Nanny

Erzählung zum Thema Verlust

von  Mutter

Die nächsten achtundvierzig Stunden sind die Hölle. Immer wieder schleiche ich durch die Wohnung, habe mein Handy oder das Festnetz in der Hand. Bin fast soweit, dass ich Julia anrufe. Dann frage ich mich kurz: Und, was sagst du ihr? Wie kittest du die ganze Scheiße wieder?
Und wenn dann keine Antwort kommt, lege ich Handy oder Telefon wieder weg. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Weiß nicht, wie ich ihr alles erklären soll. Wie ich beschreiben soll, dass ich sie aus meinem Leben ausschließe, und trotzdem will, dass sie ein Teil davon bleibt. Denke darüber nach, wie sehr mich die Polarität zwischen meinem Gabi-Ich und dem Julia-Ich zerreißt. Und bin mir sicher: Ich kann nicht wortreich beschreiben, was da in mir vorgeht. So dass sie versteht, so dass sie vergibt.
Mit jeder Stunde, die voran schreitet, wird meine Chance kleiner, Julia nicht zu verlieren, soviel weiß ich. Und bin doch hilflos, etwas daran zu ändern, dass mehr und mehr Zeit vergeht. Sich der Abstand zwischen uns summiert.
Zusätzlich komme ich mir vor, als hätte man mich im eigenen Kopf eingesperrt. Mit Gabi kann ich nicht reden, der würde mir nur sagen: Ich hab’s dir gesagt, werd‘ die Schnalle endlich los.
Mick steht ebenfalls außer Frage. Mick-Mack-Motherfuck, in der Tat. Die kleine Ratte hat mich überhaupt erst in die Scheiße geritten. Eine Nanosekunde später korrigiere ich mich: Das hat er nicht, das war ich selbst. Dann: Ach, Quatsch, wenn die alte Quasselstrippe nicht immer versuchen würde, auf Julias Schoß zu kriechen, hätte ich das schon irgendwie hingebogen bekommen.
Juri? Ja, genau. Der kann mir schweigend gute Ratschläge geben. Dem würde ich mein Innerstes auf den Tisch kotzen, und er würde mich ansehen, als wäre ich vom Mars. Als spräche er nur Russisch. Keine Hilfe.
Die einzige echte Alternative wäre Eric – der würde zuhören, vielleicht sogar was Schlaues sagen. Aber das will ich  nicht. Will nicht immer angekrochen kommen. In Eric ist was, dass mich dazu inspiriert, stark zu sein. Nur weiß ich leider gerade gar nicht, wie das geht.

Am Ende raffe ich mich auf, mache mich auf den Weg zu unserem Büro. Von draußen ist kein Licht zu sehen, trotzdem klingel ich. Niemand öffnet.
Drinnen suche ich mir beim Schein der kleinen Schreibtischlampe die Unterlagen von Pussy Deluxe raus. Finde Nannis Mitarbeiterbogen. Kerstin Haupt. Wie wenig romantisch – als Nanni hat sie mir besser gefallen.
Mit klopfendem Herzen speicher ich ihre Nummer in meinem Handy, verlasse das Büro so, wie ich es vorgefunden habe. Diesmal habe ich keine Lust darauf, eine deutlich lesbare Spur für Gabi zu hinterlassen.
Draußen schiebe ich mit der Rechten das Rad, mit der Linken halte ich mir das Telefon ans Ohr.
Nach dem vierten Klingeln nimmt sie ab. Ihre Stimme macht mir Gänsehaut. Lässt mich an Hauseingänge denken.
‚Ja, Kerstin? Wer ist da?‘
Für einen Moment atme ich nur, bleibe stumm. Auch eine gute Alternative, Jakob, denke ich. Frauen anrufen und ihnen in den Hörer atmen. Das macht deine Situation bestimmt 1A besser.
‚Hey.‘ Pause. ‚Jakob hier.‘
‚Jakob?‘
Ich bin nicht sicher, ob sie mich nicht einordnen kann, oder ob sie mich nicht richtig verstanden hat. Weil ich so krächzig klinge. Nicke, sage dann schnell: ‚Jakob, von der Agentur.‘ Was sage ich noch? Ich habe dich mal beim Bäcker getroffen, wir haben gevögelt? Wie ruft man sich bei jemand in Erinnerung, der einem kurz und schmerzlos auf der Straße Sex angeboten hat?
‚Jakob!‘ Sie lacht, und ich erinnere mich gut an dieses Lachen. Schlucke mehrmals heftig.
‚Wie geht’s dir?‘, will sie wissen. ‚Was gibt’s – bist du in der Gegend?‘
‚Sozusagen, ja. Können wir uns sehen?‘
Kerstin lacht noch mal. ‚Du weißt, dass du den Termin über die Agentur machen musst, oder?‘
Ich bekomme nichts raus, will was sagen, kann nicht. Es steckt fest.
‚Ich mache nur Witze.‘ Glockenhell. ‚Wo bist du?‘
‚Görlitzer Park‘, kann ich antworten.
‚Wollen wir uns beim Libanesen treffen? In einer halben Stunde?‘ Ich wusste genau, welchen sie meint – den am Spreewaldplatz.
‚In Ordnung.‘ Ich hätte nicht mal abgelehnt, wenn sie einen Treffpunkt in Reinickendorf vorgeschlagen hätte.

Wenig später sitzt sie mir gegenüber, isst Kubbe. Ich habe auch einen Teller vor mir stehen, bekomme aber nichts runter. Sie hat mich zur Begrüßung umarmt und ich habe ihren Duft eingesogen, als wäre ich am Ertrinken und sie frisches Wasser.
Während wir uns setzten, hatte sich mich kurz aufmerksam gemustert, mit einem kleinen Lächeln im Gesicht, aber keine Fragen gestellt. Warum ich mich urplötzlich bei ihr melde, und auf ein Treffen dränge, zum Beispiel.
‚Alles gut?‘, will sie wissen, beißt von einem Salatblatt ab. Ich nicke stumm, betrachte sie.
Nichts ist gut, aber was soll ich sagen – gleich mit der Tür ins Haus fallen? Vielleicht schon. Schüttel den Kopf.
Jetzt lacht sie. ‚Tut mir leid‘, meint sie, hält sich die Hand vor den Mund. ‚Ich habe schon gemerkt, dass es eigentlich eher nicht zum Lachen ist.‘
‚Nein ist es nicht‘, sage ich, kann dabei lächeln. ‚Schön, dass du Zeit für mich hattest.‘
‚Du hast Ärger mit deiner Frau, oder?‘
‚So leicht zu lesen?‘ Wieder ein schiefes Lächeln von mir. Ich weiß nicht, ob ich gut finde oder nicht, dass sie mein Problem so fix blickt.
Ein Achselzucken. Sie nimmt einen Bissen von der Kubbe und sieht dabei furchtbar niedlich aus. Was bin ich bloß für ein dämlicher Mistkerl – ich habe Angst, dass Julia mich verlässt, aus meinem Leben verschwindet, und habe nichts besseres zu tun, als mich mit einer attraktiven Frau zu treffen und sie beim essen zu bewundern. Kann ich mich mit meinen Genen rausreden?
Dabei weiß ich gar nicht, ob ich wirklich mit Nanni schlafen wollen würde, wenn sie mir die Gelegenheit dazu gäbe. Der Gedanke ist verlockend, und macht mir einen Halbsteifen, aber tatsächlich genieße ich ihre angezogene Gegenwart gerade viel zu sehr. Würde ihr gerne meinen Kopf in den Schoß legen, mir von ihr die Schläfen streicheln lassen. Vielleicht kann ich aus der aufregenden Nanni eine kümmernde Nanny machen. Keine Ahnung, ob Kerstin dabei mitspielen würde – der Gedanke lässt mich grinsen.
‚Was?‘, will sie wissen, streicht sich ein Haar aus dem Gesicht. Ich habe sie verlegen gemacht.
Ich schüttel den Kopf, sehe auf den Tisch runter. ‚Ich musste gerade an unsere Begegnung beim Bäcker denken.‘
‚Habe ich dich geschockt?‘ Sie lacht.
‚Klar, was denkst du? Wie oft wird man von einer Braut, die man kaum kennt, zum Ficken in einen Hauseingang abgeschleppt.‘
Sie zuckt mit den Schultern. ‚Ich schätze, das ist der Grund, warum euer Modell funktioniert.‘
‚Ja‘, erwidere ich lahm. Ich würde gerne vergessen, dass Nanni auf Gabis Weisung hin ihre Pussy für Kohle hinhält.
‚Wollen wir umziehen? In die Advena-Bar?‘
Ich zucke mit den Schultern. Warum nicht? Die Aussicht, den Rest des Abends mit ihr zu verbringen, zusammen um die Häuser zu ziehen, ist nett. Die sexuelle Spannung zwischen uns ist nicht komplett verschwunden, sitzt aber heute Abend auf der Reservebank.
‚Dann los‘, sage ich und ziehe sie sanft an der Hand hoch. Sie lächelt, folgt mir.
Draußen schlingt sie mir im Gehen den Arm um die Hüfte, läuft eng an mich geschmiegt. Meine Nanny.

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