Mind The Gap!

Erzählung zum Thema Entscheidung

von  Mutter

Ich stolpere in die Tiefe, verschwinde in einem schwarzen Loch. Komme mir vor, als würde mich die Kühle im Hochsommer verschlucken.
Es ist nicht Hochsommer, draußen sind es gerade mal zehn Grad. Ich wische mir mit dem Ärmel über die Stirn, bewege die Schultern. Mein Hemd klebt am Rücken. Bin ich gerannt?
Mit unsicheren Schritten gehe ich die Treppe hinunter, betrachte die hartgebackenen Kaugummi-Flecken auf den Stufen. Daneben weiße Farbspritzer. Meine Hand fasst das Metall-Geländer, es besteht keine Gefahr, dass ich falle. Oder?
Unten taumel ich durch die große Halle, die schmutzig-gefleckten Fliesen wabern unter in einem merkwürdigen Gelbton. Die Wände bestehen aus minzgrünen Kacheln. Jede Wette, der Innen-Architekt der BVG war auf Crack, als er diesen U-Bahnhof designed hat. Oder schwerkrank, kurz vor Delirium.
Ich muss lachen, aber es kommt nur ein Schnauben. Das sich in Schluckauf verwandelt. Kurz habe ich die Orientierung verloren, vergessen, was ich hier mache, dann sehe ich ihn. Beeile mich, hinterher zu kommen. Ihn nicht zu verlieren.
Haste die nächste Treppe herunter, beide Hände ungeschickt auf der Metallstange. Als würde ich mich an der Eiger Nordwand abseilen. Ich habe keine Höhenangst – nicht in der U-Bahn. Mit triumphierend zusammengebissenen Zähnen schüttel ich den Kopf. Ich nicht!
Unten rempelt mich ein junger Kerl in Bomberjacke an – bevor er etwas sagen kann, zische ich ihn an. Er starrt, schluckt, geht weiter - während ich lächel. Für einen Moment stelle ich mir vor, ich springe ihn an, beiße ihm in die Kehle. Wie ein Raubtier.
Wie einfach ist es, einem Menschen mit den Zähnen die Kehle aufzureißen? Ich drehe mich um, sehe ihm hinterher. Er ist bereits im Gedränge verschwunden.
Verwirrt sehe ich mich um, blicke in Gesichter, die an mir vorbeiströmen. Gelangweilte, ängstliche, verbissene, entrückte Gesichter.
Ich erkenne niemanden. Sollte ich? Was mache ich hier? Stelle mich auf die Zehenspitzen, sehe nach Julia. Bin ich hier mit ihr verabredet?
Fünfzig Meter weiter vorne sehe ich seinen Rücken, der sich an zwei jungen Mädchen vorbeifädelt. Mischa.
Ich haste nach vorne, dränge mich an Menschen vorbei, durch Menschen hindurch. Die Flüche und Beschimpfungen gleiten von mir ab, ich bin Teflon. Darf ihn nicht verlieren.
Er kommt vorne in einer kleinen Menschenlichtung zum Stehen. Nicht Mischa.
Gabi.
Ich sehe ihn im Halbprofil, er sieht auf den Monitor, der in der Schachtwand auf der anderen Seite der Schienen eingelassen ist. Wetter, Werbung, Weisheiten. Und wieder von vorne.
Er trägt auch keinen Rucksack, sondern eine Umhängetasche. Sein Laptop, Unterlagen, Pläne für die Weltherrschaft.
Mit beiden Händen schiebe ich einen kleinen Kerl im Anzug aus dem Weg. Registriere vage, dass er mich entgeistert anstarrt, höre keinen Protest. Wische mir mit dem Handrücken den Speichel aus dem Mundwinkel, fixiere Gabi vor mir.
Nähere mich ihm, ziehe kleine Kreise. Wähle nicht den direkten Weg – pirsche mich gegen den Wind an. Ich kichere. Hier unten weht nur der Wind, wenn die Bahn einfährt. Sonst ist es windstill.
Er steht ein paar Schritte vor mir, den Blick immer noch auf den Monitor geheftet. Wetter – die  Regentropfen, die auf der Karte eingezeichnet sind, sehen aus wie Tränen.
Abrupt flackert das Bild, Schrift erscheint. „ACHTUNG! ZUGEINFAHRT!“ Als wäre das mein Signal, setze ich mich in Bewegung. Einen Fuß nach dem anderen, immer weiter auf ihn zu. Mischa hat sich gerade mit Luisa gestritten , Türenknallen. Ich habe sie heulen gehört, bin ihm gefolgt. Die Straße runter, bis zur U-Bahn. Will mit ihm reden.
Gabi steht direkt vor der weißen Linie. Der Tragegurt seiner wasserabweisenden Tasche glitzert schwarz im Neonlicht, die Chucks staubbedeckt. Ein Luftzug erreicht uns, verwirbelt meine Haare. Der Bote ist da! Seine Majestät im Anrollen, in Gelb-Orange!
Fast kann ich meine Hand nach ihm ausstrecken – ich betrachte meine Hand, die nach ihm greift. Als will sie ihn zurückhalten. Aus dem Augenwinkel sehe ich das Monster den Tunneleingang füllen. Bruchteile von Sekunden, dann ist es da.
Bevor ich Mischa an der Schulter berühren kann, dreht sich Gabi um. Fixiert mich mit seinem Blick wie einen Schmetterling auf einer Stecknadel. Ich halte inne, meine Handfläche Zentimeter von ihm entfernt.
‚Jakob‘, formt sein Mund, der Sound vom Dröhnen der einfahrenden Bahn verschluckt. Ich nicke.
Aus Überraschung wird Zorn – er macht einen Schritt auf mich zu. Ich glaube, er packt mich an der Jacke, schüttelt mich. Meine Wahrnehmung ist Handkamera, mir wird schlecht. Will mich nicht schon wieder auf dem Beton übergeben. Wann war das letzte Mal?
Gabi hält mich fest gepackt und damit aufrecht. Der Lärm ist verstummt, ich kann hören, wie er mich anschreit.
‚Du dummer Penner, was wird das? Willst du mich auch abservieren? Einfach so?‘
Ich habe das Gefühl, er will, dass ich antworte. Aber ich weiß nicht was. Schüttel den Kopf. Warum ist Mischa sauer auf mich? Er hat sich mit Luisa gestritten, oder nicht?
Er hat mich losgelassen, stößt mich stattdessen mit beiden Händen vor die Brust. Ich stolpere zurück, er folgt. Schubst mich wieder.
‚Du bist ein jämmerliches Arschloch, Jakob – du weißt doch gar nicht, was du tust. Du bist krank.‘ Ich sehe ihn an, verzweifelt. Weiß nicht, was er will. Können wir uns nicht vertragen? Er scheint meine Gedanken nicht zu hören, gibt mir einen letzten Stoß, der mich gegen einen Pfeiler taumeln lässt. Zischt mir seine nächsten Worte ins Gesicht: ‚Eigentlich müsste ich vor so einem kranken Wichser wie dir Angst haben, oder? Das denkst du doch? Unberechenbar, ein Psychopath.‘ Er schüttelt den Kopf. ‚Aber du  machst mir keine Angst, du nicht. Weißt du warum?‘
Mechanisch schüttel ich den Kopf. Er fährt fort: ‚Weil du zu schwach bist. Deshalb. Du bist zu kaputt, um selbst so eine feige Aktion durchzuführen. Du willst, dass wir den Fight-Club zumachen? Mit der Scheiße aufhören?‘
Matt nicke ich – seine Worte dringen wie durch Luftpolsterfolie zu mir durch. Ich glaube, das will ich. Das es aufhört. Vielleicht muss ich  es nur bestätigen, und alles ist vorbei.
Gabi lacht. Ein hartes Lachen, das mich mein Gesicht verziehen lässt. Ein Lachen, das mich schmerzt, als würde Corben über mir stehen. Wer ist Corben? Die kleinen Blasen der Folie knacken gemein unter seinen Fingern.
‚Und denkst, du kannst mich genauso vor den Zug schmeißen wie damals diesen Idioten Mischa – und damit ist alles geritzt.‘
Ich runzel meine Augenbrauen – Mischa? Der hat sich mit Luisa gestritten, nicht mit mir. Aber langsam dringen seine Worte durch den Nabel zu mir durch. Als würde ich aus der Vollnarkose aufwachen, wird mir nach und nach klar. Wo ich bin. Wer ich bin.
Und was fast passiert wäre. Der Gedanke, ich hätte Gabi auf die Schienen schmeißen können, lässt alles um mich herum drehen. Weil ich ihn losgewesen wäre. Weil damit alles beendet wäre. Und weil ich mich endgültig vor die Wand gefahren hätte. Frau Doktor wäre stolz gewesen.
Aber er hat recht. Ich kann es nicht, bin nicht stark genug. Erneut verschwimmt meine Sicht, weil sich das Licht der Deckenlampen in meinen Tränen bricht. Ein Film von ihnen legt sich zwischen mich und Gabi, kann mich aber nicht vor ihm retten. Er hämmert mir seine Handballen vor die Brust, ich stoße mir den Kopf an dem gefliesten Pfeiler hinter mir. Minzgrün zuckt mir der Schmerz durch den Schädel. Ich verliere die Balance, rutsche auf den Boden runter. Meine rechte Hand, die nach Halt sucht, verschmiert Asche und Dreck an einem Mülleimer. Gabi beugt sich zu mir runter, betrachtet mich hasserfüllt. Die Tränen laufen mir inzwischen die Wangen hinunter, sorgen dafür, dass ich ihn klar erkennen kann. Mit erstickter Stimme flüstere ich: ‚Es tut mir leid – das wollte ich nicht.‘ Das mit Mischa nicht, und hier will ich auch nicht sein. Weiß nur nicht, wie ich wegkomme – festgenagelt von seinem unbarmherzigen Blicken an den hässlichen Fliesen.
‚Vergiss es, Jakob. Du bist ein Looser. Don’t hang out with the big boys – you might get hurt!‘
Er verschwindet aus meinem Blickfeld und während meine Körperspannung langsam nachlässt, rutsche ich seitlich am Pfeiler runter, bis ich mit der Wange auf dem kalten Boden liege. Die Bahn ist längst weg. Die Schmerzen in meinem Hirn pulsieren wie eine exotische Qualle auf dem Weg zur Wasseroberfläche.
Ich betrachte den festgetretenen Buckel aus Kaugummi auf der rauen Oberfläche vor mir und spüre erneut, wie mir Tränen aus den Augen laufen. Dreck, Kaugummi und Tränen – auf dem Nährboden aus Beton.

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(12.03.10)
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 Mutter meinte dazu am 12.03.10:
Hmmm, so Entschuldigungen wie 'Wenn man das so und so liest ...' lasse ich ja eigentlich nicht gelten.
Konfus ist konfus.
Ich schaue mir das daraufhin noch mal an, danke ... :)
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