Väter der Klamotte

Erzählung zum Thema Beobachtungen

von  Mutter

Ich reagiere nicht, und ihre Erwartungshaltung wird unterbrochen durch Gabi, der nach vorne tritt. Erleuchtet vom weißen Ausschnitt auf einer improvisierten Bühne. Er begrüßt uns, macht ein, zwei flockige Bemerkungen, bekommt ein paar Lacher. Genug, um seinen Auftritt nicht peinlich sein zu lassen. Nicht genug für Gabi. Er lächelt, ich erkenne die Gezwungenheit darin. Aber anstatt den Kampf aufzunehmen, einen impromptu Versuch als Comedian hinzulegen, überlässt er dem Zelluloid die Bühne.
Kündigt einen Kurzfilm von einem der Neuen an, Markus oder Marquadt. Film ab!
Es geht um einen jungen Mann, einen ziemlichen Loser, der bei einem Trödler in der Bergmannstraße ein Zauberwasser ersteht, das ihn unglaublich begehrenswert erscheinen lässt. Ich erkenne mehrere der Protagonisten, die natürlich alle da sind. Wenn man genug Mitglieder der Lomografiker in einem Filmprojekt mit einbezieht, kann man sich des umwerfenden Erfolges sicher sein. Zumindest auf dem Trockenboden.
Der Film hat wenig komische Momente, kommt extrem bemüht daher und erinnert mich, ultimativ das Todesurteil, an die Axe-Werbung. Das wäre vielleicht vor fünfzehn Jahren eine clevere Idee gewesen, heute interessiert das doch keine Sau mehr.
Ich versuche, meine Unruhe zu unterdrücken, still zu sitzen und Julias Zärtlichkeiten weiter zu ertragen.
Während der Abspann durchflickert, betritt Gabi erneut die Bühne. Das ist unüblich – normalerweise sind es die Künstler selbst, die ihre Werke ankündigen. Ich frage mich, ob Gabi vorhat, die Konstitution zu ändern – seine Auftritte als integralen Bestandteil der Show zu etablieren.
Hat er nicht. Gabi kündigt einen eigenen Beitrag an. Sofort rutsche ich etwas aufrechter in dem Sessel hoch, Julias Hand drückt meine – sie will mich bestätigen, obwohl sie keine Ahnung hat, was mit mir los ist. Ich unterdrücke einen Seufzer.
Gabi hat schon lange nichts mehr präsentiert. Ich hatte ihm unterstellt, nach seinem Auftauchen in der Gesellschaft aktiv zu sein, um sich ein Standing zu verschaffen, eine Position zu zementieren. Das hatte er geschafft – es gab keinen Grund, sich jetzt noch kreativ zu verausgaben. Jedenfalls nicht hier.

