Der Mosaikeffekt

Kurzgeschichte zum Thema Existenz

von  RainerMScholz

Der Himmel war ganz schräg, hellblau emailliert und fiel dann nach hinten um, dieser Eindruck verfestigte sich in seinem Kopf, nachdem er ihn eine ganze Weile in den Nacken gelegt hatte, so dass jetzt seine Wirbel knackten, als er sich wieder der Straße zuwandte. Dort kroch die hitzeflimmernde funkensprühende Blechlawine zur Hauptstoßzeit in träger, endloser Monotonie der Stadt zu. Männer und Frauen in gleichmacherischen Sakkos und Blousons, die verkrümmten Füße in schwarzpolierten Lackschuhen oder roten Hochhackigen, mit Aktenkoffern aus Lederimitat, frisch manikürt, zerschminkt und weggestylt, frisiert und toupiert, waren auf dem Weg zu ihren Jobs in Versicherungen, Agenturen, Banken, Kanzleien, Anstalten, eingekerkert in Totmacherbüros und hinter Blindschirmen gefangen und isoliert und weichgekocht.
Reno öffnete das nächste Aldi-Karlskrone und nahm einen tiefen Schluck. Das Trinken auf einer Parkbank unter der brennenden goldenen Scheibe hatte eine beruhigende, melancholische Wirkung auf ihn - um nicht zu sagen: paralysierend -, wenn er von der Schicht kam. Es war eine Körper und Geist aufzehrende, stupide, nächtliche Beschäftigung, die er für zu wenig Lohn verrichtete, aber sie hatte den Vorteil, dass man den Kopf freihalten konnte, wenn man nicht verlernt oder vergessen hatte, seine Träume fliegen zu lassen. Und wenn man etwas besaß, das Träume zu füllen vermochte. Außerdem gab es Nachtzuschlag. Er musste sich nicht mit Nebensächlichkeiten aufhalten. Er hatte keinen Börsenschluss in Tokio zu berücksichtigen, musste sich nicht mit blonden silikonbrüstigen botoxischen Chefsekretärinnen abgeben und selbst auch nicht den Arsch hinhalten, jedenfalls nicht im Übermaß. Es gab einfach nichts dazu zu sagen, es musste nur getan werden. Keine Diskussionen, keine verzweifelte Suche nach einem Ausweg, keine Sinndebatte. Und kein Ausweg. Die Fabrik hatte die Arbeit und er musste essen.
Wieder der Himmel. Alles ein Azurblau. Wie aus dem Bilderbuch. Unecht irgendwie. Viel zu blau. Unnatürlich blau. Endlos azurblau, unausweichlich, unerbittlich. In der Plastiktüte waren noch vier Bierbüchsen. Also kein Grund, nervös zu werden oder gar sich zu beeilen. Die Straße donnerte ihr metallisches Crescendo. Der Baum, unter dem er saß, warf einen langen Schatten. Es war alles ganz einfach. Das Leben wickelt sich selber ab, dachte Reno oft, bevor er den Wecker stellte und zu Bett ging. Es gab keine komplizierten Verwicklungen, kein Sich-Winden, keine Selbstverleugnung, es gab keine neuen Anfänge, allerdings auch kein tausendfaches Scheitern. Es gab nur ihn und ein Stückchen verwaschenes Himmelblau, es gab die Sonne irgendwo da oben und den Baum, unter dem er gerade saß und der das verknotete Licht durch die Äste sickern ließ, unter dem er gerne träumte bis die Zeit verging. Es gab nur ihn und diese partikulare Welt.
Reno warf die leere Bierdose in den mit einem blauen Plastiksack ausgekleideten Müllbehälter. Er öffnete das letzte Karlskrone, stand von der Parkbank auf und machte sich ohne Hast auf den Weg. Die Anlagen waren begrünt mit Kastanien, Weiden und Eichenbeständen und sehr reinlichen Veilchenbeeten in symmetrischen Figuren, Toilettenhäuschen standen gelegentlich vereinzelt und diskret am Rand der eingefassten Feinkieswege, in abgemessenen Abständen waren Halterungen mit Hundehäufchentüten angebracht. Reno suchte eines der Bedürfnishäuschen auf und betrat den grau gekachelten klaustrophobischen Innenraum, der stechend nach Salmiak roch, um seine Blase zu entleeren. Der ätzende Geruch vorgegaukelter Antisepsis kroch ihm enzephalisch hinter die Stirn. Von den Wänden schälte sich gekalkter Schimmel, unsichtbare Silberfischchen stahlen sich zwischen die Fugen der Kacheln. Die Bierdose am Verschluss mit den Zähnen festhaltend schloss er den Reißverschluss seiner Hose und trat vom Urinal fort wieder ins Freie.
Der Weg zur Autobahnbrücke, die er sich heute ausgesucht hat, führt an einer Trinkhalle vorüber. Er trinkt ein Bier, unterhält sich mit der Besitzerin über Belanglosigkeiten, die an Getränkekiosken eben gesprochen werden müssen, bestellt noch zwei für unterwegs und geht weiter. An der Brücke rast der Verkehr ohrenbetäubend unter ihm dahin, scheinbar ziellos, unbeirrbar, sinnlos, Automobil an Automobil gereiht wie Perlen an der Schnur, winzig kleine Gesichter starren heraus, lugen durch blinde Windschutzscheiben, manche grimmig, andere entseelt, wie hirnerstarrt, niemand lächelt, keiner scheint zu wissen, wohin die Straße ihn eigentlich wird führen können.
Reno suchte einen Kanaldeckel in dem in goldenes morgendliches Licht getauchten Asphalt der Brücke. Er nahm das Stemmeisen aus der Innentasche seiner Jacke und hievte das Gewicht aus dem blauen Teer. Dann rollte und schob er den Deckel zu dem Geländer und starrte gedankenverloren auf die blecherne Masse hinab, die grau wie geschmolzenes Blei vulkanisch glänzte und dampfte und zischte und heulte. Er sah in die gelbe Sonne ohne zu blinzeln und sah das Schwarz. Da hob er den in Beton gegossenen Körper mit einer riesigen Anstrengung empor auf das Geländer und ließ los. Erblindet für Sekunden, trank er das Bier zur Neige und warf die Flasche hinterher und ging.
Er stellte den Wecker ein. Um 22 Uhr beginnt seine Schicht. Reno legte sich zwischen die Laken und schlief ein. Sein Schlaf war traumlos.




© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text

janna (60)
(29.03.10)
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 RainerMScholz meinte dazu am 30.03.10:
Danke, Janna.
Grüße,
R.
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