Frischfleisch

Erzählung zum Thema Verrat

von  Mutter

Fassungslos sehe ich Benz und Corben hinterher. Das alles wird immer verworrener, die Übergänge zerfließen ineinander. Bin ich der einzige, der bei dieser Scheiße nicht im Bilde ist? Alle anderen scheinen auf die ein oder andere Weise mit drin zu hängen.
Fluchend gehe ich zu meinem Rad, löse das Schloss. Was kommt jetzt? Ich fühle mich wie ausgesetzt in der Wüste. Bis gerade eben hatte ich noch einen Plan, habe mich auf ein Ziel zubewegt. Jetzt ist alles weg. Leer im Kopf – Fata Morgana.
Mein Handy brummt, ich gehe ran. Es ist Gabi. Mein Herz hämmert, mein Mund ist trocken.
‚Hey Mann. Was liegt an?‘ Bis auf das Krächzen klingt meine Stimme ganz normal.
‚Hast du einen Moment? Wir haben in den letzten Tagen einen neuen Schwung Bewerbungen reinbekommen. Ich würde gerne, dass du dir die mal ansiehst.‘ Er klingt seltsam fröhlich und aufgeräumt. Offenbar gibt ihm die Sache mit Blocher Auftrieb.
‚Klar, wo bist du?‘
‚Im Büro. Kommst du vorbei?‘
‚In welchem?‘ Die Spitze kann ich mir nicht verkneifen.
‚Sehr witzig. Schwing deinen Arsch her, in Ordnung?‘