Seine Einführung für den Film ist kurz und kryptisch, ich habe keine Ahnung, worum es geht. Lange Zeit, darüber nachzudenken, habe ich nicht – der Vorspann erscheint.
Die nächsten viereinhalb Minuten muss ich mich zusammenreißen, nicht mit offenem Mund zu starren. Gabi hat einen lupenreinen Action-Stummfilm produziert. Selbst die abgehackten, archetypischen Bewegungen hat er technisch hinbekommen, keine Ahnung, wie.
Der Film beginnt mit einer Szene, in der Gabi auf einem uralten Fahrrad Schlangenlinien über den Rasen eines Parks fährt, einer betrunkenen Hummel nicht unähnlich. Alleine die Fußbewegungen auf den Pedalen sind in dem ‚Väter der Klamotte‘-Stil der Hammer. Ich bin nicht der einzige, der laut auflacht. Als nächstes taucht ein Typ vom Ordnungsamt mitten auf dem Rasen auf, hebt den Arm in einer Mischung aus Verkehrspolizist und Hitler. Gabi stoppt – buchstäblich mitten in der Bewegung. Das Rad hält und in Zeitlupenraffer fällt Gabi auf den Boden. Einfach so, der reinste Cartoon.
In dem Stil geht es weiter – Gabis Parkour durch die Großstadt, rennen, springen, fallen, umfallen, rutschen, alles in einer Wahnsinnsgeschwindigkeiten. Mit Stunts, die aussehen, als könnte man sich dabei leicht die Knochen brechen. Und doch scheint alles harmlos und putzig, so sicher, als könnten sich nicht mal Dreijährige an den Kleinteilen verschlucken. Ich habe keine Ahnung, wie Gabi das hinbekommen hat. Ohne seinen Film im Rollstuhl und mit mehreren Gipsbeinen zu präsentieren.
Die Crew ist unbekannt. Niemand aus der Gesellschaft war beteiligt – umso gelungener ist die Überraschung, und als der Abspann durchläuft, gibt es stehende Ovationen. Ich reihe die Silhouette meines Kopfes ebenfalls in das Projektorlicht vorne ein, klatsche, außer mir. Ziehe Julia mit hoch, die zwar klatscht, aber gerne sitzen geblieben wäre.
Danach kommt eine kleine Doku über den Görlitzer Park, aber die interessiert niemanden mehr. Es wird geredet, zur Bar gepilgert, und Gabi schiebt sich durch die Menge, holt sich seine Glückwünsche ab. Kommt auf uns zu.
‚Und, hat es euch gefallen?‘, will er wissen. Strahlt uns mit offenem Gesicht an, aber ich erkenne Angespanntheit. Für Gabi ist das Leben ein Wettkampf - jetzt will er wissen, ob er Erster geworden ist, ob seine Kritiker ihm die Goldmedaille überreichen.
Ich  nicke, lächele leise. Sein Blick wandert rüber zu Julia, die enthusiastisch sagt: ‚Auf jeden Fall! Das war total krass – wie habt ihr das gemacht?‘
Sein Grinsen wird breit. Für einen Moment hat Julia vergessen, wer dort vor ihr steht. Dass sie Gabi nicht mag, seine Spielchen nicht erträgt und am liebsten hätte, ich würde mich von ihm trennen. Und dass er das geschafft hat, ist der größte Triumph für ihn heute Abend.   
Julia schüttelt ungläubig den Kopf. ‚Das ihr das hinbekommen habt – wie?‘ Mich interessiert die gleiche Frage, aber ich traue mich nicht, sie zu stellen. ‚Und mit wem? Da war niemand aus der Gesellschaft dabei, oder?‘, fragt sie weiter.
Überlegen schüttelt Gabi den Kopf. ‚Stecher und Benz haben mir geholfen. Und eine Gruppe aus Filmstudenten aus Babelsberg.‘
Benz! Ich hatte überlegt, dass mir der Ordnungsamt-Typ bekannt vorkam, aber durch die körnige Schwarz-Weiß-Qualität und den Anschnitt von der Seite hatte ich ihn nicht erkennen können.
‚Wie geht’s den beiden?‘
Gabi zuckt mit den Schultern. ‚Ganz okay. War cool, mal wieder was zusammen zu machen. Wir sollten uns mal wieder alle zusammen treffen.‘
Ich kann spüren, wie Julia neben mir die Stirn runzelt, ohne, dass ich sie ansehe. ‚Wir alle‘ sind Gabi, Stecher, Benz und ich. Die vier größten Schwachköpfe, die Julia kennt, sagt sie. Schränkt dann ein, ich sei nur betroffen, wenn ich mit denen unterwegs sei. Das macht es nicht wirklich besser.
‚Könnten uns mal wieder Fight Club ansehen.‘ Den Film zu schauen, hat bei uns Tradition. Ich zucke mit den Schultern, versuche ihm nonverbal mitzuteilen, dass eine Termin-Absprache vielleicht besser ohne Julia stattfindet. Er sollte sein Blatt nicht überreizen – der Film war gut, aber nicht SO gut. 
‚Können wir ja sehen. Ich muss mal zur Bar – braucht ihr was?‘
Wir verneinen und mit einem letzten Lächeln schiebt er sich davon, um sich bei Ole ein Becks zu holen. Zwischendrin sammelt er weitere Schulterklopfer und Umarmungen ein.
‚Wenn er doch nur nicht so ein Arsch wäre‘, sagt Julia mit einem Lächeln und wendet sich  mir zu. Ich erwidere nichts, will mich nicht streiten. Meine Meinung kennt sie, und ich ihre.
Sie legt ihre Hände auf meine Oberarme, ich erahne den Kuss, der gleich kommt. Versuche zu entscheiden, ob ich ihn will oder nicht. Ich überlege zu lange - sie streckt den Rücken durch, stellt sich leicht auf die Zehenspitzen und ich spüre ihre Lippen auf meinen. Die sind so weich, das ich unwillkürlich die Augen schließe. Den Kuss erwidere.
Ich wünschte, ich wäre stark genug, mich von ihr zu trennen.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram