Mordu

Roman zum Thema Vergangenheit

von  Mutter

Dirty lenkt den Wagen in eine Straße mit unscheinbaren Reihenhäusern – jeweils zwei aneinander, als hätten sie Angst vor dem Rest des Beton-Ghettos. Er biegt in eine schmale Zufahrt neben einem dieser Häuser ein, fährt einen schmalen Schotterweg nach hinten durch. Dort gibt es statt einem Garten einen kleinen behelfsmäßigen Parkplatz, auf dem zwei Autos mit französischen Kennzeichen stehen.
Wir falten uns beide aus dem kleinen Wagen, strecken verkrampfte Muskeln - versuchen, betäubte Gliedmaßen wiederzubeleben.
„Lass uns reingehen“, sagt Dirty und klappt die Heckklappe zu, aus der er unsere Tasche gehoben hat. Ich folge ihm zum Hintereingang. Aus den Fenstern im Erdgeschoß dringt weiches Licht – offenbar hatte er recht und wir kommen nicht zu nachtschlafender Zeit.
Dirty schwingt die Fliegengittertür auf und klopft. Wartet ungeduldig ein paar Sekunden, benutzt erneut die Knöchel. Bevor ihn seine Ungeduld ein drittes Mal die Hand heben lässt, wird die Tür geöffnet. Ich habe nur Bruchteile von Sekunden, um Silhouette der fülligen Frau wahrzunehmen, bevor sie mit Dirty in einer innigen Umarmung verschmilzt.
Unsicher und verlegen stehe ich einen Moment am Fuß der kleinen Treppe – die beiden scheinen sich nicht wieder loszulassen. Endlich löst sich Dirty mit einem Lachen von ihr und dreht sich zu mir um. Bedeutet mir aufgeregt mit der Hand, näherzukommen und zieht mich die letzte Stufe nach oben. Oben übernimmt die Frau, vielleicht Ende Vierzig, Anfang Fünfzig, seinen Job und bugsiert mich in die heimelig erleuchtete Küche.
Noch bevor ich mich auf einen der Holzstühle gesetzt habe, hat mich Dirty ihr vorgestellt, mich meinerseits mit ihr bekannt gemacht und schon konfrontiert mich Madame Chevalier mit einem Schwall Französisch. Ich verstehe kaum etwas – einzelne Brocken schon, weniges übersetze ich mir aus dem Italienischen.
„Hast du Hunger?“, fragt Dirty und lässt sich neben mich auf eine Bank fallen. Die Madame nickt aufmunternd, Dirty bekräftigt ebenfalls und ich zucke mit den Schultern. „So lange es nicht ewig dauert – ich bin hundemüde.“
Die nächsten zehn Minuten schlägt Madame alle Pfannen und Köchen, die sie in ihrer weitläufigen Küche finden kann, mit maximalem Krach zusammen, dreht dabei Gasflammen und Lüfter soweit auf, dass man ohnehin kaum ein Wort verstehen würde, und redet ununterbrochen mit Dirty. Zwischendrin kommt sie rüber, nimmt sein Gesicht in beide Hände und strahlt erst ihn und dann mich an. Als hätte ich ihren verlorenen Sohn zurückgebracht.
Ich versuche, mir Dirty als ihren Liebhaber vorzustellen. Vor zehn, zwanzig Jahren war sie bestimmt richtig hübsch, und sie hatte sich gut gehalten. Etwas füllig, mit einem riesigen Busen, aber keinesfalls so, dass mir der Gedanke völlig absurd vorkommt. Bis ich mich daran erinnere, mit was für Mädchen sich Dirty in Berlin umgibt – blutjung, oft unerträglich hübsch und mit leeren Augen. In dieses Beuteschema passt Madame Chevalier nicht mal, wenn man es durch eine Camera Obscura presst und auf dem Kopf betrachtet.
Ich schätze, er war jung und brauchte das Geld, denke ich mit einem Grinsen. Die Madame fängt meinen Blick auf, erwidert das Lächeln. Und nickt enthusiastisch, bevor sie sich umdreht und weiter in ihren Pfannen rührt.
Es gibt Bratkartoffeln, Rühreier und jede Menge Eingemachtes: Rote Beete, Gewürzgurken, Silberzwiebeln. Dazu frisches französisches Brot. Erst beim Essen bemerke ich, wie hungrig ich bin. Und tatsächlich verstummt für eine kurze Weile jedes Gespräch – andächtig sieht uns die Madame beim Essen zu. Schenkt uns immer wieder von dem leichten Cidré nach, den wir dankbar annehmen.
Erst als wir kurz davor sind, erschöpft aufzugeben, entfernt sie sich mit einer kurzen Entschuldigung kurz aus der Küche. Führt uns, als sie zurückkommt, die Treppe hoch. Dirty nimmt sie besitzergreifend an der Hand, während ich ihnen folge.
Das Zimmer ist schön – besitzt eine Art französischen Bauerncharme. Ich mache eine kurze Bemerkung über das Doppelbett, bevor ich an das Fenster trete und nach draußen sehe. Mich daran erinnere, wo wir sind. In jeder Richtung sind die riesigen Betonklötze zu sehen und bis zum Horizont ist die Nacht erfüllt von einem unwirklichen schimmernden Licht. Ich weiß, dass es von den vielen gelben und orangenen Laternen, von den unzähligen erleuchteten Fenstern in den Blöcken kommt – aber es einen irrealen Eindruck. Und zeichnet die brutalen Umrisse der Hochhäuser weich.
Die Madame verabschiedet sich mit einem Gruß, ich drehe mich gerade noch um, um ihr lächelndes Gesicht hinter der Tür verschwinden zu sehen. Murmel mein „Bonne nuit!“ viel zu spät.
„Oh Mann, wir sind wirklich hier!“, ruft Dirty und lässt sich auf das Bett fallen. Die Arme ausgebreitet wie zu einer Kreuzigung.
Ich setze mich zu ihm auf die Bettkante, entlaste meinen müden Rücken. „In der Tat.“  Mehr fällt mir dazu nicht ein.

