Die Lösung und die Ablösung

Text

von  ManMan

"Kennst du Amphilos, Vater?"
"Du meinst den Bruder von Antinoos? Was ist mit ihm?"
„Er will mittags zu uns kommen."
Odysseus zog erstaunt die Augenbrauen hoch. "Er allein?"
„Das glaube ich kaum!"
Sie trauten es sich also zu! Wollten sie am Ende Vergeltung üben? Ihn töten? Ach was! Sie würden nicht einmal wagen, ihn anzugreifen! Er würde ihnen die Hochzeitsgeschenke, die sie Penelope mitgebracht hatten, erstatten, und damit würden sie sich abfinden. So hoffte er jedenfalls…
Und wenn sie es doch mit mir aufnehmen wollen? dachte Odysseus, während er sich gleichzeitig wunderte und ärgerte. Woher diese Verzagtheit? Die Stimme war schuld! Natürlich, wer sonst! Er wusste, sie würde wiederkommen, diese hässliche, eindringliche Stimme, die ihn so quälte, die ihm Angst machte. Ja, es stimmte, er hatte Angst vor der Stimme, er, der tapfere Odysseus hatte Angst, stets wiederkehrende Angst.
Wie soll man sich an Angst gewöhnen, dachte er, während er die hölzerne Bank mit Sand abrieb, um sie anstreichen zu können. Besiegen konnte man sie, aber sich an sie gewöhnen? Auch vor Polyphem hatte er anfangs Angst gehabt, als dieser den Stein vor den Höhleneingang gewälzt hatte und er mit seinen Gefährten in der Falle saß. Aber er wusste, dass er diese Angst überwinden würde, und er hatte sie besiegt, die Angst und Polyphem.
So einfach war es diesmal nicht. Wie sollte er eine Stimme besiegen, zumal es die einer Rachegöttin war, wie ihm die Priesterin versichert hatte? Und sie kam immer mit demselben Vorwurf: Du hast die Frauen getötet, hahaha! Du hast sie alle getötet...
Telemachos blieb vor ihm stehen, die Hände in die Seiten gestemmt. Er sah seinem Vater eine Weile zu. Dann meinte er:
„Es wird schwierig werden, denke ich."
Odysseus hielt mit der Arbeit inne.
„Du meinst, weil noch mehr Leute kommen werden?"
Telemachos nickte.
„Du hast die edelsten Männer Ithakas im Kampf getötet!"
Odysseus runzelte die Stirn.
„Hätte ich sie leben lassen sollen?"
„Nein, nein! Das meinte ich nicht! Aber sie wollen Genugtuung."
Da war sie auf einmal wieder, die Stimme, und zwar so laut, dass Odysseus unwillkürlich zu Telemachos schaute, als müsse er sich vergewissern, dass der sie nicht hören konnte.
„Ich habe alle getötet“, wiederholte er dann leise, „ja, ich habe alle getötet..."
Er schwieg, doch die Stille im Hof legte sich wie eine Last auf die beiden Männer. Am Himmel hingen leichte Schleierwolken. In der Feme krähte ein Hahn.
„Odysseus“, sagte Telemachos und sah seinem Vater in die Augen, „bist du des Kampfes müde?"
„Wogegen muss ich noch kämpfen?" fragte der zurück. Es klang mürrisch. Er musterte seinen Sohn mit hochgezogenen Augenbrauen. Ihm war nicht entgangen, dass der ihn mit dem Namen angesprochen hatte, so wie erwachsene Söhne es zu tun pflegen.
„Lass uns versuchen, diesmal ohne Gewalt auszukommen“, schlug er vor. „Ich möchte, dass du sie in Empfang nimmst. Traust du dir das zu?"
Telemachos war überrascht, nickte aber nach kurzem Zögern.
„Wir haben jetzt zwei Männer im Haus, nicht wahr?"
Odysseus legte ihm zustimmend die Hand auf die Schulter.
Wenn ihn ein zwiespältiges Gefühl überkam, dann lag das daran, dass er sich eingestehen musste, wie gering sein Anteil an dieser Entwicklung war. Penelope behauptete, er habe darunter gelitten, sogar sehr, habe häufig nach dem passenden männlichen Vorbild Ausschau gehalten...
