Das alte Lied vom Fluss der Zeit

Kurzgeschichte zum Thema Schwangerschaft/ Abtreibung

von  Sanchina

DAS ALTE LIED VOM FLUSS DER ZEIT


„Ist da denn niemand, der mich hört?“ ertönte eine schwache Stimme. Doch der Mann hatte ein feines Gehör. Keine Stimme war für ihn zu leise. Keine Seele irrte ungehört umher.

„Ich höre dich,“ antwortete er, „wo bist du?“

Die Stimme wehte von einem nicht mehr ganz frischen Grab herüber: „Es ist so furchtbar laut hier! Die Kinder machen solchen Krach!“

„Die Kinder?“ wunderte sich der Mann. Dort konnten doch gar nicht so viele Kinder sein. Es war viele Jahre her, dass er ein Kind begraben hatte.

Nach einer Weile erklang die Stimme wieder. „Ach,“ seufzte sie, „ich war keine gute Mutter. Ich habe ihnen kein Zuhause in der Welt gegeben.“

„Wie viele Kinder hast du denn gehabt?“ erkundigte sich der Mann.

„Gar keines! Das ist doch das Problem.“

„?“

„Ich habe dreimal abgetrieben. Die ungeborenen Kinder sind hier, lärmen wie die kleinen Wilden und grölen pausenlos ein grauenvolles Lied. Es handelt von Toten, die in den Fluss geworfen werden.“

Der Mann kannte  dieses Lied und fand es überhaupt nicht grauenvoll. Jetzt konnte er auch die Stimmen der singenden Kinder hören. Sie sangen von Wiederkehr und Auferstehung.

„Kannst du mich hören?“ fragte der Mann. Die tote Nicht-Mutter antwortete sofort: „Ja, ich kann dich sehr gut hören. Deine Stimme übertönt diesen grauenhaften Gesang. Sag mir, wer sind die Toten, die in den Fluss geworfen werden? Was ist das für ein Fluss?“

„Die Seelen, die wieder in das Leben zurückkehren, sind gemeint. Sie werden in den Fluss der Zeit geworfen. Sag deinen ungeborenen Kindern, sie sollen froh sein, dass du sie da gar nicht erst hineingeworfen hast. Vielleicht geben sie dann Ruhe.“

Wieder breitete sich Stille aus. Die tote Nicht-Mutter hatte sich jetzt wohl den Kindern zugewandt. Nach einer Weile hörte der Mann ihre Stimme wieder: „Sie geben keine Ruhe! Jetzt spielen sie 'Jüngstes Gericht' und ich bin die Angeklagte!“

Der Mann lachte leise in sich hinein. Er liebte Kinder über alles, auch, wenn sie manchmal grausam waren.

„Was werfen sie dir denn vor?“ fragte er und gab sich Mühe, seine Stimme ernst klingen zu lassen.

„Sie klagen an, dass ich ihnen kein Zuhause in der Welt gegeben habe. Sie klagen ihr fehlendes Zuhause ein. Wie soll ich ihnen denn noch ein Zuhause geben? Mein Sarg ist eng, da haben sie doch keinen Platz. In meinem Haus wohnen jetzt andere Leute, da können sie doch auch nicht hin.“

„Deine Kinder brauchen weder Sarg noch Haus,“ meinte der Mann, „denn sie sind so tot wie du: sie leben zwar nicht mehr, aber in der Ewigkeit sind sie nicht angekommen. Sie irren herum, genau wie du. Gib ihnen das Zuhause, das sie brauchen, dann werden sie bestimmt Ruhe geben.“

Aus weiter Ferne hörte der Mann die Kinder noch immer grölend singen. Die Nicht-Mutter rief flehentlich: „Sie geben einfach keine Ruhe. Jetzt spielen sie 'Taufe'. Der Älteste ist der Priester. Er breitet seine Arme aus und weiht das Wasser. Die beiden Kleinen schubsen sich gegenseitig in den Fluss. Sie wollen jetzt Namen haben. Sie sagen, alle Seelen hätten Namen, nur sie nicht.“

„Das ist das geringste Problem,“ meinte der Mann, „sag ihnen, dass sie Peter, Paul und Johannes heißen.“

Die Kinder freuten sich über die Namen. Laut lärmend plantschten sie in dem geweihten Wasser und tauften sich viele, viele Male auf die Namen Peter, Paul und Johannes. Dann hörte der Mann die Stimme der Nicht-Mutter erneut. Sie klagte: „Sie geben noch immer keine Ruhe. Muss ich denn jetzt das Ewige Leben in diesem fürchterlichen Lärm verbringen? Ist das die Hölle, die ich mir eingehandelt habe? Oder vielleicht das Fegefeuer?“

„Weder das eine noch das andere,“ behauptete der Mann, „es ist noch ein Teil des Lebens.“

Die tote Nicht-Mutter stimmte ihm auf der Stelle zu: „Ja, daran erinnert mich das allerdings! Ich habe mir das Ewige Leben aber anders vorgestellt! Findet man denn niemals Ruhe?“

Die Stimme klang jetzt so sarkastisch, dass der Mann sich sehr beeilte, der Nicht-Mutter sofort einen guten Rat zu geben: „Du musst deinen Kindern endlich ihr Zuhause geben!“ sagte er mit großem Nachdruck.

„Ich habe doch selbst nichts mehr! Was soll ich ihnen denn noch geben? Weißt du denn nicht, dass man in den Tod nichts mitnehmen kann? Ich habe nichts mehr!“

„Du hast noch dich. Du hast deine unsterbliche Seele mit in den Tod genommen,“ behauptete der Mann.

„Die Seele habe ich doch nicht, die bin ich!“ entgegnete die Nicht-Mutter.

„Dort, wohin du unterwegs bist, gibt es den Unterschied zwischen Haben und Sein nicht mehr,“ sprach der Mann und hoffte sehr, dass er nichts Falsches sagte. „Schenk dich deinen Kindern. Schenk dich ihnen ganz. Sei ihnen das Zuhause, dass sie von dir verlangen. Lass deine Kinder in dir wohnen. Dann werden sie sicher Ruhe geben.“

„Sie geben keine Ruhe! Jetzt spielen sie 'Zuhause', das geht so: sie haben so etwas wie ein Haus gebaut, alle Wände vollgeschmiert und jetzt reißen sie es wieder ab.“

Der Mann lächelte. Er konnte aus weiter Ferne die Kinder hören. Sie quietschten vor Vergnügen. Der Mann hätte am liebsten laut gelacht, aber er beherrschte sich und sagte: „Nimm jetzt deine Kinder an und statte sie mit innerem Reichtum aus, damit sie diesen in die Welt bringen können, wenn sie wieder in den Fluss der Zeit geworfen werden. Mach sie seelisch reich und stark. Dann werden sie Ruhe geben!“

Es dauerte wieder eine Weile, bis die ersterbende Stimme der Mutter nur noch ein „Danke“ hauchte. Mehr konnte sie nicht mehr sagen, als die Kinder in sie eingezogen waren und endlich, endlich Ruhe gaben. Jetzt reiften sie heran zu einem neuen Leben im unendlichen Elend des Flusses der Zeit. Jetzt konnten sie Kraft schöpfen für ein Leben, in dem Peter Priester werden wollte.

Der Mann dachte bei sich: „Das muss ich meiner Frau erzählen!“ Doch er erzählte nichts, denn seine Frau konnte die Friedhofsgeschichten schon lange nicht mehr hören. Sie sagte immer: „Du spinnst doch Totengräbergarn! Wie konnte ich nur einen Totengräber heiraten?!“

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Kommentare zu diesem Text


 Feuervogel (16.04.10)
Wau, da fehlen mir die Worte. Starker Text!
Meine Emotionen hauts im Viereck umeinander.
LG Ela

 Sanchina meinte dazu am 16.04.10:
hallo feuervogel, freut mich einerseits ja, dass es dir die Sprache verschlagen hat, andererseits finde ich es schade. Danke!

 Feuervogel antwortete darauf am 16.04.10:
Da steckt so viel Emotion für mich in diesem Text, dass jedes Wort nie den richtigen Ton treffen würde. Ich finde, dieser Text muss wirken und dazu muss man still werden. LG Ela
Manu (56)
(02.08.10)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Sanchina schrieb daraufhin am 02.08.10:
Ich danke dir, Milla. Gruß, Barbara

 Dieter Wal (30.08.13)
Diese Erzählung hat prophetische Qualität. Ist selten in der Literatur. Teilweise erinnert sie mich entfernt an 'Der Hirt des Hermas', die ich aus Klaus Bergers und Christiane Nords "Das Neue Testament und frühchristliche Schriften" kenne.

 Dieter_Rotmund (08.10.21)
Der Text trägt das Narrativ inne, dass Frauen, die sich für eine Abtreibung entschieden haben, im Leben und auch noch im Tod (Hölle?) Schuldgefühle plagen müssten. Ich halte diese Einstellung für sehr konservativ, eigentlich anstößig. Bist Du Christ?

 Regina (08.10.21)
Es lohnt sich, diesen älteren Text mal wieder zu lesen. Der hat es in sich.
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