Die Zweiflerin

Text

von  ManMan

Während Eurykleia die Stufen zum Gemach ihrer Herrin hinaufstieg, überlegte sie noch immer, wie sie am besten erzählen sollte, was sich unten ereignet hatte.
Die Herrin war aufgeregt und wollte sogleich erfahren, was geschehen war. Ein unerträglicher Geruch steige aus dem Saal hoch und dann dieser Lärm!
„Was hat das alles zu bedeuten? Ich habe Schreie gehört, und dann war es auf einmal still!"
Eurykleia suchte sie zu beruhigen.
„Es wird alles gut werden, glaubt mir nur! Ich habe eine gute Nachricht für Euch, Herrin, die beste, die möglich ist!"
Penelope winkte ab und rümpfte die Nase:
,,Es riecht nicht nach einer guten Nachricht, sondern so riecht der Tod!"
Die Amme konnte sich nicht länger zurückhalten:
,,Herrin!" rief sie überschwänglich, ,,Euer Gatte ist zurückgekehrt! Er hat die Freier erschlagen! Kommt herunter und seht selbst!"
Penelope wusste nicht, ob sie wachte oder träumte.
„Nicht so laut, Mütterchen, nicht so laut!" war alles, was sie hervorbringen konnte. In ihrem Kopf drehte es sich. Sie setzte sich auf eine Bank und sah Eurykleia mit glasigen Augen an:
„Die Freier erschlagen, sagst du?"
„Ja, glaubt mir doch, keiner von denen hat es überlebt, und die Weiber, die es mit ihnen getrieben haben, auch nicht!"
Wie war das möglich? Penelope starrte die alte Amme immer noch ungläubig an:
„Die Freier erschlagen“, wiederholte sie, „und was ist mit den Weibern?"
,,Dein Sohn hat mit ihnen kurzen Prozess gemacht."
Offenbar war ihr nicht wohl bei dem Gedanken, denn sie fuhr nachdrücklich fort, so als wolle sie zu diesem Punkt nichts weiter sagen:
,,Alle, die es verdient haben, sind tot!"
„Dann muss es ein Gott gewesen sein“, sagte Penelope mit leiser Stimme und wiederholte langsam:
„Es muss ein Gott gewesen sein?"
,,Aber nein, Herrin, so glaubt mir doch: Euer Gatte ist zurück, ich wusste es ja schon länger!"
Warum weigerte sich ihre Herrin, die Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen? War es denn nicht ihr sehnlichster Wunsch gewesen?
Eurykleia erzählte ihr von der ersten Begegnung mit Odysseus, dem sie als Bettler die Füße gewaschen hatte.
„Ihr wart selbst dabei, als ich auf einmal die Narbe bemerkte. Ich kannte sie ja. Aber er zwang mich, Euch nichts davon zu sagen..."
,,Der Fremde?"
Penelope war aufgesprungen.
„Der Fremde ist Odysseus?"
Eurykleia spürte, dass ihre Skepsis nachließ.
„So glaubt mir doch endlich“, wiederholte sie eindringlich, „ich hätte es Euch ja schon längst erzählt, aber er hat es mir doch nicht erlaubt! Wie klug von ihm, Töchterchen, wie schlau!"
Und dann fügte sie hinzu:
„Wenn sich herausstellt, dass ich Euch belogen habe, steht es Euch frei, mich zu töten!"
Penelope schüttelte den Kopf über diesen unsinnigen Vorschlag. Aber allmählich begann sie zu glauben, dass stimmte, was die alte Amme sagte.
,,Also gut! Dann lass uns nach unten gehen! Ich will meinen Sohn sehen!"
Sie zögerte.
„Und... und den Fremden.."
Eurykleia warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Warum glaubte die Herrin ihr nicht?

Ohne sich umzuschauen, trat Penelope über die Schwelle und ging zu einem Platz am anderen Ende des Saales. Es roch nach Blut, Schweiß und Tränen, aber auch nach schwarzem Sand, den die Sklavinnen zur Reinigung des Bodens benutzt hatten. Ein lebloser Körper wurde nach draußen geschleift. Penelope sah schweigend zu, ohne wirkliche Anteilnahme. Nach einer Weile kam ein Sklave aus dem Nebenraum, der ebenfalls einen toten Körper hinter sich herzog. Ohne es zu wollen, warf Penelope einen Blick darauf und erstarrte.
War das nicht Espera? Jene Sklavin, die es besonders gern mit Demetrios getrieben hatte...? Sie winkte ihren Sohn herbei.
„Was hat das zu bedeuten?" fragte sie mit schwacher Stimme.
„Sie haben unwürdig gelebt“, sagte ihr Sohn mit einer Kälte in der Stimme, die sie erschreckte. ,,Ihr Ende sollte sein wie ihr Leben!"
Als Penelope später über diesen Augenblick nachdachte, erinnerte sie sich merkwürdigerweise nicht an den Tonfall, sondern an das finstere Glitzern seiner Augen, als er hinzufügte:
„Oder haben sie es nicht verdient?"
Weitere Leichen wurden durch den Saal geschleift. Der Saal lag im Dämmerlicht, die untergehende Sonne ließ zusammen mit den wenigen Lichtern flackernde lange Schatten entstehen. Sie zucken, dachte Penelope und musste dabei an die leblosen Körper denken. Ihr wurde übel.
Haben sie es nicht verdient? hallte es noch in ihren Ohren, als Telemachos sie wieder allein gelassen hatte. Einerseits taten ihr die Frauen Leid, anderseits… Ach was! Sollte sie noch Mitleid mit ihnen verspüren?! Und dann traf sie ihre Entscheidung: Ja! Sie hatten die verdiente Strafe erhalten!

Ihr Blick fiel auf den Fremden, der schweigend am Feuer saß, den Blick nachdenklich zu Boden gerichtet. Der Schein des Feuers beleuchtete ihn niemals ganz, immer waren es Teile, die sie zu sehen bekam, und bei jedem fragte sie sich, ob es zu ihrem Mann passte.
Hatte er wirklich so große Ohren? Und seine Stirn: war sie nicht höher? Oder lag es daran, dass er jetzt lange Haare trug? Ach furchtbar, diese Lumpen, wie konnte er nur so herumlaufen!
Sie seufzte und stand auf. Aber sie ging nicht zum Feuer, sondern zu ihrem Sohn, der abseits stand und sie beobachtete.
„Warum gehst du nicht zu ihm, Mutter?"
Sie schwieg und wusste selber nicht den Grund.
Ihr Sohn nötigte sie, auf einer Bank Platz zu nehmen und setzte sich unmittelbar neben sie.
„Warum hältst du dich von ihm fern?"
Sie schwieg weiter.
„Was ist los, Mutter?"
Er beugte sich vor und sah sie eindringlich an.
Der Mann, von dem die Rede war, kam unterdessen herbei. Als er in Hörweite war, sagte Penelope zu Telemachos:
„Wenn er es wirklich ist, werde ich ihn wieder erkennen. Es gibt Zeichen, von denen nur wir wissen."
Da trat Odysseus hinzu, lachte verhalten und meinte dann zu Telemachos:
„Sie soll mich nur prüfen! Am besten in unseren Räumen, wo es besser und schneller geht."
Er blickte verächtlich auf die Lumpen, die er trug.
„Allerdings brauche ich neue Kleidung, und unsauber bin ich auch. Kein Wunder, dass deine Mutter misstrauisch ist!"
So kam es, dass Eurynóme, die Verwalterin des Palastes, ihrem Herrn ein Bad bereitete und ihn mit frischer Kleidung versorgte. Er war noch immer ein Mann von anmutigem Aussehen, fand die alte Frau, und daran, dass er es war, konnte man nicht ernsthaft zweifeln. Sie schüttelte den Kopf, wenn sie an ihre Herrin dachte.
Diese aber behielt ihre Zurückhaltung bei, auch später, als sie sich in ihrem Gemach befand und aus dem Bettler ein gut gekleideter Mann geworden war, der ihr gegenüber saß und ihr Herz schneller schlagen ließ.
Er begann:
,,Du bist zu mir wie zu einem Fremden."
Seine Stimme klang vorwurfsvoll.
,,Dabei haben wir uns länger als 19 Jahre nicht gesehen!" fügte er eindringlich hinzu, als passe das nicht zu dem, was er ihr vorwarf. .
Sie schwieg eine Weile. Dabei sah sie ihn mit zusammengepressten Lippen an, und ihre Augen straften seine Behauptung Lüge, denn sie waren groß und voller Sehnsucht. Odysseus seufzte, und weil er gerade dabei war, behauptete er auch noch, ihr Herz müsse aus Eisen sein.
,,Aus Eisen?" fuhr sie auf. „Wenn Du wüsstest, was ich gelitten habe, würdest Du das nicht sagen! Nein, in mir fließt warmes Blut, ich bin nicht stolz oder hochfahrend..."
Zögernd musterte sie ihn.
„Wie Odysseus aussah, als er sich nach Troja begab, weiß ich genau."
Aber 19 Jahre waren unendlich lang, dachte sie, das musste er doch verstehen, wenn er es wirklich war.
Plötzlich hatte sie einen Einfall, eine Eingebung von der Art, dass man später, wenn das Gespräch darauf kommt, betont, es sei völlig unverständlich, dass man nicht viel früher...
Sie wandte sich an Eurykleia, die ein wenig abseits mit dem Auswaschen von Töpfen beschäftigt war, angeblich weil sie immer den unwiderstehlichen Drang verspürte, sich nützlich zu machen, aber in Wahrheit vor allem, weil sie es vor Neugierde nirgendwo anders hielt.
„Eurykleia, lass bitte das Bett herrichten, aber nicht in der Kammer, die der König erbaut hat, sondern davor. Das Lager soll draußen aufgebaut werden, mitsamt Bettzeug, Decken und Kissen."
Odysseus musste lachen. Was ihn dazu reizte, war nicht nur der Umstand, dass sie zur Amme von ihm als dem König sprach, wie sie es auch früher zu tun pflegte.
„Wer soll das Bett von der Stelle bewegen?" fragte er. ,,Ich kenne keinen, der dazu imstande ist, und ich muss es wissen, denn ich habe es selber gebaut."
Ein Ölbaum hatte im Hof gestanden, mit länglichen Blättern und einem Stamm, so dick wie eine Säule. Um diesen herum hatte er die Kammer errichtet, die Tür eingesetzt, den Stamm von den Ästen befreit, den Stamm geglättet, schließlich das Lager selbst gebaut, mit allen Verzierungen aus Gold, Silber und Elfenbein...
,,Allerdings weiß ich nicht, ob das Bett noch im Erdreich fußt, ob vielleicht jemand den Stamm des Baumes zerhauen und das Bett verschoben hat!"
Das war endlich die Offenbarung, auf die sie so lange gewartet hatte! Das konnte nur Odysseus sagen, also musste er es sein, er, auf den sie so unendlich lange gewartet hatte, der Bettler, der Meisterschütze, ihr geliebter Held! Es hielt sie nicht länger in der Art, die sie längst als Pose empfand, in jener Abgeschiedenheit, von der sie nicht wusste, ob sie erzwungen oder selbst gewählt gewesen war, in der ständigen Furcht, die sie begleitet hatte seit jenem unseligen Tag der Abreise ihres geliebten Odysseus nach Troja. Er war es, er musste es sein!
Sie sprang auf, hatte das Gefühl, es verschlüge ihr den Atem, ging zögernd, als dürfe sie der eigenen Gewissheit nicht vertrauen, auf ihn zu und warf sich endlich dem Mann in die Arme, umschlang weinend vor Glück seinen Hals und gab ihm unendlich viele Küsse, von denen jeder nächste inniger als der vorhergehende war und dennoch jeder dieselbe Botschaft überbringen sollte.
„Verzeih mir, dass ich dir nicht gleich glaubte. Du warst ja nicht der erste, sondern einer von vielen, die mich umgarnten..."
Sie brach den Satz ab, weil sie merkte, dass solche Worte nicht hilfreich waren.
,,Ich kann es nicht fassen!" sagte sie hilflos, und ihre Augen baten um Verzeihung. Die Hände aber umklammerten ihn, zogen ihn aufs Lager, und er ließ es sich gefallen, riss ihr die Kleidungsstücke vom Leib und entledigte sich seiner eigenen in jener lustvollen Raserei, die keiner weiteren Worte bedarf.
So gab sie sich dem Manne hin, erstmals nach langer, langer Zeit, und um nicht weinen zu müssen vor lauter Glück, schrie sie und brüllte, dass es in seine Ohren drang und in seinem Innern widerhallte und auch er für kurze Zeit die Kontrolle verlor.
Als es dann vorüber war, streichelten sie ermattet ihre Körper, sich des Anderen vergewissernd, als könnten sie beide nicht glauben, was geschehen war.
,,Mein lieber Held! Du bist so stark!" sagte Penelope, und Odysseus strich ihr sanft über den Bauch und wünschte sich, dieser Moment dürfte nie zu Ende gehen.
,,Du musst mir noch viel erzählen, mein Held", sagte sie sanft.
Da nahm er sie in den Arm und begann. Sie lauschte seinen Worten aufmerksam, stellte Fragen vor allem dann, wenn es um andere Frauen ging, um Kirke, Kalypso und Nausikaa also, aber nicht, um ihn in Verlegenheit zu bringen, sondern um zu erfahren, was ihn angezogen hatte.
Natürlich wusste sie, dass - wie alle Krieger und: ja! Alle Männer! - auch er es in der Fremde nicht sein lassen konnte und dass die Treue, die sie gelobten, nicht wörtlich gemeint war! Da nachzuhaken war wenig ergiebig oder erfreulich. Letztlich tat eine Frau gut daran, sich Informationen, die ihr wichtig waren, von anderen zu holen.
Aber was für Frauen waren das, mit denen er anscheinend lange Zeit zusammen gelebt hatte? Odysseus, froh darüber, dass sie den Bereich ausließ, der ihm peinlich gewesen wäre, sparte seinerseits nicht mit Informationen, die den Alltag mit Kalypso, Kirke und Nausikaa betrafen, sei es Kirkes Vorliebe für üppige Pflanzen und Blumen, sei es Kalypsos Angewohnheit, sich mit farbigen Gewändern zu behängen, sei es Nausikaas Freude am Ballspielen. Was er mied, waren jene Augenblicke, in denen sie ihm zu Willen gewesen waren. Aber Penelope nahm ihm das nicht übel. Im Gegenteil: Alles, was er ihr verschwieg, sollte ihm verziehen sein!
„Ich freue mich so, dass du wieder da bist“, seufzte sie glücklich.
Als sie sich zu ihm umdrehte und über sein Gesicht strich, sah sie, dass er eingenickt war. Seufzend kuschelte sie sich an ihn und versuchte ebenfalls ein wenig zu schlafen.
Einige Zeit mochte verstrichen sein, als er auf einmal hochfuhr.
„Was hast du gesagt?"
Penelope antwortete verschlafen:
„Ich habe nichts gesagt, mein Liebster. Schlaf nur ein wenig!"
Sie gab ihm einen Kuss und verkroch sich unter der Decke. Da hörte er die Stimme wieder, diesmal ganz deutlich:
„Odysseus hat die Frauen getötet, hahaha! er hat alle Frauen getötet!"
Was war das? Diesmal fuhr er nicht auf, sondern blieb starr liegen. Was hatte das zu bedeuten? Ohne sich dessen bewusst zu werden, antwortete er der Stimme:
Nein, ich habe keine Frau getötet! Ich war es nicht, es war Telemachos! Aber die Stimme ließ sich nicht beirren, sondern wiederholte:
„Odysseus hat die Frauen getötet, hahaha! er hat alle Frauen getötet!"
Es war eine helle, kreischende Stimme, eine furchtbare Stimme, grässlich!
Odysseus schüttelte sich, und diesmal schreckte Penelope auf.
"Was ist denn? Hast du schlecht geträumt?"
Odysseus streichelte über ihr Gesicht.
„Ja“, sagte er, „ich habe schlecht geträumt." Er seufzte. ,,Lass uns liegen bleiben, es ist schön mit dir."
Die Stimme war verstummt. Odysseus grübelte, ob er sie kannte. Er kam zu keinem Ergebnis. Bald schlief er wieder ein.
Doch die Stimme ließ ihm keine Ruhe. Als er erneut in die Höhe fuhr, war es auch mit Penelopes Ruhe vorbei:
"Was ist mit dir, mein Lieber?" Sie sah ihn besorgt an.
„Es ist nur..." begann er, um dann gleich wieder abzubrechen. Er brachte es nicht über sich, ihr von der Stimme zu erzählen. Wie würde sie es aufnehmen?
„Die Frauen lassen mir keine Ruhe“, sagte er also nur.
„Welche Frauen?"
Ihre Stimme klang erstaunt.
,,Ach, du weißt schon!" meinte er unwillig. ,,Die nicht mehr leben, meine ich."
Da kreischte es in seinen Ohren:
„Odysseus hat die Frauen getötet, hahaha! er hat alle Frauen getötet!"
,,Nein!" rief er, ,,ich war es nicht! Telemachos war es! Er hat sie alle töten lassen!"
,,Aber Odysseus! Was ist nur mit dir? Wer sollte euch deshalb einen Vorwurf machen?"
Er hat einfach zuviel erlebt, dachte sie und drängte ihn sanft aufs Lager.
,,Mach dir keine Vorwürfe, sie haben verdient, was sie bekommen haben!"
Ihre Stimme klang hart. Aber dann kuschelte sie sich gleich wieder in seinen Arm.
„Sag mir lieber, ob ich dir gefehlt habe! Mein Held!"
Auf einmal bedrängte sie ihn zärtlich und stürmisch, und er ließ es gerne zu. Aber selbst jetzt ließ ihn der Gedanke an die Stimme nicht los. Die Befürchtung, sie wieder zu hören, nahm ihm viel von seiner Leidenschaft.
Ehe er später erschöpft einschlief, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass es schön sein müsste, immer nur weiter zu schlafen, ohne wieder aufzuwachen. Und ohne diese grässliche Stimme zu hören.

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