Die Priesterin

Text

von  ManMan

Der Weg führte an der Küste entlang, wand sich wie ein Band um die zum Meer abfallenden Höhenzüge, die Ithakas Landschaft prägen. Ein angenehmer Weg, vor allem jetzt, wo die Hitze des Sommers einem angenehmen, milden Wetter gewichen war. Die stacheligen Sträucher hatte jemand so gestutzt, dass sie den Wanderer nicht behinderten. Wenn Odysseus dennoch die Schweißperlen von der Stirne tropften, musste es andere Ursachen haben.
An einer alten, knorrigen Steineiche verließ er den Weg und arbeitete sich mit seinem Schwert durch das Gestrüpp. Wie Laêrtes gesagt hatte, sah er bald das steinerne Haus, das mit blauer Farbe angemalt war, so blau wie der Himmel und das Meer.
Hinter einer Fichte blieb Odysseus stehen, als sei der Weg noch immer nicht lang genug gewesen, um sich Klarheit zu verschaffen. Wie gut, dass die Stimme schwieg! Er holte tief Luft, ließ sie in die Brust strömen und atmete bedächtig wieder aus, als könnte er so die Erinnerung an den Traum der letzten Nacht verdrängen. Gleichzeitig wusste er aber bereits von der Vergeblichkeit dieses Bestrebens, denn was sich auf dem langen Marsch vom Königspalast in den Norden der Insel nicht abschütteln ließ, das würde ihn auch hier bedrängen!
Eine riesige Wolke war auf ihn zugeschwebt, dunkel, bedrohlich abgesetzt vom klaren, blauen Himmel. Er rannte fort, versuchte ihr zu entfliehen, doch so sehr er sich auch anstrengte, die Wolke kam immer näher. An ihr war etwas unbestimmt Bedrohliches. Zeitweilig war ihm, als liefe er auf der Stelle, ohne vorwärts zu kommen. Dann war sie da, umhüllte ihn mit grässlicher Feuchte, raubte ihm die Sicht. Und das Bedrohliche zeigte sich rasch:
Direkt aus der Wolke ertönten schrille, unerträglich grelle Stimmen, diesmal von verschiedenen Frauen, die alle dieselbe Anklage vorbrachten, dass er die Frauen getötet habe, dann das Lachen, und noch einmal die Anklage, er sei es gewesen, er habe alle getötet!
Odysseus konnte sich nicht daran erinnern, dass er in seinem Leben als Erwachsener jemals solche Verzweiflung empfunden hatte wie in jenem Traum.
Schließlich gelang es ihm aber doch, sich aus der Wolke herauszukämpfen. Die Hände noch immer an die Ohren gepresst, rannte er davon, befand sich auf einmal unversehens auf einem breiten, geraden Weg, der aber ebenso abrupt an einem Felsen endete, der steil hinab fiel in das Meer.
Und da brauchte Odysseus nur die Arme zu bewegen, und schon flog er... ja! wie ein großer Vogel flog er von diesem Felsen hinab dem Meer entgegen, und kurz danach landete er sanft auf dem Wasser…
Odysseus wachte auf. Obwohl Penelope sich an seine Schlafstörungen längst gewöhnt hatte, wandte sie sich ihm diesmal doch sehr besorgt zu und erkundigte sich, was ihm widerfahren sei und weshalb er so schlecht träume. Ob er sich am Ende wieder Vorwürfe mache wegen der widerlichen Weiber, die doch nur ihr verdientes Ende gefunden hätten?
Odysseus hatte keine Antwort gegeben, sondern sich umgedreht und vorgetäuscht, dass er wieder schliefe. In Wirklichkeit war die eine Stimme wieder da. Immer wieder hämmerte sie ihm den einen Satz ein, bis der Morgen kam und ihn erlöste. Er stand auf, wusch sich das Gesicht und war sehr erleichtert, weil
er nur noch Vogelstimmen, Hundegebell, das Krähen zweier Hähne und das Lachen von zwei oder drei Sklavinnen aus der Küche hörte. Was für eine Nacht!
Immer wieder hatte er überlegt, ob es besser wäre, aufzustehen, doch anderseits wusste er, dass die Stimme völlig unberechenbar ertönte. Also blieb er liegen.
Aber er wusste, dass er Hilfe brauchte, und zwar so bald wie möglich. So war er noch am selben Morgen losgegangen.
Laêrtes hatte von einer alten Frau gesprochen. Allerdings hatte er nicht gesagt, dass sie blind war. Sie saß im Halbdunkel, in einem abgenutzten, knarrenden Korbsessel, und ihre weit geöffneten, unbeweglichen Augen schienen, als Odysseus durch die Tür eintrat, über ihn hinweg zu schauen.
„Sagt mir, wer Ihr seid, und ob Ihr in friedlicher Absicht kommt!"
Ihre Stimme klang dunkel, angenehm dunkel, und beim Sprechen blitzten wie ein Kontrast dazu überraschend weiße Zähne auf.
Es raschelte im Kamin. Erst jetzt bemerkte Odysseus die Katze, die mit einem schwarzen, angebrannten Holzstück spielte. Die Alte beugte sich vor, ahmte mit den Fingern der linken Hand spielerisch ein trippelndes Geräusch auf dem hölzernen Boden nach. Sofort kam die Katze herbei und sprang der Alten auf den Schoß.
,,Meine Absicht ist friedlich, gewiss, aber zuerst müsst Ihr mir sagen, ob Ihr die Priesterin Niktossa seid!"
Sie stieß ein kurzes Lachen aus, das nicht lustig klang.
„Priesterin Apolls war ich, ja, in Ephesos und auf Zakynthos. Dann ist in Ephesos der Tempel abgebrannt... "
„Und auf Zakynthos?"
,,Dort war ich so lange im Apollo-Heiligtum, bis die immer währende Dunkelheit über mich gekommen ist."
Odysseus hatte sich auf einer Steinbank niedergelassen und den Bogen neben sich auf den Fußboden gelegt.
„Ein alter Mann hat mir von Euch erzählt. Er behauptet, Ihr würdet Menschen dabei helfen, dass sie die Götter verstehen."
Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und redete behutsam. Es galt, ihre Hilfe zu gewinnen. Die Priesterin aber war offensichtlich erheitert.
„Die Götter verstehen! Welcher Sterbliche kann das schon!"
„Und wenn sie zu mir sprechen!"
Odysseus stieß die Worte hervor. Es gelang ihm nicht länger, seine Erregung zu verbergen.
„Es muss eine Göttin sein! Und sie macht mir immer denselben, unberechtigten Vorwurf, immer denselben!"
„Einen Vorwurf?" wiederholte die alte Frau mit gerunzelter Stirne. „Was für ein Vorwurf ist das?"
,,Ich soll die Frauen getötet haben..."
„Welche Frauen?" Ihre Stimme klang erstaunt.
„Gemeint sind die Weiber, die es in meiner Abwesenheit mit anderen Männern getrieben haben, in meinem Palast, vor den Augen meiner Gattin, vor den Augen meines Sohnes..."
Bei den letzten Worten lauschte die Alte besonders aufmerksam. Kurz darauf erhob sie sich, was ihr sichtlich Mühe bereitete. Sie verneigte sich und sagte mit klarer Stimme:
"Demnach seid Ihr der berühmte Odysseus?"
„Ja, aber woher..."
Niktossa gebot mit einer Handbewegung Schweigen.
,,Dein Sohn Telemachos hat mich in Zakynthos besucht."
„Telemachos?" fragte Odysseus ungläubig.
Die Priesterin, die wieder Platz genommen hatte, nickte und ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht.
„Ja, Euer Sohn. Er wollte Auskunft von mir, ob sein Vater noch am Leben wäre."
„Und was habt Ihr...ich meine..."
„Apollo gab mir keine Antwort, als ich ihn fragte. Die Götter hatten sich noch nicht entschieden, ob Ihr weiter leben solltet."
Sie hielt inne, und jetzt schien es, als ob ihre blinden Augen, die genau auf den Mann gerichtet waren, ihn sehen könnten.
„Ihr habt viel erlebt, nicht wahr? Euer Leben war oft in Gefahr?"
„Ja, das war es“, bestätigte Odysseus nüchtern. ,,Ich habe um mein Leben kämpfen müssen."
Er schwieg. Nach einer Weile meinte Niktossa: i
„Ihr habt von getöteten Frauen gesprochen und von einer göttlichen Stimme. Erzählt es mir genauer! "
Da begann Odysseus zu reden, und die Alte hörte ihm zu. Wenn er später darüber nachdachte, fragte er sich, wie die Priesterin es geschafft hatte, so schnell sein Vertrauen zu gewinnen. Eine alte, blinde Frau. Aber sie hatte etwas Besonderes an sich, das anderen Menschen fehlte.
So begann er, die Ankunft in Ithaka zu schildern, die Vorbereitungen auf den Kampf im Palast und den Kampf selbst. Es wurde eine lange Erzählung. Zunächst fiel es ihm nicht leicht und er geriet öfter ins Stocken. Aber sie drängte nicht, sondern hörte geduldig zu, mit ernstem Gesicht. Und dann stellte sich bei ihm das Gefühl ein, dass jeder Satz, den er sprach, ihn von einem Teil seiner Last befreite. Solche Erleichterung hatte er lange nicht verspürt.
Schließlich endete er damit, wie der letzte Freier sein Leben ausgehaucht hatte. Die Priesterin wartete. Als nichts mehr von ihm kam, und nur noch als sein heftiger Atem zu hören war, fragte sie mit leiser Stimme:
„Wie geht es weiter? Ihr habt von getöteten Frauen gesprochen."
Sie bemühte sich um einen sachlichen Tonfall, denn sie spürte, wie schwer es dem Mann fiel, weiter zu reden.
„Telemachos und ich haben ihnen die Hände auf den Rücken gebunden und ihnen einen Strick um den Hals gelegt."
Er stockte. War es wirklich so gewesen? Und warum meldete sich die Stimme jetzt nicht?
,,Haben sie sich gewehrt?"
Odysseus schüttelte den Kopf. Sein Gesicht war bleich.
„Nur zwei von ihnen haben geschrieen. Ein lautes Kreischen. Bis zum Ende.."
„Sie haben also irgendwann aufgehört, mit den Beinen zu strampeln, weil der Strick sich immer enger um ihren Hals zog?“
„Ja“, bestätigte Odysseus mit leiser Stimme, "weil sie tot waren."
„Wie fühlt Ihr Euch, wenn Ihr daran denkt?"
,,Ich habe viele Feinde töten müssen..."
,,Feinde?" unterbrach Niktossa ihn. ,,Es waren Frauen!"
,,Aber ich habe sie ja nicht allein getötet!"
,,Hättet Ihr es verhindern können?"
„Verhindern?"
Odysseus musste sich beherrschen, konnte kaum seinen Wunsch unterdrücken, aufzuspringen und wegzugehen. Die Priesterin merkte es.
,,Ihr braucht mir heute keine Antwort auf diese Frage zu  geben."
Odysseus nickte und erhob sich.
„Ich gehe jetzt."
Die Priesterin sagte:
„Ich weiß, dass Ihr wiederkommen werdet."
Der Mann blieb im Türrahmen stehen und drehte sich fragend um.
„Wegen der Antwort“, erklärte sie. ,,Damit Ihr mir die Antwort geben könnt."

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