Deine Mutter ...

Erzählung zum Thema Provokation

von  Mutter

Für einen kleinen Augenblick stehe ich da wie eingefroren. Starre einfach nur rüber und sehe zu, wie der Mann aus dem Ruhrpott die Straße ohne Eile überquert und das Café betritt. Erst Corben und dann Gabi per Handschlag begrüßt und sich zu den beiden setzt. Papiere werden herumgereicht, zwischendurch dreht Gabi seinen Rechner so, dass die anderen beiden auf den Monitor schauen können.
Während ich die drei mit ausgeschaltetem Ton beobachte, wird mir schwindelig. Auf meiner Netzhaut wandern helle Flecken herum wie Irrlichter bei einem Schulausflug. Instinktiv lehne ich mich an die mit Graffiti und  Tags verschmierte Wand hinter mir. Keine Ahnung, warum mich das so mitnimmt – eigentlich wusste ich in dem Moment, in dem ich Blochers Dossier in Gabis Wohnung gefunden hatte, dass der Kerl was mit der Agentur zu tun haben würde. Dass Gabi nicht damit zufrieden sein würde, unser Betätigungsfeld ständig zu erweitern und  weitere Zellen zu erschaffen wie ein Urzeit-Pantoffeltierchen auf Crack.
Meine schwitzigen Finger kramen mein Telefon aus der Tasche, mein Daumen tickert sich durch, bis er die richtige Nummer gefunden hat. Es klingelt.
‚Boah, wie spät ist es?‘, will Paco Thalmann wissen.
‚Blocher ist in Berlin‘, sage ich unvermittelt, den Blick weiter fest auf die drei drüben hinter der Glasscheibe gerichtet.
Thalmann ist glockenwach. ‚Wo?‘
‚Hier in Schöneberg. Er hat ein Treffen mit Sutter und einem unserer Mitarbeiter.‘
‚Worum geht’s?‘, will er wissen. Ich höre Rascheln, seine Stimme klingt gequetscht. Vermutlich hat er sich den Hörer ans Ohr geklemmt, versucht, sich anzuziehen.
‚Woher soll ich das wissen? Können Sie herausfinden, ob da in seinem Umfeld was passiert?‘
Er knurrt, überlegt. ‚Mal schauen – ich häng mich dran. Ich erreiche Sie übers Handy?‘
‚Ja. Melden Sie sich, sobald Sie was haben – könnte mir vorstellen, dass das jetzt schnell geht. Ach, noch was. Schauen Sie doch mal, ob Sie eine Verbindung zu einem Waliser namens Corben Maddox herstellen können.‘
‚Zu Blocher?‘
‚Ja – keine Ahnung, was das sein könnte. Irgendeine Connection.‘
Wir beenden das Gespräch, ich stecke das Handy weg.

