Tischnachbarn sahen ihn erstaunt an, soviel Großzügigkeit hatten sie nicht erwartet. Pelagos stichelte: ,,Dann gib ihm doch noch mehr. Hast du nicht zu viel des Guten?"
„Zu viel des Guten?"
Unversehens wurde seine Stimme lauter.
„Mag sein, dass ich zuviel habe, und vielleicht wollen ja die Götter, dass ich dem armen Habenichts davon abgebe. Das da zum Beispiel!"
Blitzschnell entnahm er dem Korb neben sich, der für die Aufnahme von Knochen und Abfall während des Mahles bereitstand, einen Kuhfuß und warf ihn in Richtung des Bettlers. Weil der jedoch geistesgegenwärtig den Kopf einzog, kam es dazu, dass der Knochen hinter ihm an die Wand krachte. Und er blieb gelassen. Als könnte ihn nichts erschüttern, setzte er sich ruhig wieder hin und widmete sich seiner Mahlzeit. Nicht so Telemachos. Er sprang erregt auf und wandte sich direkt an Ktesippos:
„Ihr habt großes Glück gehabt, dass Ihr ihn nicht getroffen habt, denn sonst hätte Euch auch mein Speer nicht verfehlt. Dein Vater hätte anstatt der Hochzeit ein Begräbnis ausrichten müssen!" Vereinzelt wurden Rufe laut:
,,He, he! was soll das?" und „Genug! Genug!" und ,,Nehmt das sofort zurück!"
Aber Telemachos nahm nichts zurück.
„Glaubt nur, was ich sage!" Er hatte die Hände wütend in die Seiten gestemmt. „Verbrechen dulde ich hier nicht. Zieht keine falschen Schlussfolgerungen daraus dass ich es noch mit ansehe, wie ihr meine Schafe schlachtet, meinen Wein trinkt und mein Brot esst. Wie ich das verhindern kann, weiß ich noch nicht..."
,,Na, bitte!" unterbrach ihn Pelagos frech.
„Ach, fühlt euch nicht zu sicher! Und das Eine könnt ihr euch merken: Lieber würde ich mich töten lassen, als hinzunehmen, dass ihr meine Gäste misshandelt!"
Betretenes Schweigen. Wiederum war es Telemachos gelungen, den Freiern zu vermitteln, dass es ihm ernst war.
Es war Agelaos, der sich nach kurzer Zeit erheblich freundlicher zu Wort meldete:
„Hört auf, den Mann zu reizen“, mahnte er die Freier. „Was haben wir davon, wenn wir den Bettler misshandeln? Lassen wir ihn doch dort sitzen!"
Dann wandte er sich an Telemachos:
„Ich will Euch und Eurer Mutter einen Vorschlag zur Güte machen, denn die Situation ist eine andere geworden, und dem wollen wir Rechnung tragen. Früher habt ihr doch noch gehofft, dass der König eines Tages zurückkehrt. Hat sich diese Hoffnung nicht längst zerschlagen? Also, Telemachos, warum ratet Ihr Eurer Mutter nicht zu, dass sie sich für den besten und reichsten Freier entscheidet? Dann könnt Ihr das väterliche Erbe in Anspruch nehmen und sie kann den Haushalt des anderen besorgen."
„Den Rat geben kann ich natürlich, zwingen werde ich sie keinesfalls“, entgegnete Telemachos, um Sachlichkeit bemüht, „aber es trifft auch nicht zu, dass ich die Hochzeit meiner Mutter verzögere oder dass ich sie verhindern will. Im Gegenteil! Mir wäre lieb, wenn sie sich entscheiden könnte. Doch wenn sie es ablehnt, werde ich sie deshalb nicht aus dem Haus verstoßen. "
Mit diesen Worten verließ er den Saal erhobenen Hauptes. Er hatte gesagt, was gesagt werden musste. Kaum war er hinaus, da geschah Merkwürdiges. Unversehens brach bei den Freiern Gelächter aus. Einige begannen verhalten zu lachen, immer mehr beteiligten sich, bis schließlich alle in lautes, grölendes Gelächter einstimmten. Ihre Gesichter verzerrten sich, die Augen füllten sich mit Tränen. Penelope, der Bettler, der Seher und die Sklaven schauten sich ratlos und befremdet an und schüttelten den Kopf. Aber das Lachen wollte nicht enden.
