Arbeitslos und ab in Rente

Groteske zum Thema Arbeit und Beruf

von  RainerMScholz

Irgendetwas stimmte nicht mit ihm in letzter Zeit. Herr Schmidt war einfach schrecklich zerstreut. Anscheinend machte sein Kopf nicht mehr so richtig mit, was sich auf seinem Gesicht in einer fürchterlichen Akne niederschlug, wie er eines Morgens überrascht feststellte, als das Rasiermesser die eitrigen Pusteln aufschnitt und das Blut an den Alibertschrank über dem Waschbecken im Badezimmer spritzte. Herr Schmidt klebte sich Pflaster ins Gesicht, wischte die Flecken von den Prilblümchen an den Kacheln, zog ein frisches Feinrippunterhemd an und ein weißes Polyesterhemd und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle, nachdem er seine Stulle mit Wurst, die Thermoskanne und die Bildzeitung in die braune Groblederimitataktentasche gepackt und sich unter den Arm geklemmt hatte. Ein alter, wahrscheinlich nur unvollständig zu öffnender Knirps war auch noch drin. Wegen des Wetters.
Jetzt stand Herr Schmidt da und wartete auf den Bus, der ihn fünf Tage in der Woche morgens zur Arbeit brachte und abends zu Hause wieder ausspuckte.
Die Leute starren ihn so merkwürdig an, anders als sonst, irgendwie penetrant und enervierend. Was soll den das. Ihr Penner! Vielleicht ist irgendetwas mit seiner braunen Kordjacke mit den Ellbogenschützern nicht in Ordnung.
„Guten Morgen, Herr Kollege.“
Der Herr, der ihm im Büro immer gegenübersitzt – jetzt auch noch hier im Bus -, lüpfte andeutungsweise seinen Hut.
„Oh, schönen guten Morgen, Herr Müller. Wie geht es ihnen an diesem wunderschönen Tag?“
„Ich kann nicht klagen. Wie immer. Aber sagen sie, was ist mit ihrer rechten Wange geschehen?“
„Wieso? Was ist denn?“, fragte Herr Schmidt indigniert, während er sein Gesicht betastete.
„Merken sie das denn nicht? Da hängt ein Hautfetzen bis zu ihrem Hemdkragen herunter.“
Meine Fresse, ja, jetzt merkte er es auch. Der blanke Knochen schien freigelegt zu sein.
„Tja, hihi, das muss wohl beim Rasieren passiert sein. Halb so schlimm. Nichts, was mit einem Aspirin nicht wieder weggehen würde.“
Er versuchte den Makel zu beheben, indem er den Fleischlappen wieder an seinen Platz kleben wollte. Er versuchte Herrn Müller anzugrinsen, da rutschte die Haut wieder von der Wange. Mit einem Pflaster, das er immer im Portemonnaie hatte, gelang es ihm schließlich, seine Backe an der rechten Stelle zu fixieren. Er verzog keinen Muskel im Gesicht. Im Büro würde er es vielleicht mit dem Tacker versuchen.
Der Busfahrer schielte unter seiner Schirmmütze hervor als der Mann mit Hut, Krawatte und ohne Backe den Bus verließ, schüttelte den Kopf und setzte seine eintönige Fahrt fort. Peinliche Situation, dachte Herr Schmidt, während er sein schiefes Gesicht festhielt.
Im Büro wurde es dann richtig schlimm. Als er den Hut an den Garderobenständer hängte, war da nämlich gleichzeitig seine Kopfhaut mitaufgehängt. Sein kümmerlicher Skalp hing dort an dem Haken neben der Kaffeemaschine und – nun, hing eben da. Er befühlte erschreckt seinen kahlen Schädel ohne Haut. Das schien keine Sinnestäuschung zu sein oder ein Aprilscherz. Er hatte sich soeben mühelos skalpiert, im Vorbeigehen sozusagen. Vor Schreck fiel ihm dann auch noch ein Augapfel aus dem Kopf. Die Aufregung schlug ihm auf die Blase. Er suchte sein Auge, das hinter einen Aktenschrank gerollt war und begab sich zur Toilette. Er fragte sich, was dort von seinem Körper noch abspringen mochte.
Nachdem alles wieder einigermaßen an seinem Platz war, ging er konsterniert zu seinem Arbeitsplatz im Großraumbüro. Er setzte sich, als eine Stimme von hinten ihn erschreckt wieder hochfahren ließ. Er hatte das Gefühl, das Teile von ihm noch auf dem Stuhl saßen.
„Herr Schmidt!“
„Ja.“
„Sie sehen heute morgen nicht gut aus, Herr Schmidt.“
Sein Chef stand wie von unsichtbarer Hand dort hinbefördert plötzlich hinter ihm. Er begutachtete ihn wie das sprichwörtliche Vieh auf dem Markt.
„Sie sollten sich vielleicht `mal wieder einen Urlaub gönnen. Wieviele Tage haben sie denn noch so? Kommen sie doch bitte in mein Büro. In einer halben Stunde. Dann schauen wir `mal.“
„Ach, nein, das geht schon und ...“
„In einer halben Stunde. Übrigens: Ihr linkes Auge hängt da `raus.“
„Wirklich, mir geht es prächtig.“, und um das zu unterstreichen, schnipste er mit den Fingern, dass zwei Fingernägel samt Fingerkuppen knapp am Ohr seines Vorgesetzten vorbeiflogen, der das nicht mitbekam, weil er ihm bereits wieder den Rücken zugewandt hatte, da er die Unterhaltung für beendet erachtete. Herr Schmidt begann sich Sorgen zu machen.
Beim Mittagessen in der Kantine stieß Herr Schmidt auf weitere Unannehmlichkeiten. Er hatte Mühe, auch nur das Tablett mit der Tagessuppe einigermaßen gerade zu halten mit seinen teilweise skelettierten Unterarmen, vom Wackelpudding und der Tasse Kaffee und der Kaltschale gar nicht zu sprechen. Sein Kiefer geriet zeitweise aus den Fugen, aber die Suppe schaffte er schon noch. Er aß ziemlich appetitlos – und einsam. Das Gespräch mit seinem Vorgesetzten war nicht besonders vorteilhaft verlaufen. Verschleißerscheinung, Ermüdungsdruck und allgemeine Instabilität – das waren die Worte, die dort gefallen waren. An die Drohung, die dahinter stand, mochte er gar nicht denken.
Dann war endlich Feierabend. Mehrfach war sein Ohr am Telefonhörer festgeklebt, seine Finger knatterten wie ein Maschinengewehr über die Tastatur und seine Backe ging dauernd ab. Frau Ditmaring hatte den Ficus zwischen ihre beiden Arbeitsplätze geschoben, damit sie ihn nicht sehen musste. Ihn und seinen bedauernswerten Zustand. Er schaltete den Rechner aus, nahm seine Groblederimitataktentasche, ging zur Garderobe, setzte seinen Skalp auf und verließ das geklinkerte, aus den sechziger Jahren stammende und deswegen aus unerfindlichen Gründen unter Denkmalschutz stehende Gebäude. Herr Schmidt fuhr heim. Mit einem Taxi. Das hatte er noch nie getan.
Was er im Spiegel sah, gefiel ihm überhaupt nicht. Er hatte sich auch schon gewundert. Desolate Verfassung, Gesamtauflösung, körperliche und seelische Verfallserscheinungen – das war, was er sich im Büro hinter seinem Rücken hatte anhören dürfen. Arschlöcher. Aber wenn er sich jetzt so im Spiegel betrachtete... Er hatte immer seine Pflicht getan, war stets pünktlich gewesen, korrekt in seiner Arbeitsweise und loyal. Und jetzt war da ein Zombie, der verblüfft im Bad sein Spiegelbild betrachtete. Er fühlte sich ein wenig abgespannt. Er beschloss, ein Bad zu nehmen. So ein dampfendes Bad kann manchmal Wunder wirken, dachte er. Vielleicht war danach alles vergessen.
Gelöst und befreit, gleichsam erleichtert an Geist und Körper entstieg er dem Bade. Das heißt, nicht ganz: Seine Körperhülle schwamm noch im Wasser, während er und sein Knochengerüst bereits auf dem flauschigen, tannennadelgrünen Florteppich standen. Erstaunt schaute er an sich hinab. Mit einer resignierten wegwerfenden Handbewegung schnappte er sich das Frotteehandtuch.
Das er sich in gewisser Weise drastisch verändert haben musste, stellte er am nächsten Morgen verbittert fest, als ihn der Pförtner nicht in das Bürogebäude lassen wollte. Er kenne ihn nicht. Das Passbild seines Ausweises stimme nicht mit seiner Physiognomie überein. Und das nach all den Jahren. Er kehrte um und machte sich wieder auf den Weg nach Hause. Wie es schien, hatte er nun sehr viel Zeit. Heute würde er einmal zu Fuß gehen. Durch den Park.



© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text

hoor (22)
(06.04.13)
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 RainerMScholz meinte dazu am 07.04.13:
Freut mich.
Dank und Gruß,
R.
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