Die Gottesanbeter

Kurzgeschichte zum Thema Fassade

von  MagunSimurgh

„Mutttiiiiii!“, rief er seine Frau. Isabell, seiner Tochter, wurde schon schlecht, wenn sie das nur hörte. Sie saßen gerade in der Küche und aßen zu Mittag. Das heißt, er aß, sie versuchte den völlig versalzenen Fraß runterzuwürgen. Keinem Aasgeier würde man so etwas anbieten wollen, doch ihre Mutter war der festen Überzeugung, dass das schon so gehört. Die nahm aber ohnehin zu viel von dem Zeug zu sich, sie lutschte sogar an Salzkristallen. Wahrscheinlich merkte sie nicht einmal, welche Menge eigentlich im Essen war. Isabell jedenfalls hatte nach jeder Mahlzeit das Gefühl, entweder augenblicklich zu einem Salzwüstenkaktus zu mutieren oder alternativ den Gartenteich bis aus den Grund leer zu trinken.
Johanna, besagte Köchin, betrat die Küche durch die vordere der beiden Türen. Betont geschafft raunte sie in ihrem schwäbischen Dialekt: „Wasch ischt denn nun scho’ wieder, Werner?“ Isabell, die bei dem vertrauten Fußbodenknarren der mütterlichen Schritte ihren Unmut über die Speisequalität sofort hinter unschuldigen Augen versteckt hatte, war erleichtert, jetzt nicht auch noch wie üblich „Vati“ am Ende der Frage hören müssen. Werner, der sich, wie die Tochter fand, generell aufführte, als wäre er wenigstens zwanzig Jahre älter als seine fünfundvierzig, raffte sich zu einer im Tonfall nicht minder scharfen und ebenso schwäbischen Antwort auf: „Hascht du nischt noch ä’ bisserl Fleisch? Von dem Bi’schen wird doch koa Mensch satt!“ Sie, deren vollkommen ergrautes Haar auch eher zu einer Sechzigjährigen als zu einer Frau Anfang vierzig passte, tat ihm noch ein Schnitzel auf, goss sich einen Apfelsaft ein und setzte sich mit an den Tisch. Was folgte, war das normale Schweigen unter quietschenden Messern und Gabeln, welches nur gelegentlich vom dumpfen Geräusch des abgesetzten Glases unterbrochen wurde, wenn jemand einen Schluck trank. Wie üblich wurde es vom Vater absolut willkürlich und ohne Vorwarnung beendet – heute durch die Ankündigung, dass man doch schnell ein gemeinsames Vaterunser beten sollte.
Isabell kannte den Text schon so auswendig, dass sie gefahrlos den Rückzug in abschweifende Gedanken antreten konnte. Während die drei die allzu bekannten Worte vor sich hin murmelten, musste sie an die Schule denken, besonders an Biologie. Die Lehrerin, Frau Rochen, eine ziemlich junge, quietschfidele Person hatte ihre neunte Klasse heute besonders überrascht, indem sie echte, lebende Beobachtungstiere mitbrachte.
Genau genommen waren es Insekten, so genannte Gottesanbeterinnen, an denen sie erklären wollte, wie die Reaktion auf Schlüsselreize funktioniert. Sie hielt ihnen also mit der Pinzette wackelnd tote Fliegen vor, welche, wenn alles glatt ginge, als Beute erkannt und gefressen werden sollten. Die Schüler waren wirklich fasziniert davon. Pädagogisch korrekt nutzte sie das aus und gab ihnen die Möglichkeit, als freiwillige Hausaufgabe zur Notenaufbesserung einen Aufsatz über die Fangschrecken anzufertigen. Wie gerne hätte Isabell diese Chance genutzt, doch ihr fiel nicht so wirklich ein, was genau sie da schreiben sollte.
Mitten in diesen Gedanken hinein endete das Gebet. Johanna stand wie auf Kommando auf und rügte ihren Mann: „Lohsch, lohsch, Vati! Mach dich fertig, wir wollen noch in den Garten fahren, du weischt, dasch wir uns um die Tiere kümmern müschen.“
Isabell hatte eine dieser spontanen Eingebungen – die erste Zeile war glasklar: Europäische Gottesanbeterinnen sind kleine Insekten, genauer gesagt Fangschrecken, die fast niedlich sind, allerdings kaum etwas Heiliges an sich haben. Die Weibchen werden bis zu fünfundsiebzig Millimeter lang, die Männchen maximal lediglich sechzig. Dem zufolge sind letztere deutlich unterlegen. Das nennt man Geschlechtsdimorphismus.
Sofort rannte sie an ihren Schreibtisch, um es festzuhalten. Nachdem sie das erledigt hatte, schnaufte sie laut: „So weit so gut – und nun?“ Krampfhaft versuchte sie sich, an noch mehr zu erinnern, das die Lehrerin erzählt hatte, doch ihr wollte nichts einfallen. Sie beschloss, dass es wohl besser wäre, alles im Internet nachzurecherchieren. Sie musste einige Zeit am Computer gesessen und gelesen haben, denn als sie fertig war, hörte sie schon das Knallen der Tür – die Eltern waren zurück. Kaum angekommen stürmte der Vater ins Jugendzimmer und vertrieb sie mit den Worten „Jetzt bin ich dran“ und einem Schubser. Sie rappelte sich auf, das würde mit Sicherheit wieder ein blauer Fleck werden. Wie Vögel flogen ihr die nächsten Zeilen entgegen: Sie sind Räuber. Erkennen sie ein Beutetier, fallen sie blitzartig darüber her, es hat keine Chance. Es sind jedoch sehr reinliche Tiere, sie putzen sich ihre Klauen nach jedem Mahl gründlich.
Sie notierte es direkt und entschied, erst einmal eine Zeichnung sowie eine genauere Beschreibung der Insekten anzufertigen: Die europäische Gottesanbeterin ist grün und besitzt dadurch in Verbindung mit ihrer oft langanhaltenden Regungslosigkeit eine sehr gute Tarnung. Das vordere Beinpaar ist in Form von Fangbeinen ausgebildet. Sie verfügen auch über flugfähige Flügel, um, wenn nötig, größere Distanzen zu überwinden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Insekten ist ihr Kopf sehr beweglich, so dass Beute in alle Richtungen erspäht werden kann. Zusätzlich verfügen diese Fangschrecken über ein Facettenaugenpaar, mit dem sie stereoskopisch sehen können. Sie sind also optimal ausgerüstet für ihre Raubzüge.
Sie wollte gerade zur Beschreibung des Verhaltens übergehen, als ihr Vater am Computer fertig war und sie pseudoliebevoll aufforderte: „Komm, mein Kind, lass uns beten gehen, wir wollen doch den lieben Herrn nicht auf das Abendgebet warten lassen.“ Sie hatte keine Wahl, sie musste mit, obwohl sie es hasste, angestaubte Buchverse vor irgendwelchen Kirchenfiguren aufzusagen. Sie verabscheute es wirklich – all diese Zwänge, aber was sollte sie machen.
Als wäre die hohle Zeilenaufsagerei nicht schon genug, zettelte Werner auch noch den allabendlichen Streit an, heutiges Thema: einmal mehr der PC. Man schrie: angeblich säße Isabell ständig dran und die Eltern (Sie sprachen oft von sich in der dritten Person.) hätten keine Chance, mal etwas zu recherchieren. Sie hörte gar nicht mehr so genau hin, sie kannte all die Phrasen schon und hoffte stets nur, dass es schnell vorbeigehen würde. Als es dann endlich so weit war, zog sie sich wütend, gar voller Hass in ihr Zimmer zurück. In diesem Zustand schrieb sie an ihrem Aufsatz weiter:
Ihr Name ist ihrer Lauerstellung geschuldet, in der sie die Fangwerkzeuge vor ihrem Kopf halten, wie ein Mensch sich zum Gebet die Hände faltet. Dabei brauchen diese Tiere Gottes Hilfe gar nicht, es war nur wieder die Verharmlosung eines naiven Menschen, der ihnen diese friedlich anlautende Bezeichnung gab. Das Problem bei Gottesanbeterinnen ist, ganz ähnlich den schwarzen Witwen, dass sie meistens ihre Männchen nach der Paarung verschlingen, weil die aufgrund des Geschlechtsdimorphismus etwas kleiner als sie sind und damit exakt ins Beuteschema passen. Es ist quasi eine Instinkthandlung, kein Akt der Gewalt – sie können gar nichts dafür, es ist sozusagen ihr Hochzeitsmahl. Eigentlich besitzen sie ein ausgeprägtes Balzverhalten, damit das nicht passiert, doch nach der Kopulation bleibt dem Männchen oft nur noch die Flucht, wenn es nicht verspeist werden will.  Es funktioniert genau wie bei jedem anderen Opfer. Sie schlagen urplötzlich, ohne Vorwarnung und sehr kraftvoll mit ihren Fangbeinen zu, es hat keine Chance. Sie sind tagaktive Lauerjäger, das heißt sie verharren solange starr, bis sich Beute nähert. Es sind keine Plüsch-, sondern Raubtiere und wären sie größer und gemeingefährlicher, würden das vielleicht auch die Menschen einsehen.
Erleichtert legte Isabell den Stift nieder, sie fand, mit der Zeichnung war das für die geforderte Kurzbeschreibung ausreichend.
Tage später kam Frau Rochen in der Pause zu ihr und fragte sie, was sie denn dazu inspiriert hätte. Es sei toll, wie klar, aufs Wesentliche beschränkt sie das beschrieben hat – und dann natürlich der Aspekt mit der Betrachtung der menschlichen Ansichten. Isabell zuckte nur mit den Schultern. Die Lehrerin war so begeistert, dass sie ihr eine eins gab. Wenigstens einmal, dachte sie, hatten ihre Eltern ihr wirklich bei den Hausaufgaben geholfen.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

inua (36)
(30.01.10)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 MagunSimurgh meinte dazu am 30.01.10:
Was ist denn freudige Folter? :)

Der Erzähler ist in diesem ollen Schinken sehr analytisch, das stimmt – es ist die Fassade unserer Zeit, die Analyse.

Wenn etwas weh tut und wir uns nicht zu sagen trauen "Es tut mir weh.", dann analysieren wir.

Liebe Grüße. :)
inua (36) antwortete darauf am 30.01.10:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 MagunSimurgh schrieb daraufhin am 30.01.10:
Na ja, meine Muse ist zur Zeit auch nicht so gut drauf... daher diese paar älteren Texte. :)

Dank dir.

Und wehe, du schreibst nicht bald mal wieder was :P
blaubeermund (26)
(02.02.10)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 MagunSimurgh äußerte darauf am 02.02.10:
Ich gestehe – die Frau war keine reine Schwäbin, aber sie sprach tatsächlich so.

Dank dir. :)

F.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram