Antikes LyrIch

Essay zum Thema Literatur

von  loslosch

Nam castum esse decet pium poetam
ipsum, versiculos nihil necessest [necesse est].

(Catull, etwa 80 bis 50 v. Chr., Carmina 16, V. 5, 6.)
Denn es steht dem gewissenhaften Dichter gut an, züchtig zu sein, für seine Verslein ist´s nicht erforderlich.

Im Kontext gelesen, von Catull beißend ironisch gemeint. Isoliert V. 5 und 6 der Carmina 16 betrachtet, liest es sich wie die Geburt des lyrischen Ichs: Vom Inhalt des Poems kann nicht auf den Lebenswandel des Autors geschlossen werden.

So weit, so gut. Vor den Versen 5, 6 steht Vers 1, der vollkommen "unkonventionell" geraten ist ("Pedicabo ego vos et irrumabo"). Jetzt wird deutlich, dass es sich um einen obszönen Text handelt. Laut Wiki (in der Englisch-Fassung) das obszönste Gedicht der lateinischen Kulturgeschichte, vermutlich der Weltliteratur überhaupt. Die Übersetzung sei erst seit der 2. Hälfte des 20. Jhs. öffentlich zugänglich.

Formale und sprachliche Anforderungen beherrschte Catull (er wurde nur 30 Jahre alt). Nur daran dürfen sich weltweit kursierende konkurrierende Schmuddelverse seither messen lassen.

Man lese die Sentenz (V. 5, 6) erneut. Welch ein Understatement!


Anmerkung von loslosch:

Der Eingangsvers handelt gleich von der Unzucht junger Männer mit Knaben (anal, oral).

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Peer (22.01.10)
Ich denke auch manchesmal: Hoffentlich schließt von meinen Texten keiner auf meine Person. Aber weitestgehend muss man doch konstatieren, dass das, was man zu Papier brachte, zuvor auch durchgedacht wurde, also zu einem gewissen Maß vom Verfasser geistig abgenickt wurde. Auf jeden Fall ein praxisbezogeneer Text.;-)
LG Peer
janna (60) meinte dazu am 22.01.10:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 loslosch antwortete darauf am 22.01.10:
@ Peer: Merci. Sehr praxisbezogen, ja. Wer science fiction schreibt, ist natürlich fein raus. Ansonsten: Gut beobachtet! Übrigens: Ich war und bin kein Säälendoktor. :)

Hast Du auch die Anmerkung goutiert? Lothar

@ janna: Beim Mörder oder Kannibalen hast Du natürlich recht. Ich hoffe mal!! Wenn man aber als Seelenklempner alle Beiträge einer/s Autorin/ Autors durchgeht, kriegt man eine Menge raus. Ich will hier niemand negativ outen, daher das andere Extrem: Bei Ulli Bergmann ist der analytische "Ertrag" am Geringsten.

Hier eine Lanze fürs ach so unmoderne Reimen: Gereimt kann der Autor sich besser hinter dem LI verstecken. Meine "Problematik", seit ich viel Prosa produziere, nachdem ich Dutzende von Poemen eingestellt hatte: Die alten Römer sind hier mein quecksilbriges Ego. :) Lothar

 Emotionsbündel (24.01.10)
Über Catull aus Wikipedia:

"In carmen 16 verwahrt sich der Dichter persönlich dagegen, von seiner Lyrik auf seinen Lebenswandel zu schließen: In diesem Gedicht droht Catull zwei Freunden orale und anale Vergewaltigung an, weil sie auf Grund seiner Kussgedichte (carmina 5 und 7) behaupten, ihm mangele es an Sittlichkeit. Catull betont, dass der Dichter stets keusch und züchtig sein müsse, nicht aber seine Gedichte, die er ironisch als Masturbationsvorlagen für ältere Herren beschreibt („qui tum denique habent salem ac leporem, si ... quod pruriat incitare possunt, non dico pueris, sed his pilosis, qui duros nequeunt movere lumbos“); abschließend wird die derbe Drohung des Anfangs wiederholt."

Lieber Lothar,

.."die Geburt des lyrischen Ichs" passt hierzu wie die Faust aufs Auge...

Allerdings halte ich persönlich überhaupt nichts vom LyrI und ich finde es absolut lächerlich, wenn Autoren darauf hinweisen, dass es in einem Text (doch nur) um das LyrI geht. Auch wenn ein Schreiber in jede beliebige Person hineinschlüpfen kann, bleibt es m.E. gar nicht aus, dass stets Erfahrungen (wie einschneidend auch immer), Beobachtungen, Gedanken und natürlich auch Wünsche und Träume das Geschriebene prägen und somit immer ein Fünkchen Wahrheit und Realität darinnen steckt - ob man will oder nicht...

...um auf Catull zurückzukommen...

Vor ein paar Jahren hatte ich das Vergnügen, die Worte des Catull (mit "meinem Chor" und dem Opernchor) nach monatelangem Üben, auf der Bühne vorzutragen (auf Latein und fast ausschließlich a-capella). So manch einer von uns Sängern ging des Öfteren mit aufgewühltem Gemüt aus der Probe nach Hause *grins*.....war ne schöne Zeit....

Es waren übrigens die Worte des Catull, die von Carl Orff als Catulli Carmina vertont wurden und in dem das bekannte odi et amo vorkommt.