Kurze Zeit später wechseln wir uns im Bad ab – er hat mich vorgelassen, so dass ich bereits in die schmerzhaft saubere Bettwäsche gehüllt liege, als er im Bad das Licht löscht. Das Dämmerlicht, das von draußen eindringt, reicht aus, um das Zimmer in Zwielicht zu tauchen. Ich muss an den Polarkreis denken. An eine Reise, die ich mit Luisa und einem befreundeten Paar vor zwei Jahren gemacht hatte – nach Nord-Norwegen. Dort war es auch nie dunkel geworden – Luisa hatte fast eine Woche lang nicht geschlafen.
„Ich muss noch kurz zu Madame Chevalier“, verkündet Dirty, bevor er durch die Tür schlüpft und sie leise schließt.  Ich greife mir sein Kissen, um mich daran festzuklammern und starre aus dem Fenster. Durch die feinen weißen Vorhänge, die nichts dafür tun, das Licht draußen zu halten. Oder meine Erinnerung.
Mit geschlossenen Lidern, aus denen sich einzelne Tränen stehlen, schlafe ich ein.
Nachts träume ich, dass die Beton-Giganten, die uns umzingeln, sich langsam näherschieben – sobald ich meine Augen schließe, kommen sie ein paar Schritte näher. Reiße ich sie auf, verharren sie im widerlichen Halblicht. Schwer senken sich meine Lider erneut, und ich höre das brutale Schaben, mit dem sie näherkommen. Ich habe das Gefühl, ich müsste wachbleiben, uns beschützen – aber ich kann nicht. Ich bin zu müde, versinke immer wieder in bleischweren Schlaf.
Stelle irgendwann fest, dann Luisa weggelaufen ist – die Stelle zwischen Dirty und mir ist leer. Ich versuche, nach ihr zu rufen, aber mein Mund ist voller Sand. Als ich ans Fenster springe, durch die offenen Flügel nach draußen starre, sehe ich sie laufen. Weg von mir, auf die Hochhäuser zu. Die kaum noch hundert Meter von uns entfernt stehen. Lauer Wind lässt die seichten Vorhänge um mich streichen, verhöhnt mich mit falschen Versprechen von Liebe.
Luisa läuft genau zwischen zwei der Ungetüme und mit einem Knirschen schließen sie die Lücke zwischen sich, zerquetschen Luisa.
Erleichtert falle ich zurück auf mein Bett, sinke in den Schlaf, während ich einen Arm liebevoll um Dirtys Hüfte geschlungen habe.

Morgens ist das Bett neben mir unberührt. Dirty ist nicht zurückgekommen. Ich stehe auf, gehe duschen, ziehe mich an.
Suche mir dann vorsichtig einen Weg ins Erdgeschoß – als würde mich mich in dem unbekannten Haus eine Vielzahl von Gefahren erwarten.
Stattdessen treffe ich im Speisesaal, den ich erst nach zwei falschen Türen finde, einen gutgelaunten Dirty und eine ebenso fröhliche Madame.
Sie ist gerade dabei, Dirty Kaffee nachzuschenken und zieht auffordernd einen Stuhl für mich zurück. Bedeutet mir, mich zu setzen.
„Guten Morgen“, begrüßt mich Dirty. Ihren Gruß habe ich auf Französisch erwidert, seinen ignoriere ich.
„Was ist los?“, will er mit einem breiten Grinsen wissen. „Hast du mich letzte Nacht vermisst? Bist eifersüchtig?“
„Du spinnst“, sage ich, als die Madame sich im anderen Teil des Raumes befindet, um einer französischen Familie Croissants zu servieren.
Auf ihrem Weg zurück lehnt sie sich verschwörerisch zu mir herunter, streichelt mir die Wange und sagt mit rauchiger Stimme, den Blick besitzergreifend auf Dirty gerichtet: „Mon mordu!“

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