Pufferküsser

Erzählung zum Thema Vergeblichkeit

von  Mutter

Gedankenverloren scharrt Juri mit der Fußsohle über den Rand der niedrigen Betonkante. Wir warten auf die Tram, oben an der Warschauer. Ich bin rüber nach Friedrichshain, um mich mit ihm zu treffen. Um mit ihm über Mick zu reden. Habe ihm davon erzählt, was die Bullen glauben, was passiert ist. Um sicherzugehen, dass er nicht denkt, ich sei es gewesen.
„Mick hatte damit nichts zu tun.“ Als hätten seine Worte alleine nicht genug Wucht, hebt er endlich den Kopf, sieht mich an. Mir ist, als hätte ich ihm noch nie richtig in die Augen gesehen. Als nähme ich ihn zum ersten Mal richtig wahr.
Fenster zur Seele. Ich will den Maelstrom dahinter nicht sehen. Zwinge mich, nicht wegzusehen. Unsicher schiebe ich meine Füße weiter auseinander, als könnte ich so ein Taumeln, einen Sturz verhindern.
„Was?“, würge ich heraus.
„Es war nicht Mick“, wiederholt er, als hätte ich tatsächlich nicht richtig gehört. Unser Lieblingssatz in der Schule: „Das habe ich akustisch nicht verstanden.“
Im Gegensatz zu damals bin ich hellwach, von unkonzentriert keine Spur. Und trotzdem raffe ich nicht, was er da sagt. Als würde das Verstehen erst durch mehrere Schichten Kalksandstein sickern müssen. Mehrfach gefiltert.
„Was?“, kommt es noch einmal von mir. Er antwortet nicht, weiß, dass ich es begriffen habe. Sieht ein weiteres Mal auf seine Füße, scharrt weiter von links nach rechts.
Meine Welt klickt zurück in die Spur, ich kann mich wieder bewegen. Will auf ihn zu, ihn an der Schultern packen, schütteln. Aus ihm heraus prügeln, was er weiß. Warum er sich so verschissen sicher ist. Dabei kenne ich die Antwort.
Weil er das mit der Ratchet war, den Stöpsel gezogen hat. Die ganze Scheiße beendet hat. Nicht Mick – Juri war‘s! Nur das „warum“ verstehe ich nicht.
Was waren seine Worte? Das sei wie einem Flugzeugabsturz. Bei dem er einen Fallschirm dabei hat, nur aussteigen muss. Jetzt stellt sich raus: Juri ist der Terrorist. Der Typ, der den Flieger überhaupt erst zum Abschmieren bringt. Dafür sorgt, dass alle aus der Sonne stürzen. Fassungslos sehe ich ihn an, er schaut weiter weg. Ich schüttel den Kopf. Fasse es nicht. Das ist nicht der Juri, den ich kenne.
Ich mache einen Schritt auf ihn zu, kann sein Aftershave riechen. Meine Finger krallen sich in seine alte Lederjacke – halte ihn fest, oder mich, oder uns beide. Mir ist schwindelig, ich kann meinen eigenen schlechten Atem riechen. Er verzieht keine Miene, starrt mich nur mit seinen SeelenFensterAugen an. Von denen ich will, dass er sie zumacht.
Kann nicht ertragen, dass Gabi tot ist, dass sich alles dreht. Dass es Juri war.
Hinter seiner Schulter taucht die Tram auf. Ein Bild zuckt mir durchs Hirn – Mischa, wie er von der Plattform fliegt. Hier ist der Bahnsteig vielleicht zwanzig Zentimeter hoch, aber die Tram schiebt sich quietschend und bedrohlich immer näher. Um von ihr zermalmt zu werden, braucht es keine tiefen Gleise.
Keine Ahnung, was Juri in meinen Augen lesen kann – er sagt, ganz leise, dass ich ihn kaum verstehe: „Ich habe mit Julia gesprochen.“
Halbherzig und ängstlich dringen seine Worte zu mir vor, durchstoßen meine brüchige Hülle, um sich in mir einzunisten.
„Sie war da“, fährt er heiser fort. Tränen füllen seine Augen, laufen die Wange herunter. Ich habe Juri noch nie weinen sehen. Nicht mal, als seine Schwester gestorben ist. Seine Lippen zittern.
Ich mache einen Schritt zurück, die Hände immer noch in seiner Jacke. Kann ihn nicht loslassen. Endlich löst sich der verkrampfte Griff meiner Finger.
Die Tram fährt ab.
Julia. Ich muss plötzlich daran denken, wie sie sich von mir verabschiedet hat, an ihre letzten Worte. Ich hatte sie vollkommen missverstanden. Sie hatte was davon erzählt, den Schmerz loszuwerden. Ich bin davon ausgegangen, sie will mich loswerden. Mich nachts im Atlantik verklappen wie Sondermüll, sich endlich von den tonnenschweren Ketten befreien, mit denen ich sie seit Ewigkeiten belaste. An diese Alternative hatte ich nicht gedacht.
„Wie?“, krächze ich.
Juri kratzt sich mit dem Fingernagel die Wange. Ich stelle mir vor, ich kann das trockene Geräusch seines Drei-Tage-Bartes gegen den Nagel hören. Der Straßenlärm links und rechts macht das unmöglich.
„Keine Ahnung.“ Er verzieht das Gesicht, zuckt mit den Schultern. Knallt mir dann seinen Blick noch mal voll ins Gesicht. „Aber warum?“ Die Frage beschäftigt ihn viel mehr, ich kann den Schmerz dahinter schimmern sehen. Die beiden hatten nie viel miteinander zu tun – aber so wie Julia immer viel von Juri gehalten hat, hat der Russe sie geschätzt. Hat mich oft genug ermahnt, gut auf sie aufzupassen. „Manche Frauen trifft man nur einmal im Leben, Jakob. Die darf man nicht wieder gehen lassen“, hatte er mich betrunken eines Abends in der Stiege ermahnt. Ich hatte nur müde gelächelt. Sicher.
„Denen muss man sich vorsichtig nähern, mit den Fingern im Wasser. Bis man ihren Rücken berühren kann, ohne dass sie sich erschrecken.“
„Du hast einen Knall“, hatte ich mit einem Lächeln erwidert und einen weiteren Schluck von meinem Flens genommen.
Heftig hatte Juri den Kopf geschüttelt, verärgert, dass ich ihn nicht ernst nahm. Sich fast auf mich drauf gelehnt, mir seinen bierschwangeren Atem zusammen mit seinen nächsten Worten ins Gesicht gestoßen: „Das ist genauso wie einen Fisch mit bloßen Händen fangen.“
„In einem russischen Gebirgsbach?“
Mein fettes Grinsen hatte er ignoriert, nur heftig genickt. „Richtig. Geduldig und behutsam musst du sein, und dann entschlossen zupacken. Und nicht wieder loslassen.“
Bis ihr die Luft ausgeht, denke ich und sehe in den grauen Friedrichshainer Himmel, der dort oben seine schmutzigen Wolken um mich dreht. Jetzt ist es zu spät – sowohl zum Zupacken als auch zum Behutsam sein.
Julia hatte Gabi umgebracht. Weil ich es nicht geschafft hatte, aus dem Teufelskreis von Schwäche, Selbstmitleid und Abhängigkeit zu entkommen. Sie hatte getan, was ich nicht gekonnt hatte.
Und dabei trotzdem alles zwischen uns zerstört. Der Gedanke, sie wiederzusehen, ihr ins Gesicht blicken zu müssen, krampft mir den Magen zusammen. Weil ich mich in ihr spiegeln würde – ihre Augen würden mir ein Bild von mir zeigen, dass ich nicht ertragen könnte.
Und ich weiß, dass sie es nicht für uns getan hat. Dass ihr klar ist, dass es kein uns mehr gibt. Zerstört durch Flashbacks, Perazin und eine falsch eingestellte Ratchet.
Sie hat das ausschließlich für mich gemacht. Ihre Vorstellung davon, mich freizulassen. Wie einem Vogel, dem man die Käfigtür öffnet. Der Gedanken lässt mich angewidert das Gesicht verziehen, ich verspüre das gewohnte Gefühl der Angst tief in meinem Magen. Die vertrauten Klauen, die sich selbstbewusst eingegraben haben. Mich in diesem Leben nicht mehr loslassen werden.
Vor der Stadtkulisse an der Warschauer betrachte ich meine offene Käfigtür und weiß: Ich kann nicht raus. Dafür ist es längst zu spät. Was Julia getan hat - ultimativ zwecklos. Plötzlich merke ich, wie ich ein Loch in der Seele habe. Wie sie mir fehlt. Eigentlich war sie die ganze Zeit schon fort, ich hatte Julia längst aus mir verabschiedet, nur war mir das nicht klargewesen. Jetzt begreife ich es.
Für einen kleinen Augenblick sitze ich bei der Frau Doktor in ihrem sonnendurchfluteten Zimmer. Sie schaut mich mit traurigen Augen über ihre zu kleinen Brillengläser an. „Ich dachte wirklich, Sie schaffen das.“
Ich lächel, sehe runter auf meine Hände, die auf den Knien meiner Jeans liegen.  „Zwischendurch habe ich das auch mal gedacht.“ Zucke mit den Schultern, mein Lächeln wird zu einem Grinsen. „Wenn es so aussieht, als ob die Dinge sich zum Guten wenden würden – hat man nur was übersehen.“
Untermalt vom Kreischen der nächsten Tram verschwindet Frau Doktor langsam aus dem Friedrichshain, wird durch Juri ersetzt, der mich besorgt mustert – ich nehme an, mein zufriedener Gesichtsausdruck irritiert ihn. „Was willst du jetzt machen?“, fragt er mich.

Zwei Schritte zur Seite – erst einen kleinen, dann einen entschlossenen, größeren. Die M10 türmt sich vor mir auf. Nordbahnhof steht in gelben Lettern oben auf ihrer Stirn. Ich muss daran denken, dass man die Verrückten, die sich als ihr Hobby mit Eisenbahnen beschäftigen, Pufferküsser nennt.
Ich spitze die Lippen. Mit einem trockenen Knacken trifft mich die Tram.


Anmerkung von Mutter:

So, das war's.

Ende.

Damit ist der First Draft durch - mit dem Schluß bin ich zwar noch etwas unzufrieden, aber mit dem habe ich in den letzten Tagen genug gekämpft. Jetzt muss ich den erstmal wegpacken.
Und später noch mal ran ...

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Alegra (41)
(24.03.10)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Misanthrop (31) meinte dazu am 24.03.10:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Alegra (41) antwortete darauf am 24.03.10:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Misanthrop (31) schrieb daraufhin am 24.03.10:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Mutter äußerte darauf am 24.03.10:
:D

Danke für die Blumen. Aber vielleicht ändert sich Deine Meinung ja auch noch mal, wenn Du den Rest gelesen hast.
Jedenfalls bleibt der Schluß noch was schuldig ... :-/
Alegra (41) ergänzte dazu am 24.03.10:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram