Vernissage

Kindergeschichte zum Thema Mond/ Sterne

von  Dieter_Rotmund

Vor ein paar Tagen war ich bei einem ehemaligen Kommilitonen. Er hat zwei Kinder, seine ohne Unterlass plappernde Tochter ist jetzt vier Jahre alt, ihr sechs Monate alter Bruder ist liegt meist katatonisch herum. Ich ging durch die neue Wohnung meines ehemaligen Kommilitonen, die ich noch nicht gesehen hatte, während er seinen Kindern hinterher räumte. Dies nahm ihn derart in Anspruch, dass ich schon im zweiten Raum allein war. An einer Wand hing ein weißes Blatt Papier, auf dem waren monochrome, mehr oder weniger kreisförmige Linien. Vermutlich mit sogenannter Wachsmalkreide gemacht. Früher waren diese Bilder auf ehemaligen Computerdruckerpapier gemalt, das an den Rändern zwecks Transport perforiert war. Meistens hing die Perforierung noch am Papier, nachdem es für Wachsmalkreidebilder zweckentfremdet worden war. Was für Papier man heutzutage verwendet, weiß ich nicht. Die Computer drucken auf Papier ohne Perforierung.
Das Bild, das ich meine, war eines dieser Bilder, wie sie zu Tausenden in den Wohnungen von Menschen hängen, die kleine Kinder haben; Menschen, die sich nicht trauen zu sagen, dass die Zeichnungen nichts taugen. Sie lügen ihre Kindern an, die Bilder seien großartig. Ich stelle das nicht in Frage. Ich vermute, es hat irgendeinen pädagogischen Hintergrund. Wegen der Lobeshymnen bleibt es meistens nicht bei einem Bild, sondern die halbe Wohnung ist innerhalb kürzester Zeit mit diesen konzeptionslosen Schmierbildern verhängt.
Ich starrte wohl etwas zu lange auf dieses Beispiel überbordender elterlicher Toleranz, denn die vierjährige Tochter meines ehemaligen Kommilitonen sprang herbei und bestätigte meinen Verdacht ungefragt, dass die Zeichnung von ihr sei. Soso, dachte ich mir, da bekennt sich die Verursacherin zu ihrer wirren Jason-Pollock-Imitation. Wahrscheinlich, ohne je von Jason Pollock gehört zu haben. Na, dann wollen wir der Möchtegern-Künstlerin mal auf den Zahn fühlen, dachte ich weiter, und fragte sie, ob das Bild abstrakt oder gegenständlich sei. „Gegenständlich“ sagte sie, kaum dass ich meine Frage beendet hat. Klappe zu, dachte ich mir, jetzt habe ich sie bei den Eiern, denn wenn sie „abstrakt“ gesagt hätte, wäre sie fein raus gewesen. Aber sie hat „gegenständlich“ geantwortet und wenn das Bild gegenständlich sein soll, dann muss es etwas konkretes darstellen. „Wenn das Bild gegenständlich ist, was soll es dann darstellen?“ fragte ich.  Was dann als Antwort von der Tochter meines ehemaligen Kommilitonen kam, kann ich nicht wiedergeben. Es war zwar grammatikalisch einigermaßen in Ordnung, aber dafür so wirr, dass es inhaltlich keinen Sinn ergab. Ich sagte so etwas wie „M-mmh“ und schlenderte mit auf dem Rücken verschränkten Fingern weiter.

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Kommentare zu diesem Text


 Theseusel (18.03.10)
M-mmh ... das Verhalten des Erzählers ist pädagogisch wertvoll. Was hätte es ihm gebracht, wenn er das Hauptkunstwerk der Vernissage verrissen hätte?

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 19.03.10:
Ungewöhnliche Sichtweise: Wieso sollte mein Ich-Erzähler sein Verhalten darauf ausrichten, was "pädagogisch wertvoll" ist und was nicht?
Es scheint mir, es gäbe eine Art ungeschriebenes Gesetz, dass Erwachsene in Anwesenheit von Kindern sich besonders edel und großmütig verhalten sollen; das ist natürlich Quark; solchen prätentiösen Pathos müssen vielleicht Eltern gegenüber ihren Kindern an den Tag legen, aber doch nicht ehemalige Kommilitonen, oder?
(Antwort korrigiert am 19.03.2010)

 Melodia antwortete darauf am 19.03.10:
das kind ist sehr helle... erleuchtet... diese frage-antwort geschichte erinnert mich an ein koan --> LI ist verwirrt, weil aus seiner idee, seinem kozept gerissen... wäre das mädchen ein mönch würde das LI darüber nachdenken^^

lg
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