Die Abrechnung

Text

von  ManMan

Der Augenblick war da, auf den drei Männer im Saal lange gewartet hatten. Der Sauhirte holte den Bogen herbei, offenbar mit der Absicht, dem vermeintlichen Bettler Gelegenheit zur verlangten Kraftprobe zu geben, was den Freiern natürlich nicht gefiel.
„Was soll das, Elender?" rief einer von ihnen.
„Deine eigenen Hunde sollen dich fressen!" brüllte ein anderer mit zornrotem Gesicht, und das war der Auftakt für ein wütendes Gekeife von allen Seiten. Nun war der Schweinehirt zwar ein tapferer Mann, aber einer solchen Übermacht fühlte er sich nicht gewachsen. Furchtsam legte er den Bogen wieder ab und wollte sich schon schleunigst davonmachen, als doch noch die Hilfe kam, auf die er gewartet hatte. Von der anderen Seite des Saales ertönte Telemachos' Stimme:
„Was ist, Alter? Warum gibst du ihm den Bogen nicht? Lass ihn seine Kräfte ausprobieren!"
Ehe ihn jemand hindern konnte, nahm Eumaios den Bogen und reichte ihn dem Bettler, der ihn rasch an sich nahm. Der Lärm erstarb. Während der Mann am Bogen diesen überprüfte, ging Eumaios zu Eurykleia. Telemachos wünsche, dass sie die Türen fest verschließe. Niemand dürfe hinauskommen, fügte er hinzu und warf der Amme einen bedeutsamen Blick zu. Da sie es gewohnt war, zu gehorchen ohne viel zu fragen, nickte sie und tat, wie ihr geheißen. Philoitios hatte bereits die Hoftüren abgesperrt.
Niemand von den Freiern hatte sich um diese Aktivitäten gekümmert. So war es von Odysseus geplant und zu diesem Plan gehörte die feste Absicht, keinem von ihnen die Möglichkeit zu geben, hier wieder lebend herauszukommen.
Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Er drehte am Bogen, prüfte, ob nicht etwa Käfer am Horn gefressen hatten. Sanft glitten seine Finger über den kleinen Knopf, den keiner der anderen bemerkt hatte, weil er so täuschend in das Horn eingelassen war. Nur er kannte ihn, nur er wusste von seiner Bedeutung.
Die ihn beobachteten, ahnten längst, dass er etwas von Bögen verstand. Sie tuschelten, aber Odysseus achtete nicht darauf. Seine Sinne waren ebenso gespannt wie die Sehne, die er jetzt prüfend zwischen zwei Finger nahm. Er stellte ein Bein vor, stützte mit der Linken den Bogen ab und griff mit der Rechten nach der Sehne.
Zur völligen Verblüffung der anderen gelang es ihm auf Anhieb, sie zu spannen. Er führte es mit so leichter Hand aus, als ginge es darum, die Saite einer Leier aufzuziehen. Als er die Sehne vorschnellen ließ, ertönte es hell.
Der Ton klang schrill in den Ohren der Freier, selbst jene, die dem Wein im Übermaß zugesprochen hatten, schienen mit einem Schlag ernüchtert. Die Farbe wich aus ihren Gesichtern, Angst und ungläubiges Erstaunen standen nun darin geschrieben.
Odysseus aber griff nach dem Pfeil, der vor ihm auf dem Tisch lag, setzte sich auf den Stuhl, legte den Pfeil auf die Sehne und visierte das Ziel an. Im Saal war es still. Nur das Surren des Pfeils, der von der Sehne schnellte, war zu hören, dann ein kurzes, metallisches Knirschen. Das Unglaubliche war geschehen: Der Bettler hatte den Pfeil mit der Eisenspitze durch alle aufgestellten Äxte hindurch geschossen! Es dauerte einige Augenblicke, bis die Freier sich aus der Erstarrung lösten. Indessen wandte sich der unheimliche Bettler ruhig Telemachos zu.
„Es soll Euch nicht zur Schande gereichen, dass Ihr mir Gastfreundschaft gewährt habt“, sagte er, und dann, an die Freier gewandt:
„Ich habe das Ziel nicht verfehlt, meine Augen waren nicht müde vom langen Anspannen der Sehne, und wie ihr seht, mangelt es mir auch nicht an Kraft!"