Theoklymenes brüllte:
„Was ist in euch gefahren? Hört doch auf!"
Vergeblich. Der Seher war entsetzt.
„Euer Gelächter wird sich in Wehgeschrei verwandeln“, sagte er laut und mit eindringlicher Stimme, aber sie ließen jeden Respekt vor dem Mann mit den göttlichen Eingebungen missen und lachten noch mehr als zuvor.
,,0 ihr Toren!" rief er da erregt, ,,hört nur, was ich vorhersehe: eure Wangen sind benetzt von Tränen, die Wände sind voll bespritzt von Blut. Der Hof ist voll von den Schatten derer, die in die dunklen Tiefen des Hades drängen."
Er schwieg mit versteinertem Gesicht. Die Freier aber lachten noch heftiger.
Schließlich verließ der Seher den Saal kopfschüttelnd und ratlos, während die Freier weiter herum grölten.
Telemachos, der den Saal wieder betreten hatte, wunderte sich zunächst, empfand aber sogleich, dass es ein herausforderndes Gelächter war. Dieses unbestimmte Gefühl fand seine Bestätigung, als einer der Freier sich an ihn wandte und meinte:
„Was sollen wir uns streiten, Telemachos! Wir bringen den Fremden auf eine Rudergaleere und lassen ihn nach Sizilien verkaufen!"
Die anderen lachten weiter, einige klatschten zustimmend in die Hände.
Telemachos schwieg, warf aber seinem Vater einen Blick zu, der voller Ungeduld war und dieser erwiderte ihn mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung der Augenlider.
Telemachos verstand. Obwohl ihm das Blut im Kopf heftig pulsierte, gelang es ihm, ruhig zu bleiben.
Im hinteren Teil des Palastes war die Schatzkammer des Königs. Unter den vielen wertvollen Gegenständen, die dort aufbewahrt wurden, befand sich auch ein kostbarer Bogen, zu dem ein mit Pfeilen gefüllter Köcher gehörte. Dieser
Bogen hatte, wie die meisten Teile, die hier lagerten, seine eigene, unverwechselbare Vorgeschichte:
Odysseus hatte ihn einst von Iphitos, dem Sohn des Eurytos geschenkt bekommen und ihm seinerseits ein scharfes Schwert geschenkt. Die beiden Männer verstanden sich gut, und ein Gastmahl sollte die neue Freundschaft besiegeln. Man traf auf bei den Seiten die nötigen Vorbereitungen. Doch dann wurde Iphitos, ehe es dazu kam, von unbekannten Räubern erschlagen. Odysseus bewahrte den Bogen in der Schatzkammer auf, benutzte ihn wohl das eine oder andere Mal auf Ithaka, doch niemals auf einer Schiffsreise. Penelope wusste von dem Bogen, und sie hatte einen Plan ersonnen, in dem dieser eine wichtige Rolle spielen sollte. Sie machte sich auf den Weg zur Schatzkammer. Diese hatte eine Türschwelle aus kunstvoll bearbeitetem Eichenholz. Es krachte gehörig, als die Riemen von den Ringen gelöst waren, der Schlüssel steckte und die Riegel von den Flügeln gestoßen wurden. Um an die Truhen zu gelangen, mussten Penelope und die Dienerinnen auf ein Gestell steigen.
Penelope seufzte, aber nicht so sehr wegen der Anstrengung sondern unter der Last der Erinnerung, die sie an diesem Ort bedrückte, und sobald sie den Bogen, der sich noch in der Umhüllung befand, vom Nagel geholt hatten, musste sie sich hinsetzen. Während sie die Waffe auf die Knie legte, wurde sie von einem Weinkrampf geschüttelt. Die Sklavinnen, die ihr zu Diensten waren, standen ratlos um sie herum. Schließlich wischte sie sich, noch immer schluchzend, die Tränen ab, holte tief Luft und ermahnte sich selbst, tapfer zu sein. Mit Hilfe einer Dienerin gelang es ihr, den riesigen Bogen aus der Hülle zu ziehen. Sie brachten ihn zusammen mit dem Köcher und den Pfeilen in den Saal.
