Beim alten Vater

Text

von  ManMan

Ölbäume und Eukalyptusbäume säumten den Weg durch das stachelige Gestrüpp. Die Sonne brannte vom blauen Himmel, als die vier Männer und die zwei großen Hunde sich auf den Weg machten. Zunächst schwiegen alle. Doch als sie die Stadt und den Palast hinter sich gelassen hatten, war es, als tauten sie auf aus einer Vereisung. Melanthios, der Rinderhirt, scherzte, man ginge zum Meer, wohin man sich auch wende. Ein alter Scherz auf Ithaka, und Eumaios ergänzte:
,,Es ist auch das Meer, von dem wir kommen!"
Odysseus schmunzelte. Er ging, zusammen mit seinem Sohn, voran, während Eumaios und Melanthios mit den beiden großen Hunden den Schluss des Zuges bildeten. Er war gut gelaunt. Er freute sich auf das Wiedersehen mit seinem Vater Laêrtes. Bis die Stimme wieder da war. Laut, schrill, deutlich. Abrupt machte er Halt.
„Was ist?"
Telemachos schaute seinen Vater erstaunt an, denn der stand da mit weit aufgerissenen Augen. Die beiden Hirten waren im Gespräch vertieft und bemerkten zunächst nichts. Erst als sie nicht mehr weiter konnten, ließen sie die Hunde Platz nehmen. Verwundert starrten sie auf Odysseus.
Der murmelte die Worte:
„Nein, so war es nicht!"
1hm war anzumerken, dass er sich von einem unangenehmen Gedanken zu befreien suchte.
„Vater, was ist denn?"
Odysseus wandte sich ihm zu und sah ihn mit einem durchdringenden Blick an. Telemachos erschauerte, ohne zu wissen warum.
„Lass nur, mein Sohn! Es ist nichts!"                                                                     

Er schulterte seinen Bogen und ging weiter voran. Keiner der anderen Männer sprach ein Wort, bis sie zu dem gepflegt aussehenden Anwesen kamen, das sich Laêrtes nach Auskunft Telemachs erworben und ausgebaut hatte, kurz nachdem die Freier sich im Palast niedergelassen hatten. Als Odysseus sich dem Tor näherte, wippten seine grauen, strähnigen Haare. Telemachos beobachtete ihn neugierig Er fragte sich, wie ihm wohl zumute war, wo er doch seinen Vater so lange nicht gesehen hatte. Ob dieser ihn erkennen würde? Ihm kam der Gedanke, dass er selber dem Heimkehrer nur ungenügend gezeigt hatte, wie sehr er sich darüber freute, dass er wieder auf Ithaka war. Aber die Taten, sprachen die nicht für sich? Es war ein gewaltiger Kampf gewesen, ein Problem, das unlösbar schien, bestand auf einmal nicht mehr! Was vor kurzer Zeit unvorstellbar schien, war Wirklichkeit, und nur deshalb, weil er zurückgekommen war. Telemachos seufzte halblaut. Sogleich eilten die Hunde herbei. Sie spürten seine Stimmung und wedelten Anteil nehmend mit dem Schwanz. Er stellte sich zwischen die beiden und tätschelte ihre Köpfe.
Aus dem Wirtschaftsgebäude zur Linken kam ein altes Weib herbeigelaufen, eine Sikulerin, die Laêrtes versorgte. Sie lebte hier mit zwei früheren Sklaven, Freigelassenen also, wie es sie überall auf den Inseln gab.
Als Odysseus nach seinem Vater fragte, wies die Frau stumm auf den Garten hinter dem Hauptgebäude.
„Geh mit den anderen ins Haus“, sagte Odysseus zu Telemach. „Bereitet ein Mahl vor. Ich komme später."
Telemachos nickte, ohne etwas zu erwidern und kam dem Wunsch seines Vaters nach.
