Letzter Aufruf

Erzählung zum Thema Verlorenheit

von  Mutter

Das Klingeln des Festnetzes weckt mich. Orientierungslos sehe ich mich im dunklen Zimmer um, verstehe nicht, wo ich bin. Brauche einen Moment. Bis dahin hat das Klingeln aufgehört. Als nächstes brummt mein Handy. In der Jackentasche im Flur - zu weit.
Mit einem Stöhnen schließe ich die Augen. Das Brummen geht, mein Kopfschmerz bleibt.
Weitere Minuten ticken weg, bis ich mich endlich hochstemme. Ins Badezimmer torkel, den Waschlappen neu befeuchte. Bevor ich ihn mir erneut aufs Gesicht lege, riskiere ich einen Blick.
Hätte ich besser nicht getan – Jakob erkenne ich zwischen Schwellungen, Blutergüssen und getrocknetem Blut jedenfalls nicht. Liegt vielleicht daran, dass ich nur mit einem Auge gucke. Das andere ist restlos zugeschwollen.
In der Küche suche ich aus einer Schublade die Packung mit den Schmerztabletten. Drücke zwei aus der knackenden Packung, nehme sie vorsichtig aus der hohlen Hand mit geschwollen Lippen auf. Trinke ein Glas Wasser hinterher. Als ich die Packung weglegen will, drücke ich zwei weitere Tabletten heraus, schlucke die ebenfalls. Das Pulsieren in meinem Schädel verlangt nach noch mehr, aber ich traue mich nicht.
Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer fische ich das Handy aus der Jackentasche. Julia. Ich lasse es wieder in den Stoff zurück gleiten.

Ich dämmer bis in den späten Abend vor mich hin. Als ich das Handy das nächste Mal checke, habe ich fünf Anrufe in Abwesenheit. Ich muss nicht nachsehen, um zu wissen, dass sie alle von Julia sind.
Mein nächster Weg führt mich zurück ins Badezimmer, Umarmung der Kloschüssel. Ich kotze mir die Seele aus dem Leib. Gehirnerschütterung, nehme ich an. Kein Wunder, bei den Schlägen, die ich eingesteckt habe. Würde Corben bestimmt stolz machen, wenn er es wüsste. Als ich hochkomme und mir den Mund auswasche – in Zeitlupe, um Lippen und Wangen nicht weiter weh zu tun, muss ich lächeln. Davon hat er aber nichts, der kleine Pisser. Wird es auch nie erfahren.
Nach einem Blick in den Kühlschrank beschließe ich, vor die Tür zu gehen. Es gibt nichts mehr zu essen im Kühlschrank – das wäre mir egal. Mit dem Gesicht habe ich ohnehin keinen Appetit. Aber es gibt auch keinen Alkohol mehr. Ich finde, ich habe mir ein paar Promille verdient.
Mein vorsichtiger Weg vor die Tür führt mich zum nächsten Imbiss. Ich gehe wie ein alter Mann auf Glatteis. Der junge Türke packt mir den Sixpack Becks und die kleine Flasche Raki in eine dünne, grüne Plastiktüte. Ich humpel wieder heim.
Im Flur hänge ich meine Jacke auf, checke erneut das Handy. Drei Anrufe.
Die erste Flasche Bier und den Raki öffne ich zeitgleich. Das Bier mildert den Schmerz, der Schnaps beißt in die offenen Wunden im Mund. Ich trinke mit einem Grinsen. Auf dich, Corben, du dummer Hund!