Dort stellte sie sich an eine Säule und zog entschlossen den Schleier vom Gesicht. Welch ein Anblick bot sich da den Freiern! Wer sie wenige Augenblicke zuvor gesehen hatte, erkannte sie kaum wieder, so blitzen ihre Augen, so kühn und angriffslustig streckte sie das Kinn vor. Es war, als hätte sich von diesem Bogen Kraft auf die Frau übertragen. Während sie das Wort an die Freier richtete, standen Eumaios und die Dienerinnen an ihrer Seite.
„Ihr habt das Recht des Gastes missbraucht“, warf sie ihnen erneut vor, „Ich habe mir niemals vorstellen können, dass fremde Männer sich so dreist in meinem Hause niederlassen könnten, unter dem Vorwand, sie würden um meine Hand anhalten! Pah! Wenn es euch nur um mich ginge, wäre das Problem leicht zu lösen..." Sie zögerte. Ihre Augen bekamen einen listigen Ausdruck. ,,Aber warum eigentlich nicht? Warum sollen wir nicht einfach annehmen, dass ihr nur wegen mir hier seid...?"
Im Saal war es still geworden. Alle hörten gespannt zu. Sie fuhr fort:
„Wer mich haben will, der muss um mich kämpfen!"
Sie wies auf den Bogen.
„Ich stelle die Bedingung: Nur wer dieses Ungetüm zu spannen vermag und dann den Pfeil durch alle zwölf Äxte hindurch schießt, dem folge ich. Nur für den bin ich bereit, das Haus meines Gatten zu verlassen, auch wenn es mir noch so sehr ans Herz gewachsen ist."
Die letzten Worte stieß sie noch halbwegs verständlich hervor, dann war es vorbei mit ihrer Selbstbeherrschung. Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten, und Eumaios erging es ebenso. Aber er war bemüht, es niemanden sehen zu lassen und stellte den Bogen und die Eisen so hin, wie es die Herrin befohlen hatte.
Der erste, der sich dorthin begab, war Telemachos. Er fasste die Sehne mit spitzen Fingern an, so dass sie hell ertönte. Dann wandte er sich den Freiern zu.
„Ihr habt den Kampfpreis vor Augen“, rief er bewegt und wies auf die mittlerweile abseits stehende Penelope, aber so, als handele es sich keinesfalls um seine Mutter, "eine Frau, wie ihr
sie sonst nicht so leicht finden würdet! Und mit diesem Bogen hier könnt ihr sie erobern,
jedenfalls einer von euch. Ist das nicht eine gute Gelegenheit?"
Er griff den Bogen und die Sehne. Ich will es selbst probieren“, meinte er, und das Gemurmel bei den Freiern verstärkte sich.
„Wenn es mir gelingt, den Bogen durch alle Eisen hindurch zu schießen, brauche ich mich nicht zu grämen, wenn meine Mutter das Haus mit einem anderen Mann verlässt, denn dann habe ich bewiesen, dass ich faltig bin, meines Vaters Kampfgerät zu benutzen!"
Noch einmal prüfte er spielerisch die Spannung, dann stemmte er die linke Hand gegen den Bogen und versuchte die Sehne zu sich zu reißen, vorsichtig zunächst, dann stärker, schließlich mit aller Kraft, die ihm zur Verfügung stand.
Beim ersten V ersuch vibrierte die Sehne lediglich und bei den Freiern war vereinzelt höhnisches Gelächter zu hören. Die meisten aber blieben still und beobachteten mit großer Aufmerksamkeit die Bemühungen von Odysseus' Sohn.
Dem gelang es auch beim zweiten Mal nicht, die Sehne zu ziehen. Erst im dritten Anlauf vermochte er eine gewisse Erschütterung der Sehne hervorzurufen, und er hätte es gewiss noch einmal versucht, denn aufzugeben war nicht seine Art, doch da bemerkte er ein verstohlenes Zeichen von dem vorgeblichen Bettler. Er verstand und hörte sofort auf.