Laêrtes hatte gerade damit begonnen, einen Strauch einzugraben. Sein Leibrock war schmutzig und geflickt, um die Waden hatte er Gamaschen aus Rinderhaut gewickelt. Auf dem Kopf trug er eine Ziegenfellmütze. Seine Augen blickten traurig. Odysseus beobachtete ihn von einem Platz etwas abseits unter dem großen Birnbaum. Der alte Mann hatte weder ihn bemerkt noch die Männer, die in sein Haus gegangen waren. Offenbar hörte er nicht mehr gut. Sein Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen, unter den Augen hingen wulstige Tränensäcke. Er ist noch magerer als früher, stellte Odysseus fest. Nachdem er ihn eine Weile beobachtet hatte, löste er sich aus dem Schatten des Baumes und trat auf Laêrtes zu.
„Mein Alter, Ihr scheint geschickt bei der Gartenarbeit zu sein. Ich habe Euch zugesehen."
„So, habt Ihr das?"
Laêrtes hob den Kopf und warf dem Fremden einen flüchtigen Blick zu, ohne beim Graben innezuhalten.
„Die Wurzel muss tief hinein, damit der Strauch genug Wasser erhält. Ihr müsst wissen, Fremder, dass wir auf Ithaka viel Grundwasser haben..."
Er stieß die Schaufel kraftvoll in den Boden.
„Euch selber scheint Ihr weniger Pflege zukommen zu lassen!"
Der alte Mann machte verächtlich Pah! , wobei sich sein Gesicht verfinsterte:
„Wem liegt daran, ob ich gepflegt bin oder nicht?" .
„Habt Ihr denn niemanden? Wem gehören die Häuser und der Garten?"'
„Was kümmert Euch das?"
Ein merkwürdiger Fremder, dachte er, hielt mit der Arbeit inne und musterte ihn. Die Gesichtszüge kamen ihm vertraut vor...
Nach einer Weile meinte er:
„Meine Frau ist tot, mein Sohn ist in der Fremde, aber vielleicht lebt er auch nicht mehr. Ich weiß es nicht."
Er schwieg eine Weile. Dann hob er den Kopf und wies mit der Hand in die Richtung, aus der Odysseus gekommen war:
„Im Palast, wo ich früher zu Hause war, wohnen jetzt fremde Männer, die um die zurückgebliebene Gattin freien. So, als könnte jeder, der wollte, sie sich nehmen! Wäre ich nur jünger! Ich würde sie eigenhändig verjagen. Aber so?"
In seiner Stimme lag Verbitterung und seine Augen füllten sich mit Tränen. Was musste der alte Mann durchgemacht haben!
Es war an der Zeit, dem Versteckspiel ein Ende zu bereiten.
„Die Männer im Palast gibt es nicht mehr“, sagte Odysseus langsam und betont. „Und dein Sohn ist zurückgekehrt!"
Einen Augenblick war es still. Dann fragte der Alte unwirsch:
„Was redet Ihr da? Wollt Ihr mich verspotten?"
,,Nein. Ich weiß, wovon ich rede! Ich selber war es, der die Freier besiegt hat, übrigens zusammen mit meinem Sohn Telemachos."
„Was sagt Ihr da?"
Ungläubig starrte der Alte ihn an.
Da zog der Fremde das Beinkleid ein Stück hoch und wies auf das nackte Bein.
,,Hier, Alter! Kennst du jemand anderen, der eine solche Narbe hat? Von den Hauern eines Ebers!"
Sein Gesicht war dem des Alten ganz nah.
„Dreizehn Birnbäume hast du mir einst geschenkt, Vater, und zehn Apfelbäume und vierzig Feigenbäume und fünfzig mit Reben bestandene Reihen."
„Ihr wollt sagen, ich meine, du sagst, dass du..."
Er brach ab und schüttelte sich, als wollte er ein Gespenst verjagen.
„Träume ich denn? Das kann nicht wahr sein!"
Da hielt es seinen Sohn nicht länger. Er machte einen Schritt auf den alten Mann zu und umschlang ihn kurzerhand mit bei den Armen. Er drückte ihn an sich, als wollte er ihn nie mehr loslassen. Und der Alte ließ es sich gefallen.
„Mein Odysseus“, schluchzte er, „dass ich das noch erleben darf!"