‚Zeig her‘, sage ich barsch, als ich bei ihm im Büro stehe. Er deutet auf die beiden Ordner, die auf dem Tisch liegen. Jungs und Mädels. Daneben eine Klarsichthülle mit Bewerbungen.
‚Das da sind die Neuen‘, sagt er und deutet auf die Hülle. ‚Und in den Ordnern sind auch ein paar, von denen ich nicht weiß, ob du die schon gesehen hast.‘ Um die letzten Bewerbungen hatte sich Benz gekümmert.
Ich nicke, ziehe mir einen Stuhl heran, fange an zu blättern. Gabi beobachtet mich. Mit zusammen gezogenen Augenbrauen sehe ich ihn an, will wissen, was los ist. Er lächelt, schüttelt den Kopf. Widmet sich seinem Rechner.
Aus dem Augenwinkel bemerke ich, dass er mich weiter unter Beobachtung hält. Er fängt an, mir auf die Nerven zu gehen. Drei Typen hat Benz der Kartei hinzugefügt – sehen auf den ersten Blick gut aus. Nichts Besonderes. Vielleicht bis auf einen Norman, einen angehenden Stuntman in Babelsberg. Den hätte ich vermutlich nicht genommen. Ist die Chance zu groß, dass der überkandidelte Scheiße abzieht. Wir brauchen Arbeiter, keine Künstler, hatte Eric immer gesagt.
Ich stelle den Ordner aufrecht weg, nehme mir die Mädels vor. Keine Ahnung, warum ich mich darum kümmern soll. Neue Rekrutinnen sind Sache von Juri und Stecher. ‚Frischfleisch‘, verkündet Stecher dann immer mit lauter Stimme und einem widerlichen Grinsen, auf das jeder Sexualstraftäter stolz wäre.
Ich überprüfe die Neuzugänge unter den Mädels normalerweise nicht. Ich blättere durch - die Frauen sind genau wie unsere Jungs nach Mitgliedsnummern, also chronologisch, geordnet. Als Erstes Hanni und Nanni, dann ein paar andere. Irinia. Ihr Bild zu sehen gibt mir einen Stich. Schnell schaue ich nach oben. Gabi scheint am Rechner beschäftigt, achtet nicht auf mich. Wollte er deswegen, dass ich den Kram durchsehe? Um mich dabei zu beobachten, wie ich erneut auf Irina treffe? Ich schnaube, blättere weiter. Zwei Mädels, nach denen ich mich auf der Straße umdrehen würde. Sehen eher so aus, als könnten sie als Models arbeiten - und nicht in Berliner Hauseingängen.
Ich blättere zum letzten Neuzugang, und es trifft mich wie ein Hammer. Aus einem großen Schwarz-Weiß-Bild sehen mich Julias dunkle Augen an, weit trauriger, als das Irina je könnte.
Gabi lacht. ‚Sie meinte, ich sollte sicherstellen, dass du davon weißt. Dass es dir bestimmt gefallen würde.‘
Ich sehe hoch, will etwas sagen. Gelingt mir nicht. Mehrmals versuche ich etwas herauszubringen, zwecklos.
Sein Grinsen wird breiter. ‚Ich habe gesagt, das du kaum überrascht sein dürftest, das ganz abgeklärt siehst. Scheint, als hätte ich mich getäuscht.‘
Endlich kommt etwas, ich presse es heraus wie eine werdende Mutter ihr Kind im Kreißsaal. ‚Du Arschloch!‘ Wuchte mich aus dem Sessel hoch, schieße um den Tisch herum.
Gabi kommt ebenfalls hoch, erwartet mich halb geduckt, als ich ihn umreiße. In einem Knäuel gehen wir zusammen hinter dem Schreibtisch zu  Boden. Ich versuche, ihn zu schlagen, bleibe aber abwechselnd am Schreibtisch und in seinen Armen hängen. Er wehrt nur ab, lacht fast hysterisch.
Die Tatsache, dass ich ihn nicht richtig erwische, ihm nicht wirklich weh tun kann, und seine Lache haben eine ernüchternde Wirkung auf mich. Ich lasse von ihm ab, lehne mich halb gegen den Bisley, der unter dem Schreibtisch steht. Er lacht immer noch, wischt sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Hilflos, wie ich mich fühle, spucke ich ihn an. Nicht besonders geschickt, ein Spuckefaden läuft mir das Kinn herunter. Er lacht bloß lauter. ‚Du hättest dein Gesicht sehen sollen!‘, bekommt er unter Mühen heraus.
Angewidert erhebe ich mich, gehe um den Tisch rum. Will herumfahren, ihn in neuer Wut beleidigen, beherrsche mich. Stattdessen gehe ich rüber zum Sofa, lasse mich auf die Couch fallen. Warte außerhalb seiner Sicht, dass er sich wieder fängt.
Nach einem Augenblick kommt er hinter dem Schreibtisch hervor, gluckst nur noch vereinzelt und schiebt sich seinen Stuhl zurecht, um sich zu setzen.
‚Hey, ich dachte, du siehst das mit mehr Humor. Sie wollte, dass ich dir Bescheid gebe. Ich dachte, so hat das etwas mehr Style.‘ Er zuckt mit den Schultern. Kleiner harmloser Scherz unter Freunden!
‚Du bist ein unglaubliches Dreckschwein! Warum machst du das?‘
Er lächelt milde. ‚ Die Menschen machen Extremsport, weil sie an Grenzerfahrungen glauben. Ich auch. Aber auch andere Leute bei ihren Grenzerfahrungen zu beobachten, bringt mich weiter. Ich wollte wissen, wie du reagierst.‘
Meine Gedanken springen zurück an den Gründungsabend der Agentur. Wie im Terrarium hatte ich mich damals gefühlt. Jetzt wieder. Gabis Gesicht, vom Glas übergroß dimensioniert und verzerrt, starrt zu mir herein.
Leise sagt er: ‚Hass‘ nicht mich, Jakob. Ich bin nicht für deine Situation verantwortlich.‘
Nein, aber du erfreust dich daran, zuckt es mir durchs Hirn. Aber er hat Recht. ‚Wann ist sie hier gewesen?‘
‚Gestern. Sie war ziemlich wütend.‘ Er zuckt mit den Schultern, setzt sich bequemer hin. ‚Sonst wäre sie wohl kaum zu mir gekommen.‘ Lächelt milde. Gabi weiß, wie wenig Julia ihn ausstehen kann. Umso mehr dürfte es ihn freuen, dass sie ihn für diese Aktion gebraucht hat.
Plötzlich wird sein Gesichtsausdruck hart. ‚Sie hatte das Bild dabei. Julia weiß erstaunlich gut Bescheid. Hast du dich bei ihr ausgekotzt?‘
Ich schüttel müde den Kopf. Die Wahrheit bringe ich nicht über die Lippen, obwohl es so einfach wäre. Mick. Der kleine Muck hat uns verraten. Schaffe es nicht, es ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen.
Mit brüchiger Stimme antworte ich: ‚Ich habe ihr nur das Notwendigste erzählt. Um sie da rauszuhalten. Du kennst sie. Hätte mir sonst die Hölle heiß gemacht.‘
Jetzt grinst er wieder. Nicht lange. Mit flacher Stimme droht er mir: ‚Bring das in Ordnung, Jakob. Ich fand die Aktion witzig, hatte Lust, dich zappeln zu sehen, aber klär das mit der Braut, okay? Ich habe keine Lust, dass hier demnächst dauernd wütende Freundinnen auf der Matte stehen. Die erste Regel des Fight Clubs lautet: Ihr verliert kein Wort über den Fight Club. Ist das klar?‘
Ich habe keine Kraft, um mich zu streiten, kann nur mit dem Kopf nicken. Weiß nicht, wie es weitergehen soll. In meinem Magen vermischen sich Wut auf Julia, Hass auf Gabi und die Angst vor allem zu einer toxischen Säure, die mir die Eingeweide wegfrisst. Ein weiteres Mal denke ich kurz darüber nach, was passiert, wenn ich Julia verliere. Wenn sie mich endlich verlässt. Ich weiß, dass ich mich kurz befreit fühlen würde. Schwerelos.
Gleichzeitig ist mir klar, dass ich danach viel tiefer abstürzen werde, als ich es vorstellen kann. Sie ist das einzige kleine bisschen Normalität, was mir geblieben ist. Meine Verbindung zum Basiscamp. Allerdings besitzt diese Sicherungsleine momentan die Reißfestigkeit einer Luftschlange.

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Kommentare zu diesem Text

Alegra (41)
(01.03.10)
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 Mutter meinte dazu am 01.03.10:
Irgendwie betrübt mich das nicht ... ;)

Danke.
Alegra (41) antwortete darauf am 02.03.10:
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