Tief ausatmend wandte er sich an Antinoos:
„Ich bin zu jung, denke ich. Versucht es selbst und bringt den Wettkampf zu einem Ende!"
Dazu war Antinoos ohne Zögern bereit, und nicht nur er. Vier weitere Freier erhoben sich von den Plätzen und traten vor. Sie stellte sich auf, um nacheinander ihr Glück zu versuchen. Antinoos legte fest, dass der Opferbeschauer Leiodes als erster an die Reihe kam. Dieser Mann, der sonst als zurückhaltend galt und, in der Ecke sitzend, dem Treiben der anderen Männer zuzusehen pflegte, nicht ohne von Zeit zu Zeit kritische Bemerkungen von sich zu geben, entwickelte unerwarteten Ehrgeiz. Irgendeine Eingebung ließ ihn glauben, er könne es mit Telemachos durchaus aufnehmen, obwohl er, verglichen mit dessen kräftiger Gestalt, eher kümmerlich wirkte. Seine Hände, weich und verzärtelt, griffen entschlossen und unbeirrbar siegesgewiss nach Pfeil und Bogen, die an der Schwelle lagen, als ließen sie sich problemlos von jedermann benutzen. Der Opferbeschauer prüfte. den Bogen mit gerunzelter Stirne, wölbte die Lippen zu einem anerkennenden Laut, weil er annahm, dass dergleichen von einem Fachmann erwartet wurde, sandte vorsichtshalber ein Stoßgebet an Artemis und griff dann nach der Sehne. Er zog mit aller Kraft, die seine ungeübten Arme hergaben, stöhnte, stieß einen Schrei aus und zog erneut, wieder und immer wieder. Ohne den geringsten Erfolg.
Ermattet gab er schließlich auf und stieß den Bogen wütend von sich.
„Es geht nicht! Das schafft keiner, glaubt mir! Ich rate euch allen: Schaut euch nach einer anderen Braut um!"
Die meisten Männer lachten. Antinoos aber polterte los:
„Wie kommst du dazu, so zu reden? So ein Unsinn! Wir sollten uns eine andere Braut suchen! Und das so kurz vor dem Ziel! Nein: Du bist nicht auf die Welt gekommen, um Bögen zu spannen und Pfeile zu schießen, das ist alles! Warum soll ein anderer nicht besser sein als du?"
Offenbar bezog er das auf die eigene Person, denn er wandte sich an Melanthios und gab dem Ziegenhirten den Auftrag, im Saal Feuer zu machen, einen Stuhl daneben zu stellen und ein Fell darüber zu legen. Eine große Scheibe aus Talg müsse herbei, so dass sie den Bogen mit Fett bestreichen könnten, und sobald er vorgewärmt sei, wollte sie ihn sich dann vornehmen.
Seine Wünsche wurden unverzüglich erfüllt, jedenfalls die erfüll baren. Bald war der Bogen eingefettet und vorgewärmt, bald standen die Männer in langer Reihe an, um sich an der Waffe zu beweisen. Einer nach dem anderen versuchte es,
Als der erste es nicht schaffte, gab es noch hämische Kommentare, bald darauf schwiegen alle. Den Bogen zu spannen, war keinem von ihnen vergönnt.

Währenddessen waren der Rinderhirt Philoitios und der Schweinehirt Eumaios im Begriff, den Palast zu verlassen. Vor allem das anmaßende Verhalten der Männer, denen der Wein die Sinne vernebelt zu haben schien, steigerte ihr Unbehagen so sehr, dass es sie nicht länger an diesem Ort hielt. Philoitios meinte:
„Unglaublich, was die sich herausnehmen! Nicht zum Aushalten!"
Da trat der Bettler auf die beiden zu.
„Wartet! Ich will euch etwas sagen."
Zunächst wehrte Philoitios ab und wollte ihn im Hof stehen lassen, doch als Eumaios Halt machte, tat er es ihm gleich. Der Bettler wandte sich an den Rinderhirten.
