Weihnachtsgans

Erzählung zum Thema Verrat

von  Mutter

Ich gehe nicht selbst ins Krankenhaus – dafür bin ich zu feige. Stattdessen warte ich ab, bis Juri dort war, und quetsche ihn danach bei einem Kaffee an der Imbissbude aus. Er pustet auf den Plastikbecher, hält ihn vorsichtig nur am äußeren Rand mit Daumen und Zeigefinger. Meiner verbrennt mir die Fingerkuppen, aber ich ignoriere den Schmerz. Will endlich wissen, was mit Gabi ist.
Mein Blick und die stumme Fortsetzung meiner Frage von vorhin bohren sich unnachgiebig in Juri. Er ist dagegen immun. Bläst mit gespitzten Lippen weiter und ich muss den Impuls unterdrücken, ihn vor die Brust zu boxen. Heißer Kaffee im Schritt würde ihn bestimmt zum Reden bringen.
Juri nimmt einen vorsichtigen Schluck, verzieht das Gesicht, weil er sich verbrennt.
‚Es war … unwirklich‘, sagt er dann. Betrachtet weiter den Becher.
‚Was ist die Diagnose?‘
‚Angebrochene Wirbelsäule, Hirntrauma, Rippenbrüche – Mann, das ist erst der Anfang der Liste.‘ Jetzt sieht er mir direkt in die Augen und ich kann die Verzweiflung sehen. Und bin froh, dass ich mir den Gang erspart habe. Ins Urban – das Unfall-Krankenhaus Nummer Eins, klar, dass sie ihn da ebenfalls hingebracht haben. Ob er das gleiche Bett wie Mick damals hat? Wahrscheinlich liegt er auf der Intensiven. Keine Ahnung, wie Juri es geschafft hat, sich als einen Angehörigen auszugeben. Ähnlich sehen sich die beiden eher nicht.
‚Dabei schaut sein Gesicht ganz normal aus. Dem ist nichts passiert. Friedlich sieht das aus.‘
Ich versuche, das Bild von Gabis zerbrochenem Puppenkörper mit dem Frieden in Einklang zu bringen, von dem Juri erzählt. Es gelingt mir nicht – stattdessen sehe ich Blutbläschen, die sich wie in einem Kaleidoskop ineinander und voreinander schieben. Wachsen, platzen, sich ersetzen – mit jedem Atemzug. Es schüttelt mich.
Die Schmerzen in meinen Fingern werden zu stark. Ich setze den Becher ab, ohne davon getrunken zu haben.
Was mit Gabi passiert ist, tut mir unendlich leid. Obwohl ich selbst vor kurzem noch dicht davor stand, ihn vor einen Zug zu schmeißen – das hier hätte ich nicht gewollt. Wenn ich gefragt worden wäre. So seltsam das klingt, aber das hatte er nicht verdient.
‚Was hat er gesagt?‘
‚Nichts. Wachkoma.‘
Oh Scheiße. ‚Können sie ihn da wieder rausholen?‘
Juri zuckt mit den Schultern, nimmt noch einen Schluck aus seinem Becher. ‚Keine Ahnung. Ich glaube, sie wissen nicht mal, was dann passiert.‘
‚Wegen bleibender Schäden?‘
Er nickt. ‚Ob sie ihn komplett wieder zusammensetzen können, oder ob er Zeit seines Lebens Gemüse bleibt.‘
Eigentlich sollte ich erleichtert sein. Ich wollte eine Lösung für das Agentur-Problem, und jetzt hatte sie sich in Form von Leif, dem unfähigen Stuntman aus Babelsberg offenbart. Er hatte Gabi erledigt – aus dem Verkehr gezogen. Das war doch genau das, was Mick und ich gewollt hatten.
‚Ich werde regelmäßig nach ihm sehen. Falls du mir was für ihn mitgeben willst …‘ Er sieht mich bei den Worten mit einem durchdringenden Blick an – fast als würde er mich um etwas bitten. Ich weiß nicht um was.
Müde massiere ich mir Zeige- und Mittelfinger die Nase. Nicke. Als ich hochsehe, starrt er mich immer noch an. Seine Augen schimmern feucht. Kann mich nicht erinnern, dass ich schon jemals etwas erlebt habe, was den Russen so mitgenommen hat. Ohne, dass Alkohol im Spiel ist.
‚Alles in Ordnung?‘
Er nickt, ich glaube ihm nicht. Auch gut.
‚Ich muss los – ruf mich an, wenn sich was an seinem Zustand ändert, okay?‘
Wortlos bestätigt er. Wir fassen uns gegenseitig am Unterarm, umarmen uns kurz. Mit einem schnellen Blick nach rechts und links überquere ich die Straße und laufe Richtung Moritzplatz. Ohne einen Blick zurück. Wann haben sich die Rollen derart umgedreht? Gabi kaputt und verletzt, Juri schwach und den Tränen nahe. Meine Welt steht Kopf, denke ich mit einem schiefen Grinsen. Bedeutet das, dass ich jetzt heile und stark bin? Angstfrei?
Ein Fahrradkurier brüllt mich an, fährt eine Schleife um mich. Ich spare mir die Mühe, seinem Rücken den Stinkefinger zu zeigen, lächele milde. Arschloch.

