Von den Dächern

Kurzgeschichte zum Thema Kinder/ Kindheit

von  RainerMScholz

Dieser Text gehört zum Projekt    Kein Projekt
Der kleine Junge schrie und sprang auf den Wellblechdächern über den Schuppen hinter dem Haus herum, schrie seine Schmerzen und seine Angst in die bigotte Nachbarschaft, die schnell die Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen hatte.
Oma versuchte ihn unter Zuhilfenahme eines Besenstiels vom Dach zu kriegen, `runterzuholen von den Wellblechdächern, während Opa drin geblieben war und sich in seiner Werkstatt eingeschlossen hatte. Von hier oben sah die Großmutter viel kleiner aus. Mit ihrem verkürzten Bein hinkte sie stark. Ihre immer noch schwarzen Haare waren zu einem Dutt geflochten. Nachts trug sie ein Haarnetz. Sie hatte immer eine Küchenschürze an. Außer sonntags, wenn er zusammen mit ihr zur Kirche gehen musste.
Der Besenstiel war seinen Schienbeinen sehr nahe gekommen. Flink schnappte er danach und bekam das Ende zu fassen. In seinem Zorn und seiner ohnmächtigen Wut zerschmiss er das gegenüberliegende Klofenster. Obschon er auf den Kopf der Großmutter gezielt hatte. Es splitterte, und er konnte die schäbige Schüssel sehen, die auf dem fleckigen Linoleum wackelig festgeschraubt war, den abgenutzten Klositz, an dem der Deckel fehlte und das graue Kreppklopapier. Jetzt hatte er noch mehr Angst. Die Angst kroch die Beine hoch bis sie zwischen seinen Gesäßbacken war. Dort schwitzte die Angst und hielt sich krampfhaft fest. Sein Herz pochte wie wild, sein Magen war ein einziger Klumpen und sein Po schmerzte. Opa war immer noch in seiner Werkstatt. Bestimmt schnitt er etwas mit seiner großen schwarzen Schneiderschere zurecht. Sein Po schmerzte und er war innerlich zerrissen. Unaufhaltsame Tränen der Angst und der Erniedrigung rannen seine Wangen hinab. Die Sonne ging schon unter. Irgendwann musste er von diesen Dächern wieder herunter kommen. Die letzten roten Strahlen machten ihn frösteln.


© Rainer M. Scholz

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