,,Ach Vater!" entgegnete Odysseus, der sich ebenso hilflos wie gerührt fühlte. Und dann war der Moment da, wo alle Fremdheit verschwand, wo ein kleiner Augenblick die alte Vertrautheit wieder herstellte, obwohl sich Vater und Sohn länger als ein Jahrzehnt nicht gesehen hatten. Erst viel später ließen die Männer voneinander ab und musterten sich, als gelte es herauszufinden, was die Dauer bewahrt und was die Zeit getilgt hatte.
„Deine Augen würde ich unter hundert anderen wieder erkennen“, meinte Odysseus.
Laêrtes winkte ab..
,,Der Glanz lässt nach, wenn man älter wird, mein Sohn."
Odysseus nickte. Dann meinte er nachdenklich:
„Sag, Vater, bist du auf eigenen Wunsch hierher gezogen? Oder haben sie dich vertrieben?"
Der alte Mann holte tief Luft, stützte sich auf den Spaten, der im Boden steckte und erwiderte langsam:
„Sollte ich dableiben? Untätig mit ansehen, wie fremde Männer um die Frau meines Sohnes buhlten? Wie sie nach und nach unser Hab und Gut verprassten? Wie sollte ich das aushalten?"
Zärtlichkeit für den Vater wallte in Odysseus auf, und er legte einen Arm auf seine Schulter.
„Das ist jetzt vorbei, glaube mir!"
„Du hast sie also erledigt? Aber wie? Sie waren so viele! Hattest du Helfer?"
„Ich will es dir später genau erzählen“, versprach der Sohn. ,“Lass uns ins Haus gehen. Wir haben Fleisch mitgebracht. Ich rieche, dass wir bald essen können."
In der Tat hatten die Hirten bereits begonnen, das Fleisch zu zerteilen und den Wein zu mischen. Alles war also vorbereitet. Aber Laêrtes bestand darauf, vor dem Essen ein Bad zu nehmen. Odysseus schickte nach neuen Kleidern. Als Laêrtes hinausgegangen war, meinte Odysseus zu den anderen Männern, sie könnten sich ruhig ein wenig um die Arbeit im Garten kümmern. Da verstanden die Hirten, dass sie ihn allein lassen sollten.
Laêrtes wirkte gebadet und frisch eingekleidet größer und kräftiger. Odysseus schickte auch die sikulische Magd aus dem Raum und erhob seinen Weinbecher.
„Lass uns auf unser Wiedersehen trinken, Vater!"
„Und auf deinen Mut, mein Sohn!"
Er setzte den Becher ab und wischte mit dem Handrücken über seine Lippen.
„Du hast sie also alle getötet?"
Odysseus nickte. Alle getötet, wiederholte er leise, ja alle getötet. Dann atmete er heftig aus. Unversehens fühlte er Angst aufsteigen, Angst davor, dass die Stimme sich wieder meldete. Hastig meinte er, so gelassen es nur ging:
„Telemachos hat mir geholfen, er ist ein großartiger Kämpfer. Und dann hatte ich noch die beiden Hirten auf meiner Seite."
,,Athene wohl auch:' fügte Laêrtes hinzu. „Ohne ihre Hilfe hättet ihr es kaum geschafft." Wieder nickte Odysseus, schwieg aber. Sein Vater fragte:
„Haben die Freier heftig gekämpft? Wie hast du es nur geschafft? Willst du es mir nicht erzählen?"
Sie tranken erneut aus ihren Bechern, und Odysseus schilderte den Ablauf des Kampfes. Laêrtes war sehr an Einzelheiten interessiert, nickte häufig und verhehlte seine Bewunderung nicht.
„Du hast sie also alle getötet“, meinte er schließlich, und obwohl es gemeint war wie eine sachliche Feststellung, zuckte Odysseus zusammen. Laêrtes fügte hinzu:
„Hoffentlich finden sich ihre Familien damit ab."
„Sollen sie doch kommen“,  meinte Odysseus. „Wir geben ihnen die Geschenke zurück, dann werden sie ruhig bleiben."
Beide schwiegen eine Weile. Dann meinte Odysseus in einem jähen Versuch, sich seinem Vater mitzuteilen:
"Wenn nur das mit den Frauen nicht gewesen wäre!"
Laêrtes zog die Augenbrauen hoch.
"Was meinst du?"