Als sich die Versammlung der drei nach einer guten Stunde auflöst, zögere ich kurz. Instinktiv will ich Blocher folgen – bin mir allerdings nicht sicher, ob das mit dem Rad Erfolg hat. Sobald er die Stadtautobahn nimmt oder eine größere Strecke fährt, ist er mich los. Trotzdem schieße ich bei Rot über die Straße, als er ausparkt und Richtung Osten davonfährt. Ich trete wie der Teufel, muss mir gar keine Mühe geben, genügend Abstand zu lassen. Das passiert von alleine. Aber immer wieder hole ich ihn ein. Wenn er an roten Ampeln wartet oder sich der Verkehr entlang des Kanals kurzzeitig staut. Ich ballere über die Gehwege, zwischen Fußgängern durch, lasse ihre Flüche hinter mir zurück.
Blocher biegt rechts ab, fährt nach Süden. Mein Puls rast, mein Shirt ist klatschnass. Wenn der Penner nicht bald irgendwo anhält, kollabiere ich einfach hier auf dem Lenker, denke ich. Und gebe Gas, um noch bei Dunkel-Orange über die Kreuzung zu huschen.
Aber ich fühle mich gut. Lebendig. Und gerade ist mir meine Angst scheißegal. Die muss ich irgendwo dahinten an einer der Ampeln abgehängt haben.
Der Gedanke treibt mir ein Grinsen auf das Gesicht. Ich zische an einem alten türkischen Mann vorbei, mache ihm Angst.
Blocher hat Mitleid. Er biegt in eine Seitenstraße ein, rangiert seinen Wagen in einen der Steckparkplätze. Keuchend halte ich an der Ecke, auf meinen Lenker gestützt. Hoffe, dass ich nicht gleich kotzen muss vor Überanstrengung. Grinse immer noch. Ich bin stolz, dass ich es geschafft habe, dranzubleiben. Mich von dem Dreckskerl nicht habe abschütteln lassen. Ich sehe zu, wie er eine kleine Ledertasche aus dem Kofferraum des Wagens nimmt und die Straße überquert. Der Wagen blipp-blippt zum Abschied, die Lichter flammen kurz auf.
Nachdem Blocher durch eine Glastür verschwunden ist, radel ich langsam an dem Haus vorbei. Eine Pension. Zumindest weiß ich also, wo ich ihn bis morgen früh finde. Die nächste Stunde warte ich darauf, dass er erneut erscheint - macht er nicht.
Ich  denke darüber nach, ob ich bei ihm bleiben soll, aber ich würde gerne wissen, wie Corben in das ganze Bild passt. Deswegen beschließe ich, Blocher vorerst zurückzulassen und mich um den Waliser zu kümmern.
Entspannt fahre ich durch Kreuzberg 61 Richtung Osten. Corben wohnt im Friedrichshain, direkt im Boxhagener Platz.
Ich brauche eine knappe halbe Stunde, bis ich da bin – habe keine Eile. Meine Oberschenkel schmerzen, aber das sanfte Fahren hilft gegen den beginnenden Muskelkater. 
Nachdem ich mein Rad an eine Wand gelehnt habe, gehe ich an seine Haustür, suche seinen Namen. Maddox steht krickelig mit Kugelschreiber auf einem Stück Tesakrepp, das er über das Klingelschild geklebt hat. Ich will wissen, ob er zuhause ist, oder ob ich mich bei ihm umsehen kann.
Mein Daumen drückt auf den Klingelknopf, mein ganzes Gewicht dahinter. Nach ein paar Sekunden löse ich mich vom Knopf, klingel noch einmal mehrere Herzschläge lang. Bevor ich das Plastik ein drittes Mal malträtieren kann, höre ich Corbens Stimme aus der Gegensprechanlage kratzen. Es klingt, als hätte er sich wieder hingelegt.
‚Was?‘, will er brutal wissen. Ich habe keine Lust, ihm zu verraten, dass ich hier unten stehe. Verstelle meine Stimme. ‚Isch mach disch Messer, Alta! Isch schwöre!‘ Dann ein gespieltes keckerndes Lachen. So erkennt der mich nie.
‚Arschloch!‘, krächzt es zurück. ‚Piss off, motherfucker!‘
Eigentlich könnte ich jetzt gehen – aber das Ganze steigt mir zu Kopf. ‚Ej, Alta, deine Mutta sammelt hässliche Kinder!‘ Muss mir ein Lachen verkneifen.
‚Fuck you!‘ Es knackt in der Anlage, Corben ist weg.
Heiser lachend gehe ich zu meinem Rad, schiebe es über die Straße. Kette es an ein Straßenschild an, hole mir bei einem Bäcker einen Kaffee.
Für eine Weile hänge ich an den verschiedenen Ecken rum, beobachte das Haus. Obwohl ich mir keine Hoffnung mache, dass er bald geht. Falls er sich nach dem Meeting wirklich wieder hingelegt hatte.
Nach einer Viertelstunde sticht mich der Hafer. Mit einem Grinsen nähere ich mich wieder der Tür. Hämmere meinen Daumen auf den Klingelknopf, diesmal nur kurz. Warte eine Minute, schon ist Corben dran.
‚Ja?‘ Seine Stimme klingt gedehnt, wachsam. Geschlafen hat der nicht mehr - wahrscheinlich habe ich ihn dafür zu sehr hochgekocht.
‚Alta, deine Mama arbeitet aufm Fischkutter – und zwar als Geruch!‘ Wieder mein künstliches Lachen, das mich an einen Cartoonhund erinnert, dessen Namen ich vergessen habe.
Ein kurzes, unterdrücktes Brüllen quetscht sich durch den Lautsprecher. Es knackt, weg ist er.
Rasch überquere ich die Straße, beziehe Posten in einem Hauseingang der nächsten Straße, von dem aus ich seine Tür gerade noch sehen kann. Ich muss nicht lange warten. Corben taucht auf, nachdem er die Haustür aufgerissen hat. Sieht sich mit schnellen Blicken um.  Sein Gesichtsausdruck kann ich aus der Entfernung nicht erkennen, aber ich kann mir seine Wut gut vorstellen. Er verschwindet wieder im Haus.
Gespannt warte ich. Ein junger Mann, in beiden Händen schwere Aldi-Plastiktüten, nähert sich dem Haus. Als er die Tüten absetzt, um seinen Schlüssel zu suchen, wird die Tür aufgerissen. Ein wutentbrannter Waliser hält sich gerade noch zurück, bevor er ihm ins Gesicht springt. Der junge Mann macht unwillkürlich einen Schritt zurück, Corben hebt die Arme. Beschwichtigt.
Sein Nachbar geht mit den Tüten an ihm vorbei, Corben schickt erneut misstrauische Blicke die Straße nach links und rechts hinunter. Verzieht sich ebenfalls.
Ich glaube nicht, dass er ein weiteres Mal hinter der Tür lauert. Aber das Risiko ist mir zu groß - ich bin nicht bereit, darauf zu wetten. Ich warte weiter.
Eine Viertelstunde später taucht der Waliser auf, diesmal mit Jacke. Telefoniert wild gestikulierend und geht die Straße runter Richtung Tram. Ich folge ihm langsam zu Fuß. Will sichergehen, dass er die Straßenbahn nimmt und ich mich nicht täusche.
Nach ein paar Minuten Wartezeit steigt er in die M10 Richtung Norden. Ich mache mich sofort auf den Weg zurück zu seiner Wohnung.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(25.02.10)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Mutter meinte dazu am 25.02.10:
:)
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram