Paranoirina

Erzählung zum Thema Enttäuschung

von  Mutter

Zwei Tage später erwischt es mich kalt. Es ist etwas, was Mick in einem Gespräch sagt. Wir hocken bei Starbucks, trinken Kaffee. Er ist am Set fertig, hatte mich angerufen, ob ich Zeit habe. Mick hat Liebeskummer. Will mir davon erzählen, braucht ein Ventil. Aber weil Mick ein anständiger Kerl ist, fängt er nicht gleich an, loszuflennen. Fragt erst, wie es mir geht. Wie es mit Julia läuft. Hätte mich auch nicht gewundert, wenn die nächste Frage meinem Stuhlgang gegolten hätte. Danke der Nachfrage!
Und er will wissen, ob ich bei Gabi weiter gekommen bin. Bei dieser Sache, von der ich ihm neulich erzählt habe. Bin ich nicht – ich schüttele stumm den Kopf, ziehe schlürfend warmen Milchschaum durch die Lippen.
Er nickt weise, starrt ebenfalls in seinen Becher. Ob man aus Milchschaum genauso gut die Zukunft lesen kann wie aus Kaffeesatz?
Als klar ist, dass ich die Gelegenheit, die er mir bietet, nicht nutze, fängt er an. Langsam.
Redet über eine Jessica, die er kennengelernt hat. Theaterschauspielerin, sei ja quasi vom gleichen Fach wie er. Außer, dass sie Film Scheiße findet. Vor allem die Fernsehproduktionen, für die Mick meistens im Berliner Regen steht.
‚Was ist mit Beleuchtern?‘, frage ich. Die stehen zumindest weniger im Regen.
Er schüttelt traurig den Kopf. ‚Eigentlich will sie mit dem ganzen Kram nichts zu tun haben. Hasst, wie viel Kohle mit schlechten Produktionen gemacht wird.‘
Ich seufze. ‚Okay, aber sie soll ja auch nicht mit dir am Set arbeiten. Oder?‘ Ein Kopfschütteln als Antwort.
‚Kann sie dich doch nach der Arbeit treffen – wenn du aus dem Regen raus, und sie runter ist von den Brettern, die die Welt bedeuten.‘ Er quittiert meinen Versuch, humorvoll zu sein, mit einem schiefen Gesichtsausdruck. Fast ein Lächeln.
‚Ach komm schon, so borniert kann die Kleine doch gar nicht sein.‘ Er antwortet nicht. Mist.
Mick sucht sich immer die Schwierigen aus. Die Hochnäsigen, die Neurotischen, die, über die man ständig die Augen rollen muss. Ich habe den Kerl noch nie mit einer normalen Braut gesehen.
Jetzt habe ich den Stöpsel gezogen – er fängt an. Erzählt, wie sie endlos miteinander telefonieren, dabei immer in Streit geraten. Eigentlich streitet nur sie, vermute ich. Bin nicht mal sicher, ob Mick weiß, wie das geht – streiten. Wie sie in Depressionen verfällt, wie er versucht, sie da herauszuholen. Für sie da sein müsste. Aber nicht kann, wenn er blockt. Klingt als sei die Tante eine Vollzeit-Beschäftigung. Ich verkneife mir die bissige Frage: Ist sie wenigstens gut im Bett? Jede Wette, sie hat Mick noch nicht mal rangelassen. Die ewigen Jungfrauen, die gehören auch zu der Kategorie Frauen, an denen Mick kleben bleibt.
Plötzlich sagt er wehleidig: ‚Manchmal frage ich mich, was sie an mir findet. Ich meine -  schau mich doch an!‘ Mache ich, aber eigentlich hänge ich meinen eigenen Gedanken nach. Irgendwas, das er sagt, klickt bei mir im Unterbewusstsein.
‚Es ist, als würde sie einem Plan folgen, der sagt, sie muss sich mit mir abgeben. Eigentlich bin ich mir nicht mal sicher, ob sie mich wirklich mag.‘
Der Satz lässt mich lächeln – so viel Selbst-Reflektion hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Aber mir gefriert das Grienen mitten im Gesicht. Plötzlich muss ich an Irina denken. Und an die Zweifel, die ich an dem Abend in der Kneipe hatte. Warum sie sich ausgerechnet mich ausgesucht hat.
Pussy Deluxe!
Der Starbucks dreht sich auf einmal wie ein Kinderkarussell auf Crack. Ich muss aufpassen, den gerade getrunkenen Espresso Roast nicht komplett wieder auszuspucken, Mick direkt vor die Füße.
Ich murmel irgendeine Entschuldigung, taumel aus der Tür. Mein Kopf rast. Ich finde mein Rad, schließe das Schloss mit schwitzigen Fingern auf. Die Stadt verschwimmt vor mir zu einem dadaistischen Rausch aus Geschwindigkeit und Brechreiz, während ich meine Chucks in die Pedalen hämmere.

Zehn Minuten später und ein halbes Dutzend Beinahe-Unfälle später stehe ich vor dem dritten von Gabis Büros. Klingel - niemand macht auf. Ich stoße die Tür mit dem kaputten Schloss zum Hausflur auf, gehe rein. Das Büro ist im dritten Stock, höher als die anderen. Jeder Schritt nach oben fällt mir schwerer, mehrmals bin ich kurz davor, umzudrehen. Eine kleine Stimme in mir drin behauptet, ich sei verrückt. Würde mich kirre machen lassen. Alles nur wegen dieses Spinners Mick. Was weiß der schon?
Aber es geht nicht um Mick. Es geht darum, was die ganze Zeit schon an mir genagt hat wie ein Marder an Autoteilen. Und jetzt sind die Bremsschläuche durch, freier Fall ins Tal.
Dass mit dieser Nacht, die mir ‚einfach so passiert ist‘ irgendwas ganz gehörig nicht stimmt. Ich muss mehrmals tief durchatmen, bevor ich mich soweit unter Kontrolle habe, dass ich die Tür öffnen kann. Gerade, als ich sie aufstoßen will, kommt von oben eine alte Frau mit einer Tüte Müll herunter. Freundlich nickend schiebe ich mich in den dunklen Flur, schließe die Tür mit einem sanften Knacken hinter mir.
Gehe in das einzige Zimmer,  finde den Aktenschrank. Blättere durch den Ordner mit den Mädchen. Nichts.
Ich grinse fast, schlucke trocken. Noch bin ich nicht durch. Ein Büro gibt es noch. Eine Truppe Mädchen, deren Gesichter ich noch nicht gesehen habe. Ich gebe mir keine Mühe, meine Anwesenheit zu verstecken. Bitte verlassen Sie das Büro so, wie Sie es vorzufinden wünschen. Mir ist absolut Latte, ob Gabi weiß, dass ich hier war. Im Moment jedenfalls.

Ich schwinge mich unten im Hof wieder auf das Rad, fahre Richtung Mitte. Torstraße – das letzte der vier Hydra-Büros.
Auch hier kein Gabi – ich breche erneut ein. Die Wohnung ist größer – zweieinhalb Zimmer, in einem liegt ein alter Doppel-Futon. Daneben ein niedriges Regal mit einem Radiowecker und ein paar Bildbänden. Davor ein kleiner Stapel von Klamotten. Ich erkenne eine Carharrt-Hose von Gabi.
Scheißegal – mich interessiert sein Büro. Ein alter Schreibtisch aus Glas mit Röhrenmonitor, darunter ein Computer-Tower. Die Aktenordner finden sich an der gegenüberliegenden Wand. Ich haste zu dem hohen Ikea-Regal, in dem hier die Unterlagen stehen, reiße den entsprechenden Ordner heraus.
Das Herz schlägt mir mitten auf der Zunge, ich kann den Pulsschlag in jeder Faser meines Körpers spüren.
Und blicke auf ihr Portrait. Ihre traurigen Augen sehen mir direkt in meine sich krümmende Seele.
Irina.
Ich fühle mich wie damals in der sechsten Klasse – Schwimmunterricht, Turmspringen vom Dreier. Hatte ich noch nie gemacht, und ohne nachzudenken ließ ich mich von da oben fallen. Immer näher kam die kristallin glitzernde Oberfläche, und ich sah einfach zu. Entfernt tönte der Aufschrei meines Schwimmlehrers in meinen Ohren, während ich brutal aufs Wasser klatschte. Unfähig, zu reagieren, einzutauchen. Genauso geht es mir gerade.
Pussy Deluxe.
Fick dich, Gabi!
Keine Ahnung, wie lange ich dort auf dem Fußboden sitze, an das Regal gelehnt, die offene Akte neben mir. Irina sieht mich die ganze Zeit dabei an. Ich bin nicht sicher, was sie sagt.
Vielleicht: Du dummer Arsch, hast du wirklich geglaubt, ich mache das freiwillig?
Oder: Wenn du dich mit Gabi einlässt, ziehst du den Kürzeren. Das weißt du doch, oder, Jakob?
Bei jedem ihrer möglichen Sätze muss ich fast weinen. Es zerreißt mir das Herz – dabei weiß ich gar nicht genau, warum. Weil ich Irina liebe? Gerne lieben würde? Weil es meinen Stolz verletzt? So wie mit Nanni damals? Weil ich wieder gegen Gabi verloren habe?
Eine einzelne Träne läuft  mir das Gesicht herunter, ihr folgen weitere. Meine Nase ist verstopft, ich ziehe den Rotz nach oben.
Und wie bei dem Haustür-Fick mit Nanni weiß ich nicht, wen ich mehr hassen soll. Doch, diesmal fällt es mir leicht. Diesmal gebe ich alleine Gabi die Schuld. Nicht mir, nicht Irina. Mein gesamter Hass wendet sich gegen ihn. Ich will den verfickten Drecks-Puppenspieler endlich los sein.

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