Er hielt inne, wechselte den Tonfall und fuhr leichthin fort:
„Aber jetzt ist es an der Zeit, das Nachtmahl herzurichten, solange es noch hell ist. Danach können wir uns mit Gesang und Musik unterhalten."
Telemachos bemerkte, wie er ihm mit den Augenbrauen das verabredete Zeichen gab. Rasch hängte er das Schwert um und griff nach der Lanze. Dann begab er sich in die Nähe seines Vaters. Dieser aber riss sich die Fetzen vom Leibe, so dass alle seinen muskulösen Oberkörper sehen konnten, fürwahr nicht der eines armseligen Bettlers! In sachlichem, kaltem Tonfall stellte er fest, der Wettkampf sei jetzt entschieden und er werde sich anderen Zielen zuwenden, solchen, die bisher noch niemand getroffen habe und bei denen es der Unterstützung Apollons bedürfe.
Ehe es dazu kam, dass jemand ihn um Aufklärung bat, was er damit meinte, wandte er sich dem ersten Ziel zu: Antinoos. Der setzte soeben den Trinkbecher an den Mund, da richtete Odysseus den Bogen auf ihn. Ehe er sich versah, durchbohrte ein Pfeil seine Kehle. Er stürzte zur Seite nieder, der Becher entglitt seinen Händen. Aus seiner Nase quoll ein dicker Schwall Blut. Im Fallen riss er den Tisch um, mit allen Speisen, die darauf standen.
Die im Saal Anwesenden waren aufgesprungen und suchten nach ihren Schilden und Speeren. Großer Lärm erfüllte den Raum. Besonders jene, die noch nicht begriffen hatten, was geschehen war, schimpften erregt auf den Bettler ein, bedrohten ihn, verkündeten großspurig, der Tod sei ihm sicher. Doch dann mussten sie die Worte vernehmen:
„Ihr Hunde dachtet, ich käme nie mehr zurück! Deshalb habt ihr mein Haus geplündert, die Frauen entehrt und meine Gattin umworben. Ihr kanntet keine Götter mehr und habt euch weder vor ihrer Vergeltung gefürchtet noch vor menschlicher Rache. Aber ihr habt euch getäuscht! Jetzt gibt es für kein Entrinnen mehr!"
Während die meisten Freier orientierungslos umherliefen und zunehmend in Panik gerieten, weil sie merkten, dass die Ausgänge zugesperrt waren, zeigte Eurymachos Kaltblütigkeit. Er forderte Ruhe und nachdem es ihm gelungen war, diese herzustellen, wandte er sich an Odysseus:
„Du bist es also wirklich? Ja, du musst es sein, keiner ist so listig wie du! Zeig mir, wie du es geschafft hast, den Bogen zu spannen."
Er machte ein paar Schritte in seine Richtung, bis ihn Odysseus anherrschte: ,,Halt! Keinen Schritt weiter!"
Eurymachos blieb stehen.
„Schon gut, schon gut!" versuchte er sein Gegenüber zu beruhigen und fuhr fort: ,,Es ist ja wahr, was du gesagt hast über die Untaten der Männer hier, aber sie hatten einen Anführer, der die Hauptschuld trägt, und der liegt dort am Boden, nicht wahr?"
Hilfe suchend sah er sich um.
„Ihr könnt alle bestätigen, dass er König von Ithaka werden wollte! Dafür sollte dein Sohn sterben, er wollte ihn überfallen und töten! Ja, ihn hat die gerechte Strafe ereilt! Aber wir anderen? Verdienen wir nicht Schonung, wenn der Schuldige bestraft ist?"
Dann machte er Odysseus ein Angebot: Sie, die Freier, wollten alles ersetzen, was sie im Palast verzehrt hatten! Jeder sei obendrein bereit, als Buße zwanzig Rinder dazuzugeben und so viel Gold und Erz, dass er staunen werde!
Odysseus zeigte sich unbeeindruckt. Er wusste, was von solchen Angeboten zu halten war. Sie kamen dann, wenn dem Gegner klar war, dass er verlieren würde. Und wenn er sich darauf einließe, und sie hielten ihr Wort nicht? Wie stünde er dann da vor den andern und vor sich selbst?
So blickte er nur finster drein, und seine Worte machten allen deutlich, was sie zu erwarten hatten:
„Verlasst euch darauf: meine Hände sind Tod bringend und werden nicht eher Ruhe geben, bis der letzte Freie bezahlt hat für seine verbrecherischen Taten! Stellt euch nur dem Kampf, es wird euch nicht gelingen zu entfliehen!"
