Es hieß: "Sowjetische Mitbürger"

Bericht zum Thema Vergangenheit

von  bratmiez

In unserem Ort gab es so eine Sowjetische Kaserne. Direkt gegenüber befand sich mein Schulhort. Bis zur vierten Klasse verbrachte ich die Nachmittagsstunden dort.
Unter der Woche waren die großen, grau angestrichenen Torflügel immer geöffnet.
In einem Gebäude dahinter befand sich ein kleines Geschäft. Alle sagten: "Magazin" dazu. Meine Eltern kauften da einst einen schönen Teppich.
Er war dominant rot, durchzogen mit einem Muster aus weißen und schwarzen Verzierungen. Links und rechts hatte er kleine Fransen.
Im Geschäft rollten sie ihn nur zu einem Drittel aus und nickten sich gegenseitig mit einem Lächeln zu.

Die Frau an der Kasse rechnete mit einem Abakus den Preis aus.
Ich vergesse nie, wie man mit so einem Ding dermaßen schnell umgehen kann!
Zu Hause angekommen, mussten wir feststellen, dass sich in der Mitte des Teppichs das Emblem der Sowjetunion befand. Ein Zurückgeben kam nicht in Frage, deshalb stellten wir einen kleinen runden Tisch darauf.

Auf dem Tisch steht heute ein Funktelefon unter einem selbstgeklöppelten Deckchen.
Manchmal klingelt es und am anderen Ende der Leitung meldet sich eine Computerstimme:
"Guten Tag! Es ist unglaublich aber Sie haben gerade eben gewonnen. Neben mir steht der Finanzverwalter. In seiner Hand hält er den Koffer mit mindestens 15000€. Sie hören richtig. Halten Sie einen Stift und einen Zettel bereit, ich werde Sie in drei Minuten noch einmal anrufen. Herzlichen Glückwunsch!"
Vor einem 1,5. Jahrzehnt wäre ich ihm wohl noch auf den Leim gegangen. (Wieso sagt man das eigentlich?)
Heute jedoch lege ich auf und ärgere mich, dass ich wieder einmal den Hörer abnahm.

Früher hatten wir kein eigenes Telefon. Die wenigsten hatten 1. Deshalb waren auch die örtlichen Telefonbücher so dünn wie Groschenromane und die Nummern nicht länger als 4 Zahlen. Ziffern, es heißt Ziffern!
Der Teppich landete irgendwann auf einem Sperrmüllcontainer.
In der Nacht, bevor man ihn abholte, regnete es in Strömen.
Wir bezahlten ein kleines Vermögen für die Entsorgung, weil die Müllfirma nach Gewicht abrechnete.

Im Schulhort durften wir nieniemals: "Russen" sagen. Es hieß: "Sowjetische Mitbürger".
Elena warf mir einmal Smarties über den großen Zaun.
Sie war das Kind einer Soldatenfamilie. Man spricht es "Jelena" aus.
Und in jener Nacht, als der Mond runder nicht sein konnte, lag ich in meinem Bett und hörte dieses angsteinflößende Heulen.
Jelena sagte einst: "Das ist kein Hund - es ist ein Wolf."
Ich stopfte mir die letzten Smarties rein und versteckte mich unter meiner Decke.

Gestern, beim Fleischer (andere sagen auch Metzger dazu) verlangte ich ein Klio - Kewatsch, ein Kilo Pökelfleisch. Die Fachverkäuferin wies mich darauf hin, dass ich jenes erst kochen müsste, bevor ich es verzehre.
Sie benutzte eine elekronische Touchscreen-Kasse zum Abrechnen.

Der Wolf war bestimmt doch ein Hund und die Smarties waren auch nicht original.
Und plötzlich heißen die Sowjetischen Mitbürger wieder Russen und die Mähmähs - Schafe und so.
Was solls, ich habe immerhin mindestens 15000€ gewonnen.

Ist das nicht toll?!

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Kommentare zu diesem Text


 Macbeth (11.03.10)
Ganz zu schweigen von den ehemaligen Brüder und Schwestern im Osten bzw. Westen, die jetzt auch nur noch Ossi und Wessi heißen.

Gruß,
Macbeth

 bratmiez meinte dazu am 11.03.10:
joa, die grenze ist nicht wirklich gefallen ....
Lehmfigur (46) antwortete darauf am 11.03.10:
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 Dieter_Rotmund (11.03.10)
Der infantile Ton der Geschichte gefällt mir nicht, dafür jedoch der nostalgische Touch, denn auch ich war einst in einem "Schulhort", allerdings in Westdeutschland, und er hieß "Schülerhort" und war ein gerade fertigestellter Flachbau mit vielen Fenstern und meine Schule war direkt dahinter, kein Magazin, aber wir, die Schüler, wußten genau, wo wir "Zehner-Eis" bekommen konnten, aber vor allem bekamen wir Ärger, wenn wir zu spät zum Essen kamen. Später habe ich das Essen selbstgekocht, kein Witz, während meines Zivildienstes arbeite ich teilweise in einer sog. "Sozialküche", die auch eben diesen Schülerhort belieferte. Seit der Schülerhortzeit habe ich recht geringe Ansprüche, was die Qualität des Essens betrifft... In meiner Stadt hatten die Amerikaner sogar einen Flugplatz und wohnten in der "Ami-Siedlung". "Ami" sagt heute keiner mehr, aber "us-amerikanischer Mitbürger" hat noch nie jemand gesagt. Einmal in Jahr veranstalteten die Amerikaner ein großes Volksfest, zu dem die Bürger und Kinder meiner Start gerne hingingen, der Softeis hatten einen fast legendär zu nennenden Ruf. Ansonsten gab es kaum kulturellen Austausch. Das McDonalds dort gibt es immer noch. Roboter-Gewinnspiel-Anrufe erhalte ich seit meinem letzten Umzug glücklicherweise keine mehr. Man denkt, man hofft, dass der Schatz anruft, aber dann ist es nur ein Band, das ist schon frustirerend, ja... Pökelfleisch gibt es in Westdeutschland seit 1950 nicht mehr, vermute ich. Es ist ja schon schwer geworden, Leber zu bekommen!

Tschuldigung, bin abgeschweift...

 bratmiez schrieb daraufhin am 11.03.10:
schön ;o)
Spocki (57)
(15.03.10)
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