„Ihr haltet es nicht mehr aus? Was würdet Ihr denn sagen, wenn Odysseus doch zurückkäme, wenn er vielleicht schon hier wäre? Würdet Ihr ihm helfen?"
„Und ob! Wenn er käme, könntet Ihr sehen, wie viel Kraft in meinen Fäusten steckt. Aber..." resignierend winkte er ab, „wir haben es uns so oft gewünscht..."
„Diesmal hat sich Euer Wunsch erfüllt. Ich habe es Eumaios bereits bewiesen, und nun sage ich es auch Euch: Ich bin Odysseus."
Es war auf einmal ganz still. Unwillkürlich blickte Odysseus sich um, als hätte er die Befürchtung, ein Unbefugter könnte gehört haben, was er da dem Rinderhirten anvertraut hatte. Eumaios hatte von Anfang an ein skeptisches Gesicht gemacht. Scheinbar fand er den Zeitpunkt zu früh. Aber das war Sache seines Herrn, und jetzt gab er ihm ohne Zögern Unterstützung.
„Es stimmt, was er sagt, Philoitios, er ist es! Er wohnt vorläufig bei mir. Sein Sohn weiß bereits von seiner Rückkehr. Du bist also der Dritte…"
Philoitios konnte es nicht fassen. Mehrmals atmete er tief ein und aus, verlagerte sein Körpergewicht von einem Bein auf das andere, sagte aber kein Wort.
„Was ist denn mit dir?" fragte Eumaios verwundert. ,,Freust du dich nicht?"
„Ich sollte mich nicht freuen, wenn mein Herr zurückkäme? Nein, nein..."
,,Aber?"
„Habt Ihr eine Narbe am Bein? Könnt Ihr sie mir zeigen?"
Odysseus und Eumaios lachten beide zugleich laut los. Dann schob Odysseus den Stoff hoch und wies auf sein Bein.
„Sieh die die Narbe nur an, Zweifler. Damit du mir glauben kannst!"
Unversehens war er zum ,,Du" übergegangen, mit dem der Herr seinen Knecht anredet. Dieser studierte die Narbe, so gut es ging, richtete sich auf, atmete erneut tief aus und meinte:
,,Die Stelle ist dieselbe wie damals.."
,,Also?" Eumaios wurde langsam ungeduldig.
Da war es auf einmal, als explodierte etwas im Innern des Rinderhirten. Er machte einen gewaltigen Luftsprung und fiel Odysseus jubelnd um den Hals. Der konnte nicht umhin, die Küsse und Umarmungen zu erwidern und wischte sich gerührt eine Träne aus dem Auge.
Dann aber gebot er Einhalt. Es sei an der Zeit, sich zurück zu begeben in den Saal.
,Aber einzeln, einer nach dem andern, damit sie keinen Verdacht schöpfen."
Er wandte sich an Melanthios.
„Und denk daran, dass ich nur ein einfacher Bettler bin." 
„Darauf könnt Ihr Euch verlassen."
Bevor er als erster in den Saal ging, sagte Odysseus den Männern noch, was ihre Aufgabe sein würde, wenn es an die Abrechnung mit den Freiern ging.
„Du bringst mir den Bogen“, wandte er sich an Eumaios, „den Frauen sagst du, sie sollten alle Türen von innen absperren, so dass niemand herauskommt, selbst dann nicht, wenn sie lärmen und schreien, dass sie hinaus wollen."
Sein Gesicht hatte einen finsteren und entschlossenen Ausdruck bekommen. Er gab Philoitios den Auftrag, das Hoftor abzusperren und es zusätzlich mit einem Strick abzusichern. Philoitios nickte eifrig. Dann drehte Odysseus sich um, und kurz darauf betrat wieder der Bettler den Saal, um sich an seinen Platz zu setzen. Die beiden anderen Männer kamen einzeln nach.

Bei den Freiern hatte sich zunächst Eurymachos um den Bogen bemüht, ihn mit den Händen gedreht, ihn zusätzlich am Feuer gewärmt, aber es gelang auch ihm nicht, ihn zu spannen. So war das einzige Ergebnis all seiner Bemühungen ein lauter Seufzer.
,,Diese Schande!" murmelte er vor sich hin. „Wie stehen wir da, wenn es keinem von uns gelingt, den Bogen zu spannen?"
Antinoos, der in seiner Nähe stand, beruhigte ihn mit leiser Stimme: „So weit wird es nicht kommen. Da weiß ich etwas Besseres."
Laut sagte er:
„Heute ist ein göttlicher Festtag. Warum wollen wir überhaupt an einem solchen Tag Bogen schießen? Legt ihn beiseite, aber lasst die Äxte einstweilen stehen. Wir wollen das Fest feiern!"
Er befahl, die Becher wieder zu füllen. Morgen werde Melanthios den Auftrag erhalten, aus allen Herden die besten Ziegen herbeizuholen, damit deren Schenkel dem göttlichen Apoll geopferte werden könnten. Dann werde der Bogen überprüft, und danach könne der Wettkampf beginnen.
Aber wieder verhinderte jemand, dass sie in Festtagsstimmung kamen, und wiederum war es jener Bettler, der zwar abseits an dem Tischchen saß, das er sich erkämpft hatte, der das Geschehen im Saal jedoch mit großer Anteilnahme verfolgt hatte. Er stand, kaum dass die Männer ihre Becher das erste Mal geleert hatten, auf und trat in ihre Mitte, gerade dorthin, wo eine Säule die Feiernden in zwei Gruppen trennte. Er lehnte sich an und wartete, bis sich unter den Männern herumgesprochen hatte, dass der Bettler schon wieder eine Rede halten wollte.
Was redet der nur? fragten einige verständnislos einander, als er begonnen hatte und in der Tat reichlich einfältig daherschwatzte von einer höchst berühmten Königin, deren Freier sie seien. Antinoos sei jemand, der den Göttern gleichkomme, behauptete er auch noch und bei Eurymachos verhalte es sich nicht anders.
Alle Unterhaltung verstummte. Seltsam, dass dieser Bettler mit einem Mal so viel Lob für die Männer übrig hatte, die bis dahin seine größten Feinde waren! Was steckt dahinter? fragten sie sich. Da hörten sie:
,,Könnt ihr einem armen Bettler, der früher fürwahr bessere Zeiten gesehen hat, einen Wunsch abschlagen, dessen Erfüllung euch zudem nichts kostet?"
„Was willst du denn noch, Nimmersatt?" kam es von den Bänken zurück. Wieder wurde es lauter, bis Antinoos sich erhob und mit einer Handbewegung Ruhe gebot. Dann wandte er sich an den Bettler:
„Du bist klebrig wie das Harz an den Kiefern! Man wird dich nicht los. Also rede: Was willst du noch?"
„Auch einmal den Bogen spannen“, antwortete der Bettler, doch so leise, dass diejenigen Freier, die auf Bänken weiter hinten saßen, ihre Nachbarn fragten, was er gesagt habe.
Der Bettler sagte nun mit lauter Stimme:
„Antinoos und Eurymachos sollen auch mir einen Versuch gestatten. Dann kann ich die Kraft meiner Hände vor ihren Augen überprüfen."
Antinoos brauste auf:
„Du bist nicht nur ein Elender, sondern dir fehlt es auch an Verstand. Reicht es dir nicht, hier zu sitzen und an der Mahlzeit teilzuhaben? Immer neue Vorteile willst du herausschlagen! Ausgerechnet du willst den Bogen spannen..." er lachte laut und abschätzig, „ich denke, der Wein hat dir den Kopf vernebelt."
Da mischte sich unerwartet Penelope ein. Sie kam herbei und sagte zu Antinoos:
„Unser Gast hat eine stattliche Größe und er ist kräftig. Er behauptet, dass er einem berühmten Geschlecht entstammt. Gebt ihm doch den Bogen, dann sehen wir, was an seinen Worten wahr ist. Wenn er ihn spannt, will ich ihm gute Kleider geben..."
Ihr Sohn kam herbei und fiel ihr ins Wort:
„Ich bin es, der bestimmt, wer den Bogen haben darf und wer nicht. Gehe du in dein Gemach! Dies hier ist Sache der Männer."

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