Er atmete hörbar aus und nickte langsam:
„Gut“, sagte er, „wenn Amphilos und die anderen kommen, wirst du sie empfangen!"
„Danke, Vater!" sagte Telemachos und streifte mit der Hand sein Gesicht, eine zärtliche Gefühlsaufwallung, die ihn verlegen machte. Er drehte sich um und ging davon.
Später kamen die Angekündigten, die Familien der edelsten Männer auf Ithaka, die nun nicht mehr lebten, außer Amphilos noch der Vater von Agelaos, der alte Damastos, die Frauen und Schwager von Demoptolemos und Amphimedon. Ausgerechnet Euryades' Vater Nereuses, dessen Sohn einem Speerwurf von Telemachos' Hand zum Opfer gefallen war, wie sich Odysseus sogleich entsann, wandte sich an diesen:
„Ihr könnt meinen Sohn nicht wieder lebendig machen, König Odysseus, das weiß ich."
Seine Augen waren von Trauer erfüllt. Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort:
„Aber nach alter Sitte wollen wir Genugtuung. Seid Ihr dazu bereit?"
Da mischte sich Telemachos ein. Zunächst hatte er abseits gestanden und abgewartet, wie sich die Dinge entwickelten. Jetzt trat er hinzu und meinte:
„Das hier ist nicht die Sache meines Vaters, sondern die meinige!"
Nereuses war verwundert, als er das hörte.
,,Ich dachte, es sei die Sache dessen, der im Palast das Sagen hat."
„Wollt ihr schon wieder über uns bestimmen, so wie eure Söhne? Vielleicht ihren Kampf fortsetzen?"
Sein Ton war scharf. Odysseus bezweifelte, dass sein Sohn sich klug verhielt. Wenn er so weiter machte, würden die Besucher kaum friedlich bleiben. Er trat einen Schritt vor und drängte Telemachos zur Seite.
„Ich will keine Gewalt mehr“, sagte er entschieden, „es ist genug Blut geflossen. Damastos, Ihr seid der Älteste, tragt vor, welchen Wunsch ihr habt!"
„Welchen Wunsch?" wiederholte dieser ungläubig. „Das wisst Ihr nicht?"
,,Nicht genau, Alter. Genugtuung wollt ihr und beruft euch auf die alte Sitte."
Er sah ihn mit festem Blick an. ,,Demnach stehen Euch mindestens die Geschenke zu, die eure Söhne mitgebracht haben." Er winkte einem abseits stehenden Sklaven.
„Du hast gehört, was sie wollen, Archos, hol also alles herbei, was die fremden Männer in dieses Haus gebracht haben als Brautgeschenke für eine Frau, die längst einem anderen Manne gegeben war, und der ist bekanntlich wieder da..."
Er verspürte Bewegung hinter seinem Rücken und drehte sich um. Penelope war gekommen.
Alle Anwesenden folgten seinem Blick. Da machte er einen Schritt auf seine Frau zu. Die Männer bildeten bereitwillig eine Gasse. Plötzlich war es so still, als hielten alle den Atem an.
Odysseus ergriff Penelopes Hand. Er führte sie die bei den untersten Stufen der Treppe hinab und schritt mit ihr durch das Spalier der Männer bis zur Säule am anderen Ende des Saales. Das Rascheln ihres langen Gewandes verstärkte den königlichen Eindruck. Gleichzeitig war die Spannung im Raum mit den Händen zu greifen.
Das königliche Paar postierte sich dort, wo bei Feiern der Sänger auftrat, eine Stelle also, die von überall einzusehen war. Odysseus wandte sich den Angehörigen der Freier zu.
„Sie allein soll entscheiden, ob Euch noch mehr zusteht“, sagte er mit kräftiger Stimme. Zugleich warf er ihr einen aufmunternden und liebevollen Blick zu.

Später lagen sie wieder nebeneinander auf jener Lagerstätte, deren Wieder erkennen Penelope gezeigt hatte, dass der fremde Mann Odysseus war. Sie wusste, dass er nicht schlief, obwohl er die Augen geschlossen hatte.
"Was ist mit der Stimme?" wollte sie wissen. "Spricht sie noch immer zu dir?"
Dabei fuhr sie mit einer Hand sanft über seinen Oberarm.
Es dauerte einige Augenblicke. Sie überlegte schon, ob er vielleicht doch eingeschlafen war, als er sich umdrehte und seine Augen öffnete. Merkwürdig traurige Augen, wie Penelope fand.
„Sie ist still“, sagte er langsam und mit leiser Stimme, als habe er Angst sie herbeizurufen.
„Aber sie wird wiederkommen!"
„Die Rachegöttin“, sagte Penelope, und es klang nicht wie eine Frage.
„Ja“, bestätigte ihr Mann, „die Rachegöttin! Sie wird wiederkommen!"
,,Du hast Angst vor ihr, nicht wahr?"
Der Mann schwieg. Eine Weile war nichts zu hören als das Flöten eines Vogels.
„Ich weiß nicht, wie ich sie besänftigen kann“, sagte Odysseus dann.
,,Die Göttin will ihr Opfer?"
,)a, das stimmt. Ich soll ihr Opfer sein."
Wieder schwiegen beide. Die Nacht rückte näher, bald würden die Vögel verstummt sein. Plötzlich kamen Odysseus die Worte der Priesterin in den Sinn. Hättet Ihr es verhindern können? war ihre Frage gewesen, und er hatte darauf nichts zu antworten gewusst. So wie auch jetzt nicht. Stattdessen wieder ein Traum.
Er kam in der Mitte der Nacht. Längst hatten sich alle zur Ruhe begeben. Penelope war neben ihm eingeschlafen, noch immer beglückt von seinem Auftreten gegenüber den Angehörigen der Freier. Das sei der Odysseus gewesen, den sie sich wieder herbei gesehnt hatte, sagte sie, eine Äußerung, die bei ihrem Mann zwiespältige Gefühle hinterließ. War es nicht unbillig, dass sein Weib derartige Bedingungen dafür stellte, wie er zu sein hatte? War er nicht auch ein ganz anderer Odysseus, war er es nicht sogar häufiger? Aber so waren die Frauen wohl, stellten allzu gerne Forderungen auf, wie die Männer sich geben sollten.. Er musste an Kalypso denken, an Kirke, an Nausikaa. Wollte nicht jede von ihnen in ihm den Mann sehen, der ihren Wünschen entsprach?
Er lag wach auf dem gemeinsamen Lager und lauschte Penelopes ruhigen Atemzügen. Bilder zogen an seinem inneren Auge vorbei, Bilder vom Meer, seinem geliebten Meer. Ohne das Meer wollte er nicht leben. Die Wellen, das Rauschen, die Gischt, die Wolken hoch oben. Eine Zeitlang wusste er nicht mehr, ob er wach war oder träumte. Dann war er in das Reich des Traumes hinüber geglitten.
Irgendein Felsen, ja, er erkennt ihn wieder, jenen Riesenstein unweit der Phorkys-Bucht. Ein Weg führt von dorthin zum Meer, und der Mann, den er auf diesem Weg sieht, vom Meer kommend in Richtung Felsen, dieser Mann ist eindeutig er selbst. Odysseus empfindet großes Vergnügen dabei, wie er sich selber beobachtet. Der Himmel ist wolkenlos. Große Vögel kreisen unter dem makellosen Blau; von allen Seiten herbeikommend vereinigen sie sich zu einem Schwarm, der den Himmel verdunkelt. Dann lassen sie sich auf dem Felsen nieder.
Odysseus beobachtet, wie der Mann, der seine Gestalt hat, sich dem Felsen und den kreischenden Vögeln nähert. Er klettert ein Stück hoch, stellt sich dabei sehr geschickt an. Die Vögel kommen neugierig herbei, ohne jede feindliche Regung. Und dann kann er auf einmal fliegen, er, Odysseus kann fliegen, er spürt, dass er es kann, braucht nur die Arme zu bewegen, damit die Luft ihn trägt. So hebt er sie denn hoch, atmet tief ein und hebt ab, zusammen mit anderen Vögeln, fliegt auf das Meer hinaus und weiß sich endlich eins mit ihm.

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