Perazin

Erzählung zum Thema Lüge(n)

von  Mutter

Am nächsten Tag habe ich meinen Termin bei Frau Doktor Rother. Alle drei Wochen - sie agiert als eine Art Bewährungshelfer. Wenn ich erneut verhaltensauffällig werde, muss ich damit rechnen, dass sie mich wieder einweist. In die Geschlossene.
Sie sieht das Ganze etwas anders. Spricht darüber, dass sie mir eine Hand reichen will, mir Orientierung im Nebel sein möchte.
Der Summer reagiert sofort auf mein Klingeln, ich schiebe mich in den Hausflur des opulenten Altbaus. Der dunkle Teppich trägt mich hinauf in den zweiten Stock, die massive Holztür lässt mich ohne Widerstand eintreten.
Ich gehe bis vorne an die Theke, hinter dem eine junge Frau mit sinnlichen Lippen sitzt und an einem Computer arbeitet. Ich finde, eine strenge Hornbrille und ein verkniffener Mund würden besser ins Ambiente passen.
‚Ja, bitte?‘, fragt sie mich freundlich. Ihre honigweiche Stimme passt hervorragend zu ihrem Mund.
‚Jakob Herfeld. Ich habe einen Termin bei Frau Doktor Rother.‘
Sie nickt, klackt etwas in den Rechner, nickt erneut. ‚Frau Doktor ist gleich soweit. Wenn Sie solange …‘
Ich entferne mich in Richtung der herumstehenden Sessel, bevor sie den Satz beendet. Es gibt kein separates Wartezimmer und von meinem Platz aus habe ich den Empfang direkt im Blick. Von der Sprechstundenhilfe sehe ich nur den blonden Schopf, der sich geschäftig hin und her dreht. Ich greife mir ein Magazin, blättere lustlos darin herum. Bevor ich mir Gedanken darüber mache, welches Heft ich mir als nächstes nicht ansehen möchte, kommt die Blonde mit wiegendem Gang zu mir hinüber.
‚Herr Herfeld? Die Frau Doktor wäre jetzt soweit.‘
Ich folge ihr durch eine weitere Massivholztür. In meinem Magen macht es einen Satz wie in der Achterbahn. Komme mir vor, als sei ich sensitives Material, dass für immer unter Verschluss gehalten wird. Frau Rother ist mein tiefes Berggewölbe irgendwo in der Schweiz.
Frau Doktor sitzt hinter ihrem Schreibtisch, steht auf, als ich eintrete.
Die Blondine lässt mich zurück, nimmt ihre weichen Lippen mit. Frau Rother hat dagegen eine spitze kleine Schnute, die sie aussehen lässt, als wäre sie fortwährend beleidigt. Sie überreicht mir ihre Hand wie einen warmen Fisch, den ich gewissenhaft schüttel.
Ich setze mich auf einen Stuhl an einem kniehohen Glastisch, sie setzt sich dazu.
‚Wie geht es Ihnen, Herr Herfeld?‘
‚Gut‘, antworte ich. Was soll ich auch sonst sagen? Ich habe immer wieder Flashbacks, Angst vor psychopathischen Reaktionen?  Manchmal verspüre ich das Bedürfnis, mich auf den Boden zu legen und zu wimmern? Das würde Frau Doktor sicher gerne hören. Ein Anruf, und sie würde mich mit einem freundlichen Winken ihrer schlaffen Hand erneut in die Klinik verabschieden.
Ich schüttel den Kopf. Das hat sie nicht verdient. Wahrscheinlich hat sie sogar ein echtes Interesse daran, dass es mir gut geht. Dass ich es draußen schaffe.
‚Wie steht es mit Perazin? Haben Sie etwas nehmen müssen? Gab es akute Anfälle?‘
‚Nein, keine Probleme.‘ Das ist nicht mal gelogen. Ich  habe es in der Tasche, weiß, dass es mich begleitet - das ist ein gutes Gefühl. Mein Sicherheitsnetz, das ich jederzeit aufspannen kann, wenn ich falle. Aber bisher musste ich es nicht nehmen. Ich bin noch nicht tief genug gefallen.
Sie befragt mich zu Julia, zu unserer Beziehung. Munter plaudere ich drauflos – erzähle von Erlebnissen in den letzten Tagen, wie wir uns lieben, necken, streiten. Berichte von dem Brief, den Julia mir geschrieben hat. In dem sie von ihrem Vater erzählt, versucht, Schwierigkeiten zwischen uns auszuräumen. Versuche mich zu erinnern, was genau Kristina ihrem Olli in diesem Brief geschrieben hat. Schmücke das Essen, das die beiden neulich gegeben haben, weiter aus. Als hätte das Ganze in meiner Wohnung stattgefunden.
Frau Doktor ist begeistert. So hat sie mich gerne. Ermuntert mich, hängt an meinen Lippen. Ich erzähle und erzähle, sage ihr alles an das ich mich erinnern kann.
Alle Details, die ich aus Ollis und Kristinas Beziehung aufgeschnappt habe. Alles, was ich in  ihrer Wohnung gelesen habe. Ich würge all diese Dinge wieder hoch wie eine Vogelmama, die ein gieriges Junges damit füttert. Irgendwann wird auch Frau Rother satt sein, hoffe ich.

Eine Stunde später stehe ich wieder auf der Straße, hole tief Luft. Frau Doktor hat sich davon überzeugt, dass ich auf dem besten Weg bin, wieder ein normaler Mensch zu werde. Meine Dissoziation voll im Griff habe. Frohen Mutes in die Zukunft blicke und mich unverdrossen allen Widrigkeiten stelle, die sich mir in den Weg werfen mögen.
Der Termin hat mich mehr Kraft gekostet, als ich gedacht hätte. Ich mache mich mit wackeligen Knien auf den Weg zur U-Bahn, als mein Handy vibriert.
‚Hey‘, sage ich zu Begrüßung, die Stimme weich. Ich freue mich, sie zu hören, auch wenn es ein Überwachungsanruf ist.
‚Wie war’s?‘, will Julia wissen.
Mit einem Lächeln antworte ich: ‚Anstrengend. Aber in Ordnung. Die Rother meint, ich würde Fortschritte machen. Hast du geglaubt, ich würde nicht hingehen?‘ Da ist keine Schärfe in meiner Stimme, ich will nicht streiten. Sie nur aufziehen.
Sie fühlt sich ertappt. ‚Ach, Jakob, du weißt …‘
‚Schon gut. Kein Problem. Ich weiß ja, worum es dir geht. Danke dafür. Danke, dass du auf mich aufpasst.‘
Ich höre sie am anderen Ende atmen, höre sie grinsen. Sie weiß nicht, was sie darauf sagen soll, ist verlegen.
‚Schon gut‘, sage ich dann, um sie zu erlösen.
‚Sehen wir uns heute Abend?‘, fragt sie unvermittelt.
Ich spiele auf Zeit. Habe gerade keine Kraft mehr für noch mehr heile Beziehung. Gespielte heile Beziehung. ‚Eventuell wollte Juri vorbeikommen. Ist es in Ordnung, wenn ich später bei dir aufschlage? Falls Juri nicht kommt? Der wollte sich nicht festlegen.‘
Sie antwortet nicht sofort. ‚Okay. Schickst du mir eine SMS, sobald du was weißt?‘
‚Klar!‘
Wir verabschieden uns, ich lege auf. Starre auf einen dreibeinigen Hund, der mir entgegenkommt und mich betrachtet, als gehöre ihm der Kiez. Warum fällt es mir so viel leichter, sanft und freundlich mit Julia umzugehen, wenn wir telefonieren?
Mit einem Seufzer setze ich mich in Bewegung und denke, dass es mir offenbar genauso leicht fällt, sie am Telefon zu belügen.
Von Juri hatte ich schon seit einer ganzen Weile nichts gehört. Hatte gelogen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, Julia heute Abend zu sehen.
Julia konnte ich nicht den gleichen hochgewürgten Mist wie der Frau Doktor präsentieren. Mit traumwandlerischer Sicherheit findet Julia meine Haarrisse und Sollbruchstellen, kann ihren weichen Finger darauf legen. Deswegen laufe ich so oft vor ihr davon. Weil ich mich zu kaputt fühle, um mich ihr zu stellen.

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Kommentare zu diesem Text

Alegra (41)
(02.03.10)
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