„Ich meine die Sklavinnen, die es mit den Freiern getrieben haben. Telemachos war so zornig auf sie, dass er für jede einen Strick genommen hat. Ich sehe noch ihre Füße baumeln..."
Er brach ab. Laêrtes musterte ihn.
„Tut es dir Leid um sie?"
,,Ach, ich denke, sie haben ihr Los verdient“, sagte Odysseus. ,,Aber..."
Wieder hielt er inne. Laêrtes merkte, dass es ihm schwer fiel, davon zu reden und wartete ab.
„Manchmal sagt mir eine Stimme, dass ich sie alle getötet habe."
Laêrtes sah ihn verwundert an, schwieg aber.
„Die Stimme einer Frau ist es, eine hämische und schrille Stimme. Ich hätte sie alle getötet, behauptet sie, dabei war ich es doch gar nicht, sondern Telemachos!"
Laêrtes musterte ihn schweigend.
„Hätte ich ihn daran hindern sollen? Sie hatten doch Verrat geübt!"
Den letzten Satz stieß er erregt hervor, und das lag daran, dass er gerade jetzt wieder die Stimme hörte, schrill und hämisch, wie er es seinem Vater geschildert hatte. Begann er, sich vor dieser Stimme zu rechtfertigen?
Indessen hatte auch Laêrtes Mühe, sich zurecht zu finden.
,,Eine Frauenstimme?" fragte er besorgt. „Wann hast du sie zuerst gehört?"
,,Das ist es ja!" stieß Odysseus erregt hervor. „Als ich mit Penelope zusammen war, hörte ich sie zuerst und dann immer wieder!"
Durch das Fenster konnte man sehen, dass sich die bei den Hirten dem Haus näherten. Laêrtes sagte hastig:
„Wir reden später weiter, mein Sohn! Wir werden einen Ausweg finden!"
Die Tür wurde geöffnet.
„Treibt euch der Hunger zurück?" sagte Laêrtes möglichst unbefangen. „Dann lasst uns endlich mit dem Mahl beginnen!"
Während der Mahlzeit tranken sie Wein und taten den Hirten gegenüber, als sei nun alles in bester Ordnung. Aber Laêrtes ahnte, dass die Schwierigkeiten, die sein Sohn hatte, ernst zu nehmen waren.
Als das Mahl vorüber war, die alte Frau abgeräumt hatte und der greise Laêrtes wieder allein war mit seinem Sohn, nahmen sie das Gespräch an dem Punkt auf, an dem sie es vorher abgebrochen hatten. Laêrtes war besorgt. Er sagte, er könne sich jene Stimme, die sein Sohn zu hören vermeine, nur erklären als eine Art göttlichen Hinweis.
„Man hört bisweilen von Menschen, die solche Hinweise erhalten. Aber was es genau bedeutet... "
Er sah Odysseus nachdenklich an. Dann fuhr er fort:
„Was du damit anfangen kannst, das muss dir jemand sagen, der sich auf diese Dinge und ihre Deutung versteht. Hinweise der Götter müssen wir sehr ernst nehmen!"
Nach einer Pause fügte er hinzu:
„Auch dann, wenn wir glauben, dass es nicht zutrifft."
Odysseus nickte und sah seinem Vater in die Augen.
„Ich fürchte diese Stimme inzwischen mehr als vor Skylla und Charybdis und den Sirenengesang... "
Schwer atmend hielt er inne.
Laêrtes wartete und beobachtete seinen Sohn. Erst als klar war, dass er nicht weiter sprechen wollte, meinte er:
„Ich weiß von einer Priesterin im Norden der Insel. Sie hat lange Jahre beim Zeus-Orakel in Dodona die Kunst des Orakel-Deutens gelernt und hilft noch immer den Menschen, die zu ihr kommen, dass sie den Willen der Götter verstehen. Allerdings weiß ich nicht, ob sie dir helfen will. Immerhin bist du der König von Ithaka..."
Odysseus tat das mit einer ungeduldigen, abschätzigen Handbewegung ab:
„Das lass meine Sorge sein! Sag mir, wie sie heißt und wo ihr Haus liegt."
„Ihr Name ist Niktossa, und sie wohnt allein in einem Haus aus Stein. Ich gebe dir jemanden mit, der den Weg kennt."

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram