Gegenwind

Roman zum Thema Verlust

von  Mutter

Zwei Stunden später stehe ich unten in der Keithstraße. In der Hand habe ich eine Kopie von Tigers Phantombild. Der Zeichner, mit dem ich oben gearbeitet hatte, war erstaunt gewesen, als ich danach gefragt hatte. Ob er mir eins davon mitgeben kann. Wenn einer weiß, wie Tiger aussieht, dann ja wohl ich.
Ich hebe den Arm, betrachte das fotorealistische Bild, das ein wenig so aussieht, als wäre Tiger ein Charakter in einem Computerspiel. Versuche mir darüber klar zu werden, was es mit mir macht, ihn so zu sehen. Als einen dringend Tatverdächtigen, wie Wehmeier es genannt hatte.
Ich glaube immer noch nicht daran, dass er zu so etwas wirklich fähig ist. Zu was? Weiß ich genau, was da oben in unserer Wohnung passiert ist? Nein, immer noch nicht. Nicht wirklich.
Aber er hat etwas damit zu tun. Kennt den Mörder, hat ihn reingelassen, was auch immer. Tiger ist unsere einzige Spur. Ihre und meine. Ich hatte bisher nicht darüber nachgedacht – aber schlagartig wird mir klar, dass ich mich bewegen muss. Dass ich mich selbst auf die Suche nach Tiger begeben werde. Ich kann unmöglich darauf warten, dass sie ihn endlich irgendwo aufgabeln. Tomte hatte ich schon angerufen – der meinte nur, Tiger sei heute Morgen nicht erschienen. Und dass die Bullen da gewesen seien. Ob ich was damit zu hätte. Ich hatte wortlos aufgelegt.
Für einen Augenblick sehe ich hilflos Richtung Ku’damm runter -  ich weiß nicht, wohin. Sehe mich genau wie Tiger mit meinem Zeug an einer Bushaltestelle. Vielleicht nimmt mich auch jemand mit. Kneife die Augen zusammen, vertreibe das Bild.
Dirty oder jemand aus der Crew kann ich im Moment nicht ertragen – will die Blicke nicht. Gedankenverloren krame ich mein Handy aus der Tasche. Eine SMS von Manu. Können wir uns sehen?
Ich lösche die Nachricht ohne zu zögern. Weiß, dass sie jetzt Hilfe braucht. Aber nicht meine. Kann sie nicht auch noch stützen - habe genug daran zu knabbern, mich selbst aufrecht zu halten. Nicht zu fallen. Wenn ich mir vorstelle, sie macht mir die Tür auf, und ich sehe Luisas verheultes Gesicht vor mir, zerreißt es mich innerlich. Das schaffe ich nicht.
Mit einem trockenen Schlucken verbanne ich Manu und Luisa aus meinem Hirn. Suche im Speicher nach der Nummer von Frank. Wähle.
„Na, Meister, allet schick?“, fragt er gutgelaunt.
Frank Miakowski – von Dirty meistens nur ‚Mia-Mäuschen‘ genannt. Mitte Dreißig, mit Sabine verheiratet, Eigentums-Reihenhaus im Speckgürtel von Berlin. Hat zwei wunderhübsche kleine Mädchen, für die ich beide Patenonkel bin. Und er ist Polizist – Zivilbulle.
Alle möglichen Antworten, die weniger Pathos-beladen klingen, zucken mir durchs Hirn. Keine passt. Also sage ich: „Luisa ist umgebracht worden.“
Stille am anderen Ende.
Dann: „Fuck! Was ist passiert?“
„Kannst du mir helfen?“
„Klar, natürlich. Oh Scheiße, Luca, ich…“
Ich unterbreche ihn. Er weiß ja selbst nicht, was er jetzt sagen soll. Klingt alles unpassend. „Der Mann vom LKA ist Wehmeier. Sein Kollege heißt Dombrowski – das ist ihr Fall.“
„Wo ?“
Ich würde gerne die Hand austrecken, um mich irgendwo abzustützen. Aber ich stehe mitten auf dem Bürgersteig. „In unserer Wohnung.“
„Gibt’s einen Tatverdacht?“
Mein Schindelgefühl wird stärker. Eine vorbeikommende Oma wirft mir einen misstrauischen Blick zu.
„Ich habe einen alten Kumpel in der Wohnung übernachten lassen. Der ist verschwunden.“
„Ich klemme mich dahinter. Aber ich kann hier jetzt nicht weg …“ Wie um seine Bemerkung zu unterstützen, quakt im Hintergrund die Funke. Frank und sein Partner sind auf einer Obs – hängen irgendwo unauffällig rum, beobachten irgendeinen Penner beim Alltag. Jemand mit Dreck am Stecken. Warten darauf, dass er was macht und sie ihn einbuchten können. Ich stelle mir vor, wie die beiden in ihrem Wagen vor unserem Haus sitzen. Auf Tiger warten. Nehmen sie ihn hoch, bevor oder nachdem er Luisa getötet hat? Zu dem Schwindelgefühl gesellt sich Übelkeit.
„Schon gut. Ich komme klar“, behaupte ich.
„Ruf Sabine an. Triff dich mit ihr und den Mädchen. Die lenken dich ab, heitern dich auf. Ich bin heute Abend um halb Neun oder so zurück.“
„Mache ich.“ Die Lüge kommt mir leicht über die Lippen. Auf keinen Fall ertrage ich das Reihenhaus-Idyll mit den Kindern in meinem Zustand. „Ich melde mich nachher bei ihr.“
„Gut.“ Dann fügt er hinzu: „Ich weiß nicht, wie schnell ich da was rauskriege. Die Jungs vom LKA sehen solche Geschichten immer wenig sportlich. Werde ich wohl andere Quellen bemühen müssen – mich ein wenig umhören. Aber sobald ich was  habe, rufe ich an.“
„Danke.“ Ich fühle mich müde. Würde am liebsten einfach auflegen, aber Frank ist eine der letzten Konstanten, die mir geblieben sind.
„Hast du mit Manu gesprochen?“ Vor zwei Jahren hatten Luisa und ich vermutet, dass Frank vielleicht eine Affäre mit Manu hatte. Die beiden haben sich ziemlich oft gesehen und er hat immer wieder von ihr geredet. Manu hatte bei einem Abendessen nur erzählt, dass Frank wohl ziemlich verknallt in sie sei. Passiert wäre da aber nie etwas.
„Noch nicht. Mach ich gleich.“
„Tu das“, ermahnt er mich. Keine Ahnung, ob er sich Sorgen um sie oder um mich macht. Ist mir auch egal.
Wir beenden das Gespräch und kurz betrachte ich das Handy in meiner Hand orientierungslos. Als hätte ich plötzlich vergessen, was ich machen will. Wer ich bin. Aber das Vergessen hält nicht lange vor – sofort bricht wieder alles über mich herein.
Ich stehe auf der Straße, weine. Ziehe laut den Rotz in der Nase hoch. Muss unvermittelt grinsen, als ich an die Oma denken muss. Würde empört die dünn gemalten Augenbrauen hochziehen, wenn sie mich so sehen würde.
Langsam mache ich mich auf den Weg zur U-Bahn. Das Phantombild von Tiger stopfe ich mir in die Hosentasche, zerknitter es dabei.

Vor Murats Container passe ich einen Moment ab, in dem ich sicher bin, dass mich niemand sieht. Der Boss ist im Büro, von der Crew niemand zu sehen. Hole mir meine Klamotten und den Helm, starte den Bock.
Als ich über den Kies vom Hof fliege, unterdrücke ich den Reflex, mich zum Container umzusehen. Murat ist bestimmt nach draußen gekommen, als er den Motor gehört hat. Weiß ja, dass mein Moped noch da steht.
Ich lenke die Geländemaschine durch den zähfließenden Nachmittagsverkehr den Landwehrkanal entlang. Gehe unnötige Risiken ein, indem ich schneide, rausziehe, beschleunige. Luisa gegenüber hatte ich immer versprechen müssen, umsichtig mit dem Bock zu fahren. Als Gegenleistung hatte sie mir nicht reingeredet, ihre Angst darüber im Zaum gehalten. Diese Vereinbarung ist ja wohl jetzt hinfällig, denke ich verbittert, als ich mit zusammengebissenen Zähnen einen Toyota überhole und vor ihm reinziehe.
Ich fahre, als könnte ich mich mit meinem Trotz und Unverstand gegen das, was passiert ist, wehren. Als würde ich etwas ändern.
Lautes Hupen begleitet mich, als ich mit fast achtzig Sachen über die Kreuzung an der Neuen Nationalgalerie schieße. Vielleicht sollte ich raus aus Berlin fahren, mich auf einer Brandenburger Allee an einen der Bäume dort wickeln.
Ich weiß, dass ich kein Suizid-Kandidat bin, dass ich sowas nicht durchziehen könnte. Aber für einen Augenblick gefällt mir der Gedanke. Ein plötzlicher Ruck, eine einfache Bewegung des Lenkers, und ich kann all diese widerlichen Gedanken, den Schmerz und vor allem die Hilflosigkeit wegblasen. Zusammen mit meinem Hirn auf der Landstraße verstreuen.
Und mir wird klar: Es ist meine Schwäche, die ich nicht ertrage. Ich habe Tiger in die Wohnung gebracht. Ich bin schuld. Habe es nicht geschafft, Luisa zu beschützen.
Mit der rechten Hand klappe ich das Visier nach oben, damit der Fahrtwind mir die Tränen aus den Augen treibt. Sie mir mit Wucht aus dem Gesicht prügelt.
Ich sehe kaum noch was, als ich auf der langgezogenen Skalitzer Straße Richtung Kotti weiter Vollgas gebe. Fahre nach Gefühl.

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(16.04.10)
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 Mutter meinte dazu am 16.04.10:
Und Du hast ihn gerettet ... :)

Danke.
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