Bevor ich runter in den U-Bahnschacht gehe, rufe ich Thalmann an. Er geht sofort ran.
‚Ja?‘
‚Können wir uns treffen? Ich habe jede Menge Informationen für Sie.‘
‚Jetzt gleich?‘ Er klingt zögerlich.
‚Nein, heute Abend. Ich muss noch weiteres Material besorgen.‘
‚In Ordnung – wann und wo?‘
‚Halb Neun, bei dem Libanesen am Spreewaldplatz.‘
Kennt er – und bestätigt. Ich lege auf. Bis dahin habe ich noch einiges vor mir, jede Menge Arbeit.
Als Erstes nehme ich mir die Büros vor. Stopfe die Ordner in meinen Rucksack. Reiße sie wieder raus, weil nicht alles reingeht. Hefte alle Papiere aus, stopfe sie stapelweise rein. Stehe kurz unschlüssig vor dem Büro-Rechner – der ist zu groß zum Mitnehmen. Schaue mich in der Wohnung um, sehe aber kein Werkzeug. Kurzentschlossen gehe ich runter, suche mir einen Import-Export-Laden ein paar Straßen weiter. Kehre mit meiner Beute, einem Kreuzschlitz- und einem normalen Schraubenzieher zurück. Schraube den Rechner auseinander, klemme die Festplatte ab. Keine Ahnung, was sich da für Daten drauf befinden, aber Blocher werde ich die sicher nicht überlassen.
Nachdem ich aus dem Büro raus bin und mich auf dem Weg zum zweiten mache, stoppe ich kurz bei einem Army-Shop. Kaufe eine Tasche, groß genug für eine Sporttasche, aus demselben schweren Stoff, aus dem Seesäcke gemacht sind. Klappere Büro Zwei, Drei und Vier ab.
In keinem von ihnen ist jemand – ich nehme an, Gabis Teilhaber müssen erst den Schrecken des Unfalls verdauen, bevor sich hier wieder alles in Bewegung setzt. Dann ist es zu spät, denke ich mit einem Lächeln.
Die Tasche ist prall gefüllt, es fällt mir schwer, sie zu tragen. Laufe mit Schlagseite. Scheißegal – ich bin zufrieden. Habe mehr erreicht als Mick mit seinem armseligen Versuch, das alles und sich anzuzünden. Habe der Hydra innerhalb von anderthalb Stunden das Herz rausgerissen. Alle Herzen – sie ausgenommen wie eine Weihnachtsgans.
Sollen die beschissenen Wichser doch versuchen, ohne Gabi und ohne die Unterlagen weiterzumachen. Corben, Blocher, Benz - alles armselige Arschlöcher. 

Den ganzen Tag über sammel ich Anrufe in Abwesenheit. Julia, Mick, unbekannte Nummer. Keiner, der wichtig gewesen wäre. Wichtig sind gerade Juri und Thalmann. Alles andere ist egal.
Eine Viertelstunde vor dem Treffen schlage ich beim Libanesen auf. Bin nervös wie vor einem großen Date, dabei müsste ich das gar nicht sein. Thalmann kommt zehn Minuten später, wir schütteln uns die Hände, er setzt sich mir gegenüber. Ich empfehle ihm was von der handgemalten riesigen Speisekarte hinter der Theke, wir gehen bestellen. Die Tasche lasse ich neben meinem Stuhl zurück, als wäre sie nicht wichtig. Als würde sie mein Sportzeug enthalten.
Nach den ersten paar Bissen lasse ich die Pussy aus dem Sack. Erläutere kurz, was wir aufgezogen haben, wie das mit der Dresche funktioniert, wie das Häschen bei Pussy Deluxe hoppelt und was der Clincher bei Killer Deluxe ist. Thalmann vergisst, sein schawarma zu essen. Ich verkneife mir ein Grinsen.
‚Und jetzt die Gretchenfrage: Haben Sie dafür irgendwelche Beweise?‘ Seine Stimme klingt heiser – er befindet sich ebenfalls auf dem ersten Date. Fragt sich, ob es gleich zum Kuss kommt.
Kommt es. Nonchalant will ich ihm die Tasche mit dem Fuß rüberschieben, aber sie ist zu schwer. Mit einem Schulterzucken hebe ich sie an, grunze, wuchte sie ihm rüber. Er fängt sofort an, das Zeug durchzusehen.
‚Heilige Scheiße!‘, entfährt es ihm. Ich ziehe mir grinsend seinen Teller rüber und esse auf.

Zwei Stunden später geht Thalmann mit einem fetten Grinsen. Nicht ohne sich noch drei, vier Mal bei mir zu bedanken. Mach schon, Arschloch, ich mache das sicher nicht dir zuliebe, denke ich.
Fingere, als er weg ist, das Handy aus der Tasche. Eine SMS von Juri: Gabi ist tot 


Anmerkung von Mutter:

Habe unten noch mal einen weiteren Absatz eingefügt.

R.I.P.

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