"Die Transposition von lyrischer Dichtung in Ludi scaenici (so der Untertitel des Werkes) ist gerade in den Catulli Carmina von besonderem Reiz. Während aus der Vagantenlyrik der Carmina Burana und aus den frühgriechischen Liedern des Trionfo di Afrodite typische, namenlose Figuren als Akteure herausgelöst werden, erscheint in Catulli Carmina die Person des Dichters als Zentralfigur auf der Bühne. Das biographische „Ich“ des Dichters wird paradigmatisch erhöht: an Catull selbst wird der unselige Zwiespalt der Liebe im Miteinander von Liebe und Hass demonstriert (das berühmte Epigramm Odi et amo bildet die Klammer). Diese Form rechtfertigt sich aus der Eigenart seiner Lyrik als ausgesprochener Bekenntnisdichtung."[/qoute]

Vorweg das Praelusio der jungen Mädchen und Männer und der alten Männer:

eis aiona ! tui sum!
Für immer! Dein bin ich!

tu mihi cara, mi cara amicula, corculum es!
Du bist mein teures, mein teures Liebchen, mein Herzchen!

dic mi, te me amare!
Sag mir, dass du mich liebst!

O deine Augen, deine leuchtenden Augen, sie blitzen, sie reißen mich fort, wie ein Spiegel.

O deine schmeichelnden, schmeichlerischen Lippen!
Zum Spiel locken sie.
O deine Zunge, ununterbrochen zuckt sie ständig, wie eine Schlange.
Hüte dich vor meiner Schlange, sonst beißt sie dich.
Cave meam viperam, nisi te mordet.
Morde me! Basia me!
Beiß mich! Küss mich!

in te habitant
omnia gaudia, omnes dulcedines, omnis voluptas.
in te, in tuo amplexu,
in tuo ingente amplexu,
tota est mihi vita.

In dir wohnen alle Freuden, alle Wonnen, jede Lust.
In dir, in deiner Umarmung, in deiner heftigen Umarmung,
liegt mein ganzes Leben.

O deine zarten Brüste, lieblich angeschwollen,
doppelte Früchte!
Meine Hand ist begierig, o ihr prallen Brüste,
jene heftig zu fassen, zart zu beschwichtigen

O dein Glied, begierig springend,
hüpfend wie ein Fischchen, daß sich sehnt
nach deiner Quelle.
Meine Hand ist begierig, jene zu fassen,
mit frivolem Händchen.

O res ridicula, immensa stultitia.
So etwas Lächerliches, ungeheurer Blödsinn.

Nihil durare potest tempore perpetuo.
Nichts hat auf Dauer Bestand.

Sublata lucerna nulla est fides, perfida omnia sunt.
Wenn die Lampe verloschen ist, gibt es keine Treue mehr,
alles ist treulos.

O vos brutos, vos stupidos, vos stolidos!
O ihr Blöden, ihr Dummen, ihr Törichten!

audite ac videte: Catulli Carmina
Hört und seht die Lieder des Catull

Odi et amo
Ich hasse und liebe

Vivamus mea Lesbia, atque amemus,
rumoresque senum severiorum omnes unius aestimemus assis!
Lass uns, Lesbia, leben, lass uns lieben
und für alles Gezeter strenger Greise lass uns nicht einen einz'gen Heller geben.

Da mi basia mille...
Gib mir tausend und aber hundert Küsse, dann noch tausend und nochmals hundert Küsse, noch ein Tausend und wieder hundert Küsse!
Wenn vieltausend von Küssen dann beisammen, flugs vergessen, getilgt die Summe, daß ja keiner scheel sie besähe und uns schade, wenn er sämtliche Küsse Zahl gefunden!

Noch kein Weib fürwahr durfte heißerer Liebe sich rühmen, als ich für Lesbia sie stets in dem Herzen gehegt. Noch kein Bund war jemals von höherer Treue getragen, als sie bei mir sich fand stets in der Liebe zu dir.
Dahin, o Lesbia, ist mein Herz nun gekommen - durch deine Schuld - und hat es sich selbst durch seine Dienste gebracht, dass ich dich weder zu achten vermag - und würdest du fehllos, noch vom Begehren lass - auch wenn das Ärgste du tust.


(so der grobe Rahmen)
so viel zu Catull...

Lieben Gruß,
Judith

 loslosch schrieb daraufhin am 24.01.10:
Das Lateinische werde ich mir noch zu Gemüte führen, mit Pons, versteht sich. Wir haben ja sowas nicht annähernd gelesen. Den Asinus aureus von Ovid (der goldene Esel) haben sich aber einige Primaner damals als Taschenbuch in Deutsch beschafft. Odi et amo hatte ich im Internet gesehen. Zuerst dachte ich: Catull kennt das Borderline Syndrom. :)

Ansonsten: Ich weiß, was ich alles nicht im LyrIch ausgeführt habe. Da bleibt noch Raum für Judith, etwas Neues zu fabrizieren.

Nebenbei: Wir Palindrom-Geschädigten sind nicht die Allerblödesten hier ... Lothar

 Emotionsbündel äußerte darauf am 24.01.10:
1. Hast du dich gerade wie der Allerblödeste gefühlt?
Beim Schreiben meines Ergusses habe ich in keinster Weise daran gedacht, du könntest dich so fühlen...
Ich wüsste auch nicht warum...

2. Auf das LyrI bin ich überhaupt nicht gut zu sprechen und da springe ich leider nur allzu schnell drauf an...ist doch nett, dass du noch Raum für mich gelassen hast....

3. Bei Catull finde ich es einfach nur faszinierend, was er vor langer Zeit in Worte gefasst hat. Ich kannte ihn bisher nur von meinem Singen aus Catulli Carmina
Dass ich ihm hier nun wieder begegne in Verbindung mit der Geburt des LyrI gab mir Anlass, mich hier auszutoben.

... Borderline...hmmm?
Danke für den Hinweis...

LG Judith
Graeculus (69)
(31.07.15)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 loslosch ergänzte dazu am 31.07.15:
der hatte sogar mehr sarkasmus.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram