Phantombild

Roman zum Thema Verwirrung

von  Mutter

„Ich habe getrocknete Tomaten in die Eier gemacht“, sagt sie. Ich sehe nicht hoch, muss aber lächeln. Das ist eine Angewohnheit, die ich irgendwann aus Italien mitgebracht hatte – keine Rühreier ohne sonnengetrocknete Tomaten.
„Wo hast du die her?“, frage ich und schiebe mir eine Gabel voll in den Mund. „Das ist lecker.“
Sie bedankt sich mit einem scheuen Lächeln, zuckt mit den Schultern. „Luisa hat mich drauf gebracht. Nachdem sie sich mal darüber beklagt hatte, wie vernagelt du mit den Dingern bist.“ Sie schaut hoch, ein weiteres Lächeln versucht den Schlag, den die Erwähnung ihres Namens verursacht, abzumildern. Das misslingt. Aber ich bin bereit, mich dem zu stellen. Will nicht, dass ab sofort niemand mehr Luisas Namen aussprechen darf, ohne dass der Schmerz sich sofort Bahn bricht.
„Luisa“, sage ich leise, wie, um das Wort in meinem Mund auszuprobieren.
„Alles in Ordnung?“
Mein Nicken kommt zeitgleich mit ihrer Entschuldigung. „Es tut mir leid, so habe ich das …“
„Schon gut.“ Ich unterbreche sie, schaffe es ebenfalls, die Mundwinkel nach oben zu ziehen. „Ich will sie nicht vergessen. Will das aushalten.“
Manu nickt, piekt ein Stück Gurke auf ihre Gabel. Ich schiebe meine Hand halboffen über den Tisch, an sie gerichtet. Sie legt die Gabel hin, ergreift meine Finger. Ihre Haut ist kühl und weich. Nachdenklich streiche ich mit dem Daumen über die Haut auf ihrem Handrücken. Kann spüren, dass sie das, was sie als nächstes fragen will, nicht über die Lippen bringt. Endlich schafft sie es.
„Wer war es, Luca?“ Sie haucht die Worte fast.
Ich unterdrücke den Reflex, sie loszulassen. Auf Abstand zu gehen, mich sofort in die Defensive zu begeben. „Das wissen sie noch nicht.“
Sie sagt nichts, wartet. Darauf, dass ich weiter mache.
„Aber es war noch jemand in der Wohnung.“ Ich bilde mir ein, dass sie den Atem anhält. „Ein alter Kollege, der seine Wohnung verloren hat. Den ich gestern Abend mitgenommen habe.“ Zwinge mich, hochzusehen, ihr in die Augen zu schauen. Sehe dort nichts als meinen gespiegelten Schmerz. Als ob ihr nicht klar ist, was ich ihr erzähle. Mich selbst verurteile.
„Er war noch da, als ich heute Morgen gegangen bin. Die Polizei hat keine Ahnung, wo er ist.“
„Wer war er?“
„Wir kannten ihn alle nur als Tiger. Ich weiß nicht, wie er richtig heißt.“ Gott, es wäre so einfach für sie, Anklage zu erheben. Mich zu verletzen. Das tut sie nicht.
Mit weicher Stimme fragt sie: „Erzähl mir von Tiger.“
Ich nicke, atme tief durch, sammel mich. Schätze, das bin ich ihr schuldig. Fange beim Ku’Damm und dem Zettelverteilen an, erzähle ihr vom Bunker und von den Abenden mit ihm und Dirty. Berichte von dem Schwachkopf Manne, und wie Tiger dort an der Bushaltestelle saß.
„Wie sieht er aus?“
Ich hole den zerknitterten Zettel aus der Tasche, streiche ihn glatt. „Das ist er nicht wirklich – nicht der Tiger, den ich kenne. Aber so ungefähr“, sage ich entschuldigend und schiebe ihr das Blatt rüber.
Mit einem Lächeln rückt sie es sich zurecht und betrachtet es. „Er sieht so jung aus.“
Ich nicke.
„Aber du glaubst nicht, dass er was damit zu tun hat, oder?“
Ich schüttel den Kopf. Betrachte sie aufmerksam. Manu legt kurz den Kopf schief, sieht sich das Bild genauer an. „Wahrscheinlich wäre ich ganz erstaunt, wenn ich ihn in echt sehen würde. Bestimmt wäre ich überrascht, dass er ganz anders aussieht.“
Ich musste daran denken, dass ich den gleichen Gedankengang ebenfalls verfolgt hatte. Das dort auf dem Tisch war nicht mein Tiger. Ich wollte den Kerl auf dem Phantombild finden, um herauszufinden, was er mit der ganzen Sache zu tun hatte. Ob er wirklich unschuldig ist.
„Ein Phantom“, flüstert Manu, berührt das Bild mit den Fingern. „Wo er jetzt wohl ist?“
Als ich nicht antworte, fragt sie nach einem Moment lauter: „Wie willst du ihn finden?“
„Weiß ich noch nicht genau. Mich in der Szene umhören. Ich kenne die Leute, die er kennt. Weiß, wo er früher rumgehangen hat. Kein Mensch kann einfach spurlos verschwinden – ohne dass jemand davon erfährt.“
„Dirty hilft dir?“
„Dirty und Frank.“
Sie lächelt. „Der nimmt sich der Geschichte bestimmt persönlich an. Jede Wette, der bekommt jede Menge mit den Jungs vom LKA. Wahrscheinlich ärgert der Dombrowski sich die Krätze.“
Für einen Augenblick bin ich erstaunt, dass sie die zwei ebenfalls kennt, bis mir einfällt, dass sie natürlich auch bereits bei ihr waren. Und es freut mich, dass sie Dombrowski genauso einschätzt wie ich.
Plötzlich fällt mir auf, dass unsere Hände sich immer noch berühren und verlegen ziehe ich meine zurück.
Sie nimmt ihre Gabel wieder auf, isst weiter. „Bleibst du heute Nacht hier?“, fragt sie ohne aufzusehen. Bevor ich antworten kann, fügt sie „Bitte!“ hinzu.
„In Ordnung. Weiß eh nicht, wohin. Bei Dirty zu bleiben würde ich nicht ertragen.“ Das ist so unglaublich dicht an unserer Wohnung. Von seinem Fenster aus kann ich direkt in die Reichenberger Straße sehen. Ich schlucke heftig.
„Ich glaube, ich muss ins Bett.“
Zur Antwort nicke ich nur, schiebe mich vom Tisch hoch. Wir räumen ab und sie baut mir das Sofa um. Genauso, wie ich es für Tiger getan habe. Als ich aus dem Bad komme, habe ich Tränen in den Augen. Ich schlüpfe unter die Decke, mache die Stehlampe aus. Einen Augenblick später kommt Manu durch das bereits halbdunkle Zimmer. Bleibt an der Couch stehen, zögert. Ich weiß, dass sie mir helfen will. Mich trösten, mich halten. Aber das kann sie gerade nicht.
Sie spürt meine Distanz, geht mit einem geflüsterten „Gute Nacht“ in ihr Zimmer.
Ich presse mein Gesicht ins Kissen und tränke es mit stummen Tränen, bis ich eingeschlafen bin.

Am nächsten Morgen stehle ich mich wie nach einem schlechten One-Night-Stand aus der Wohnung, bevor Manu aufwacht. Noch so eine Szene ertrage ich nicht – wo wir uns beide ansehen, dicht am Wasser gebaut, und darüber rätseln, wer von uns beiden gerade mehr Hilfe nötig hat. Auf meinem Handy ist eine SMS von Dirty. Kam gestern Abend. Kurz und trocken schreibt er: Pohlstraße 10 – Hagedorn
Während ich durch die Haustür trete, schiebe ich das Handy in die Hosentasche. Die Luft draußen ist klar und frisch – beißt mich in die Lungen, als ich tiefe Züge nehme. Ich besorge mir ein Frühstück unterwegs in einer Bäckerei – zwei Kaffee im Pappbecher und ein Butterring. Esse am Motorrad stehend,  verbrenne mir Finger und Lippen.
Danach kicke ich die Maschine an und fahre am Wasser entlang Richtung Westen. Auf den Straßen ist kaum Verkehr und ich komme gut voran. Fädel mich in die Potsdamer ein, um nach Süden zu fahren. Ein paar Blocks, dann biege ich links ein. Die Pohlstraße verläuft parallel zur Kurfürstenstraße – ein ätzender  Straßenstrich von Junkies und alten Weibern.
Vor der Zehn kille ich die Maschine, schließe den Helm am Bock an. Gehe auf die Tür zu, suche auf den fertig aussehenden Klingelschildern nach Hagedorn. Presse den Daumen drauf – mir kommt es wie eine Ewigkeit vor. Ich muss das Ganze noch ein paar Ewigkeiten wiederholen, bevor mir der Summer missmutig endlich öffnet.
Ich steige das dämmerige Treppenhaus hoch, bin mir nicht mehr sicher, welcher Stock es ist. Das letzte Mal, dass ich hier war, ist bestimmt ein halbes Jahr her. Kurz darauf habe ich die richtige Wohnung, hier steht das Hagedorn mit Kugelschreiber auf Tesakrepp geschrieben.
Mit der Faust wummere ich gegen die Tür, die sich erstaunlich schnell öffnet. Mit schlafverkrusteten Augen sieht mich Tigers Mitbewohner an und fragt: „Was zum Teufel willst du hier?“

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(20.04.10)
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 Mutter meinte dazu am 20.04.10:
Hmmm, mir ist natürlich sofort was zum Verbessern aufgefallen. :D

Danke schön.

 franky (05.05.10)
In diesem Teil ist so viel heimliche Zärtlichkeit und offene Wehmut zu spüren,
ich mag ihn ganz besonders; ...

Lieben Gruß

Franky

 Mutter antwortete darauf am 07.05.10:
Danke schön ... :)
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