Da riss Eurymachos das Schwert, die letzte Waffe, die ihm geblieben war, aus der Scheide und forderte die anderen Freier auf, ein Gleiches zu tun:
,,Nehmt die Tische als Schutzwehr!" rief er. „Wir drängen ihn hinaus und holen Hilfe aus der Stadt!"
Er sprang mit gezücktem Schwert unter lautem Gebrüll auf Odysseus los. Da traf ihn ein Pfeil, so dass auch er schwer zu Boden stürzte, wobei er den Tisch mit Tellern und Bechern umwarf. Als er mit der Stirn aufschlug, brachten seine Füße noch einmal den Sessel ins Wanken, ehe sich für immer Dunkelheit über seine Augen legte.
Amphinomos war der nächste, der mit dem Schwert versuchte, Odysseus zur Freigabe der einzigen Ausgangstür zu bewegen. Ihn traf Telemachs Lanze mitten in die Brust. Odysseus sprang rasch zur Seite und ließ die Lanze stecken, denn es galt zu verhindern, dass ihn die anderen Männer überrumpelten.
Telemachos rief:
„Ich hole dir einen Schild und Speere!"
Während er zur Kammer eilte, in der die Waffen verborgen waren, hielt Odysseus die anderen Männer mit dem Bogen in Schach. Er hatte nur noch wenige Pfeile übrig und hoffte, damit auszukommen, bis Telemachos zurückgekehrt war. Die anderen Männer stürmten nicht weiter vor, sondern waren vor dem drohenden Pfeil in eine Ecke des Saales zurück gewichen. Odysseus sorgte dafür, dass die Bedrohung nicht geringer wurde, wohin sie auch gingen.
Trotz der äußersten Anspannung fühlte er sich so wohl wie lange nicht mehr. Das war endlich die Abrechnung, die er so lange herbeigesehnt hatte! Er war nicht länger der Bettler, mit dem sie nach Belieben verfahren konnten, sondern jetzt war er es, der bestimmte, was geschah. Zweifellos hatten sie alle den Tod verdient! Er würde sie vernichten, einen nach dem anderen würde sein Pfeil, sein Speer
treffen, so wie es Männern zukam, die seine Ehre beschmutzt und sich an seinem Eigentum vergriffen hatten!
Unterdessen holte Telemachos aus der Kammer vier Schilde, acht Speere und vier eherne Helme mit Rosshaaren. Eumaios und Philoitios waren ihm behilflich. Sie legten ebenso wie er eine Rüstung an, setzten Helme auf und halfen Telemachos, Odysseus die Gegenstände zu bringen, die ihm bei der Verteidigung behilflich sein sollten. Als dieser sie zurückkommen sah, ließ er den nächsten Pfeil von der Sehne schnellen, dann noch einen und einen dritten. Jeder Pfeil beendete das Leben eines Freiers. Er nahm von den drei verbündeten Männern den vierfach beschichteten Schild entgegen, nachdem er den Bogen an den Pfosten gelehnt hatte, setzte den Helm auf und hielt die Männer, die wieder den Versuch machten, den Ausgang zu stürmen, mit dem Speer in der Hand zurück. Drohend nickte der Federbusch von seinem Helm.

In der Mauer gab es einen Seiteneingang mit einer Tür, die von außen fest verschlossen war. Eumaios und Philoitios hatten sie bewacht und dafür gesorgt, dass kein Freier den Saal verließ. Als die beiden Hirten aber dem Ruf von Telemachos gefolgt waren, hatten einige Freier die Möglichkeit genutzt und die Tür aufgebrochen.
Agelaos forderte alle mit lauter Stimme dazu auf, diese Fluchtmöglichkeit zu nutzen. Melanthios gab allerdings zu bedenken, dass die Tür dem Hof sehr nahe war.
„Weil ein einziger Mann in der Lage sein wird, alle am Weitergehen zu hindern, kann der Gang leicht zur Falle werden!"
„Aber was sollen wir machen? Warten, bis einer nach dem andern getötet worden ist?" fragte Agelaos erbost, und dann, an Melanthios gewandt: „Willst du uns etwa eine Falle stellen?"
Melanthios bekam einen Schrecken. Empört wies er diesen Verdacht zurück:
„Dann gehe ich eben allein“, erwiderte er mutig, ,,ich hole euch Waffen, ich weiß ja, wo Odysseus und sein Sohn sie verborgen haben."
Schon bald kehrte er zurück, bepackt mit Schilden, Speeren und Helmen. Dann machte er sich erneut auf den Weg und holte mehr herbei. Bald war es ihm gelungen, ein Dutzend Waffen, Schilde und Helme herbei zu schaffen, ohne dass es Odysseus oder seinem Sohn aufgefallen war. Erst jetzt fragte der Rückkehrer seinen Sohn erstaunt:
„Woher stammen all die Waffen? Doch wohl nicht  aus der Kammer?"  Telemachos nickte schuldbewusst.
„Sie müssen aus der Kammer sein. Ich habe die Tür nur angelehnt, aber nicht verschlossen." 
Odysseus machte ein finsteres Gesicht. Er wandte sich an Eumaios:
„Geh dorthin und verschließ die Tür. Und dann finde heraus, wer die Waffen geholt hat. Vielleicht hat eines der Weiber die Hände im Spiel gehabt."
Der Sauhirt brauchte über diese Frage nicht extra Erkundungen einzuziehen. Als er sich der Kammer näherte, sah er Melanthios diese verlassen, wieder bepackt mit Speeren und Schilden. Auf dem Kopf trug er einen Helm.
Rasch verbarg sich Eumaios hinter einer Säule und beobachtete, wie Melanthios durch den Seiteneingang die Waffen in den Saal brachte. Als er Gewissheit hatte, rannte er zu Odysseus.
„Soll ich den Verräter gleich töten?"
Odysseus überlegte kurz, dann entschied er anders.
„Telemachos und ich halten weiterhin die Freier in Schach. Unterdessen greift ihr euch den Verräter, bindet ihn an Händen und Füßen und befestigt am Rücken ein Brett. Dann zieht ihr ihn an der Säule hoch in die Dachsparren!"
Eumaios nickte und gab Philoitios durch einen Wink zu verstehen, dass er mitkommen sollte. Odysseus fügte hinzu:
,,Ihr braucht nicht sanft mit ihm umzugehen."
Eumaios lachte grimmig:
,,Darauf könnt Ihr Euch verlassen!"

Die verbliebenen Anführer der Freier versuchten, sich und den anderen Mut zu machen. Die Lage sei keineswegs aussichtslos, behauptete Agelaios:
„Vorwärts Freunde, dem Mann an der Tür werden die Hände bald sinken! Nehmen wir unsere Speere zur Hand und schleudern wir sie alle zur gleichen Zeit auf sie! Vor allem auf Odysseus!"
Aber Odysseus dachte gar nicht daran, sich ihnen als Zielscheibe zu präsentieren. Geschickt verbarg er sich hinter einem Holzpfosten, und als es ihm gelang, von dort einen Pfeil loszuschicken, der Demoptolemos mitten in die Brust traf, wichen die Angreifer im Saal rasch wieder zurück. Ohnehin hatten ihre Wurfgeschosse wohl die schwere Tür getroffen, und ein Speer war tief in die Wand eingedrungen, aber das waren ja nicht die erhofften Ziele. Die Freier waren verwundert über ihre eigene Ungeschicktheit. Bei Odysseus dagegen stellte sich immer mehr das Gefühl ein, dass er heute nicht zu besiegen war, ein unbändiges Vertrauen in die eigene Kraft erfüllte ihn. Energisch forderte er seine Mitstreiter auf, ebenfalls Speere zu schleudern und genau zu zielen:
Keiner von denen im Saal habe Schonung verdient!
Und sie verfehlten ihre Ziele nicht. Euryades, Peisandros, Elatos und Panos fielen den Speeren zum Opfer, kein Speer ging daneben! Die übrigen Freier wichen entsetzt zurück. Odysseus, Telemachos, Eumaios und Philoitios rissen die Speere aus den Leichen und setzten nach, in wahrhaft mörderischer Kampfeswut. Zwar versuchten die Freier, sich zu wehren, doch es gelang ihnen nur, bei Telemachos leichte Schürfungen der Haut und bei Eumaios eine angeritzte Schulter zu verursachen. Damit reizten sie die vier Männer auf der anderen Seite nur umso mehr.
Bald gab es weitere Tote. Odysseus traf Eurydamos, und Amphimedon erlag einem Wurf von Telemachos. Dann fiel Polybos einem Speerwurf von Eumaios zum Opfer, und als Ktesippos mit einem Speer in der Brust zu Boden stürzte, triumphierte der Rinderhirte:
,,Das ist die Antwort auf den Kuhfuß, den du nach Odysseus geworfen hast!"
Im ganzen Saal wurde gekämpft. Odysseus und Agelaos waren dicht beieinander, dieser Freier war ein Gegner, der sich zu wehren verstand, besonders im Nahkampf. Erst mit einem mächtigen Faustschlag gelang es Odysseus, sich Luft zu verschaffen. Agelaos fiel zu Boden und Odysseus versetzte ihm ohne zu zögern mit dem Schwert den Todesstreich. Fast im selben Augenblick gelang es Telemachos, dem Freier Leiokritos das Messer in den Leib zu stechen.
Der Boden lag voll von Leichen, und dieser Anblick gewann, als eine Kampfpause eintrat, mit einem Mal eine so grausige Bedeutung, dass er den verbliebenen Freiern den letzten Mut raubte. Ihre Anführer waren getötet, wie sollten sie weiterkämpfen, ganz auf sich allein gestellt?! War es nicht an der Zeit, die eigene Haut zu retten?
Aber in diesem Kampf gab es keine Rettung. Jeder der Beteiligten wusste, dass er diesen Saal entweder als Sieger oder als Leichnam verlassen würde.
Die Freier, so sehr sie auch dem Tode zu entfliehen versuchten, wurden schließlich doch von ihm geholt, mit dem Schwert erschlagen die einen, mit dem Messer erstochen die anderen. Überall breiteten sich Blutlachen aus, von                                                           
mancher vermeintlichen Leiche ertönte ein entsetzliches Stöhnen.
Leiodes, der Beschauer des Fleisches, schlug sich durch bis zu Odysseus. Um Gnade flehend warf er sich zu seinen Füßen nieder, beteuerte, er habe nicht wie die anderen gehandelt, ganz gewiss nicht! Ja, die Männer hätten sich an den Frauen vergangen, 0 ja! Aber er doch nicht! Im Gegenteil: Stets habe er versucht, die Männer von ihrem Tun abzuhalten, habe ihnen gesagt, wie schändlich ihr Tun sei. Ohne Erfolg, ja, aber wer wolle ihm das vorwerfen?
Odysseus unterbrach den Redeschwall mit einer Handbewegung.
„Du wagst es, dich zu rühmen, weil du nur ihr Opferbeschauer gewesen bist? Nur ihr Opferbeschauer? Ach, wie oft wirst du mit ihnen gebetet haben, dass ich nicht heimkehrte und du meine Gattin bekämest! Stirb, du Hund!"
Mit diesen Worten nahm er das Schwert und trennte dem Manne vor sich mit einem wuchtigen Schlag den Kopf ab.
Noch einer kam und flehte den Sieger um Gnade an, obwohl er lange gezögert hatte: der Sänger Phemios, des Terpis Sohn, der für die Freier gesungen, der ihnen auf der Leier vorgespielt hatte. Musste er nicht mit dem Schlimmsten rechnen?
Er ging zu Boden und umfasste Odysseus' Knie. Er habe nur gespielt und gesungen, was ihm von göttlicher Seite eingegeben worden sei. Er habe für die Götter ebenso gesungen wie für die Menschen! Deshalb verdiene er Schonung! Übrigens könne sein Sohn Telemachos bestätigen, dass er nur gezwungenermaßen den Freiern zu Diensten gewesen war...Odysseus wandte sich an seinen Sohn. Als dieser bestätigte, dass den Sänger keine Schuld treffe, gab er jenem durch ein Nicken und eine anschließende Kopfbewegung zu verstehen, dass er gehen könne, was dieser aber erst ausführte, nachdem er dem König von Ithaka immer wieder voller Demut und Dankbarkeit die Hände abgeküsst hatte.
Telemachos sagte:
„Medon, der Herold, verdient ebenfalls Schonung. Er hat für mich von Kindesbeinen an gesorgt."
Wieder nickte Odysseus und sah zu, wie Phemios und Medon auf Geheiß seines Sohnes den Saal in Richtung Hof verließen. Er fühlte sich erschöpft.

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