Am nächsten Morgen weckt mich das Klacken des Schlosses. Panik durchflutet mich. Ich brauche einen Moment, um zu raffen, dass der Waliser keinen Schlüssel hat. Ich wuchte mich vom Sofa hoch, Schwindel erfasst mich. Ich kneife die Augen zusammen, puzzle mir die Teile meiner Realität und meines Wohnzimmers vor geschlossenen Lidern zusammen, bis das Bild einigermaßen passt. Schon bevor ich die Augen öffne, weiß ich, dass Julia dort im Flur steht. Warte auf ihren Ausbruch. Als der nicht kommt, drehe ich den Kopf zu ihr.
‚Du bist ein fürchterlich dummer Mensch, Jakob‘, sagt sie ohne Mitleid in der Stimme. Ich sehe zu ihr hoch, bin von ihrer Reaktion enttäuscht. Wo ist ihre Fürsorge, ihre Angst um mich?
‚Willst du nicht wissen, was passiert ist?‘
Sie geht an mir vorbei zum Tisch, legt ihre Tasche ab. Dreht sich zu mir um. ‚Nein, will ich nicht.‘ Etwas sanfter fügt sie hinzu: ‚Ich dachte, du wärst raus. Willst das alles hinter dir lassen.‘
‚Es ist etwas dazwischengekommen‘, antworte ich, muss lachen. Daraus wird eher ein Husten, ich halte mir die Seite.
‚Sehr witzig. Wenn ich dich totgeschlagen auf dem Teppich im Flur gefunden hätte – hätte ich  das dann ebenfalls komisch gefunden?‘
‚Ach, Julia …‘
‚Nein, sag mal. Wie witzig ist das wohl, sich so eine Scheiße anzusehen? Dich so zu betrachten? Auf einer Skala von eins bis zehn – sag mal, Jakob.‘ Sie redet sich in Fahrt, ich habe nicht die Kraft, sie zu stoppen. Kann es nur über mich ergehen lassen.
‚Mick liegt im Krankenhaus. Er hat Glück gehabt. Ich dachte, dass sei ein Signal gewesen. Stattdessen finde ich dich hier und dein Gesicht sieht aus wie ein Pfund Hackfleisch. Und du gehst nicht ans Telefon‘, fährt sie vorwurfsvoll fort.
Weil ich wusste, wie das hier wird, antworte ich in Gedanken.
Julia kommt zu mir herüber, kniet sich vor mir hin. Jetzt wird es ernst, denke ich, verkneife mir ein Grinsen. Komme mir vor wie ein Kind, auf das die Mutter einredet. Sechs in Mathe, Zimmer nicht aufgeräumt, so was.
‚Jakob, solange diese Geschichte läuft, habe ich Angst um dich. Angst, dass dir was passiert, und Angst davor, dass du dich zu weit von mir entfernst. Und weißt du was? Ich habe keine Lust mehr auf diese beschissene Furcht. Will die nicht mehr.‘ Sie legt mir die Hände auf die Knie, schaut mich eindringlich an. ‚Ich will, dass du von all dem weggehst. Hand in Hand mit mir. Du bist mir wichtig – ich liebe dich, Jakob. Ich will den Rest meines Lebens mit dir verbringen. Aber nicht so. Verstehst du das?‘
Benommen nicke ich. Dabei habe ich keine Ahnung, wovon sie redet. Stellt sie mir ein Ultimatum? Ich glaube schon. Verwirrt sehe ich sie an.
‚Schaffst du das, Jakob? Wirklich?‘ Erneut kann ich nur nicken. Ihr Blick verhärtet sich, ihre Stimme schärfer. ‚Zwing mich nicht, den Teil von mir, der so schmerzt, loszuwerden.‘
Ich ignoriere das Pathos in ihren Worten, blicke in ihre Augen, sehe die Schmerzen. Und kann dem Blick nicht standhalten. Nicke mit gesenktem Kopf. Ich fühle mich wie ein geprügelter Hund, der hofft, dass die Standpauke bald vorbei ist.
Sie macht einen Schritt nach vorne, streckt ihre Hand aus, um mein geschundenes Gesicht zu berühren. Ich zucke zurück, weiche aus. 
‚Was ist passiert?‘, fragt sie mit leiser Stimme.
‚Das erzähle ich dir, wenn es vorbei ist. Wirklich vorbei.‘

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(08.03.10)
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 Mutter meinte dazu am 08.03.10:
Gut. :)

Danke.
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