Bernstein

Erzählung zum Thema Unruhe

von  Mutter

Ich löse mich vorsichtig aus ihrem Arm. Julia wacht nicht auf, verzieht nur kurz protestierend das Gesicht, bevor sie sich ergibt und sich zur Seite einrollt. Für einen Augenblick zögere ich, warte, lausche ihren wieder regelmäßiger werdenden Atemzügen. Schiebe mich aus dem Bett, tappe in den nachtschwarzen Flur.
In der Küche nehme ich mir eine Tasse aus dem Schrank, hole mir am Hahn Wasser. Trinkend gehe ich rüber ins ‚zweite Zimmer‘, wie Julia es nennt – sie hasst den Ausdruck Wohnzimmer. ‚Kann ich mir gleich Teller aus dem Schwarzwald an die Wände hängen‘, sagt sie dann erbost. Ich lächle in die Tasse, während ich einen weiteren Schluck Wasser trinke, mich nackt auf das Sofa setze. Ich spüre den derben Stoff am Hintern, und am Rücken, als ich mich langsam nach hinten sinken lasse.
Ich leere die Tasse in einem letzten, langen Zug und balanciere sie auf der Lehne der Couch. Grinse, als ich daran denke, dass sie das hasst. Weil sie Angst hat, die Tasse könnte herunterfallen. Steh auf und hindere mich daran, denke ich, lasse den Blick durch ihr zweites Zimmer streifen. Es ist ein Mädchenzimmer – ordentlich, mit viel liebevollem Kleinkram, wohnlich. Inzwischen sieht mein Wohnzimmer auch ein wenig so aus, Julia hat im Laufe der Zeit Spuren hinterlassen, aber meins ist immer noch unverkennbar das Zimmer eines Kerls. Ich denke darüber nach, wie viele Spuren sie in meinem Leben hinterlassen hat. Schneestapfen auf meiner Seele – schnaube verächtlich. Meine Seele mit frisch gefallenem Schnee zu vergleichen ist ungefähr so abwegig, wie Öltanker als Symbole für den Umweltschutz zu bezeichnen.
Julia hatte mich kurz nach meiner Entlassung kennengelernt. ‚Therapiert‘, hatten sie das genannt. Gemeint, ich hätte mich jetzt wieder im Griff und gedacht, man könne mich wieder auf die Menschheit loslassen. Ich hatte mich gegen sie gewehrt – zum einen weil ich mich zu kaputt, zu fertig für eine Beziehung gefühlt hatte, zum anderen, weil ich sie nicht verdient hatte. Das Loch aus Selbsthass und –mitleid war zu tief, zu dunkel, dort unten wollte ich keine Gesellschaft. Wollte das Julia nicht antun.
Aber sie ließ sich nicht beirren, gab nicht auf. Mit ihrer Hartnäckigkeit schaffte sie es, dass ich nicht von ihr loskam. Überhaupt war für die Zeit nach meiner Entlassung ein absolutes Symptom meines Lebens die Bewegungslosigkeit. Ich kam nicht voran, und genauso kam ich nicht von Julia weg.
Gabi hatte mich danach verächtlich mit einem Insekt verglichen, mit schreckgeweiteten Augen eingeschlossen im Bernstein. Nur, dass ich mich seiner Meinung längst nicht mehr im Bernstein befand, sondern entschlossen hatte, freiwillig in dieser Position zu verharren.
‚Sag Bescheid, wenn du bereit bist rauszukommen und zu leben‘, hatte er damals gesagt.
Außer Gabi hatte mich nie jemand unter Druck gesetzt, den Vorfall hinter mir zu lassen – entweder Verständnis oder Schweigen waren die typischen Reaktionen gewesen. Julia war die ultimative Personifizierung dieses Verständnisses gewesen.
Gedankenverloren streicht mein Finger um den dicken Rand der Tasse, die dort neben mir mit ausgetreckten Armen und herausgestreckter Zunge balanciert. Vielleicht hätte es mir gutgetan, wenn mehr Menschen wie Gabi reagiert hätten. Mich geschüttelt hätten, versucht, zu erzwingen, dass ich mich dem Leben wieder stelle. Diesem Leben, vor dem ich inzwischen so viel Angst hatte.
Für einen kurzen Augenblick der Panik will ich mich in Richtung Lichtschalter werfen, die Bilder und Erinnerungen, die sich gerade aus dem Dämmerlicht schälen, vertreiben, aber ich zwinge mich, sie auszuhalten. Mit zusammen gebissenen Zähnen erwarte ich meine Dämonen – ich bin sie so leid, will sie loswerden.
Ich sehe Mischas Wohnung vor mir, den langen Flur mit der riesigen Weltkarte, die die gesamte rechte Wand bedeckt. Wenn man die Hände auf diese Weltkarte legt, berührt man quasi meine Wohnung auf der anderen Seite. Mischa hatte dort bereits gewohnt, als ich einzog. Mein neuer Nachbar war mir freundlich und mit Interesse begegnet – er und Luisa hatten mich gleich am ersten Abend zum Essen eingeladen. Wir hatten uns immer wieder zwischendurch gesehen, uns Backpulver oder eine Flasche Wein ausgeliehen.
Und dann war ich bei ihm eingebrochen. Mehrfach hatte ich unterdrückte Gesprächsfetzen zwischen ihm und Luisa mitbekommen, und es war um einen Brief gegangen. Während der in der Uni war, bin ich zu ihm rüber – die Tür war kein Problem.
Der Brief war wenig spektakulär – eine Vorladung wegen eines verschleppten Mahnverfahrens. Mischa hatte irgendwas nicht bezahlt, vielleicht ein Ticket fürs Schwarzfahren. Aber in seinem Schreibtisch fand ich die Briefe, die ihm Luisa früher geschrieben hatte, als sie noch nicht in Berlin lebte. Liebesbriefe.
Über mehrere Tage hinweg kam ich in seine Wohnung, las die Chronologie ihrer Liebe. Als wären sie für mich bestimmt.
Es wurde meine Wohnung. Ich kam rein, setzte mir einen Tee auf, legte eine CD ein, entweder eine mitgebrachte oder eine von Mischas Scheiben, und las weiter. Verlor mich wie im Strudel eines guten Buches, wollte nicht wieder auftauchen.
Wurde misslaunig, weil ich meine, Mischas Wohnung, verlassen musste. Weil er von der Arbeit oder der Uni kam. Besonders schlimm war die Woche, in der er krank zu Hause hockte. Ich kümmerte mich um ihn, wollte ihm wieder auf die Beine helfen. Möglichst schnell.
Luisa war beeindruckt von meiner Fürsorge, lächelte mich auf eine Art an, an der ich hätte merken müssen – da geht mehr. Mischa ging ihr mit seiner weinerlichen und leidenden Art auf den Geist. Bekam ich nichts von mit. Zu besessen war ich davon, den Störenfried aus meiner neuen Wohnung heraus zu bekommen.
Julia hat ein zweites Zimmer – ich hatte eine zweite Wohnung.
Mit einem Seufzer nehme ich die Tasse auf, trage sie zurück in die Küche. Mir ist kalt – Zeit, zurück ins Bett zu schlüpfen und mich von Julia aufwärmen zu lassen.

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(28.01.10)
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 Mutter meinte dazu am 28.01.10:
So, ich habe mal die ganzen Nachlässigkeiten entfernt, damit die Klicks auch eine Berechtigung haben ... ;)

Danke.
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