Turnover

Roman zum Thema Andere Kulturen

von  Mutter

Wir sind oben im Zimmer, machen uns fertig. Ich sehe ungläubig zu, wie Dirty sich anzieht: Weites Sportshirt, entweder vom Eishockey oder Football, verspiegelte Sonnenbrille, Nylon-Haarnetz und eine fette Goldkette, die in seinem Hemdausschnitt glänzt. Als er den Kragen des Shirts ordnet, bemerke ich die wulstigen Ringe an seinen Fingern, die auf jedem Kiez locker einen Nebenjob als Schlagring bekommen würden.
„Spinnst du?“, will ich wissen und starre ihn an. Er breitet die Arme aus. Ich habe ein Grinsen, einen Witz erwartet – stattdessen scheint er verärgert zu sein. „Was?“, fragt er. „Du hast das Gefühl, ich mache das aus Spaß? Bisschen den Homie spielen?“
Genau das denke ich, sage aber nichts. Er fährt fort: „Luca. Stell dich nicht blöd. Wir gehen da raus, in die Blocks. Banlieue! Die Wichser kennen uns nicht, lassen nicht mal einen feuchten Furz auf uns. Wie wir aussehen, ist das einzige, was wir haben. Das, an dem sie festmachen, wie sie mit uns umgehen.“
„Wie gehen sie mit uns um? Wenn du so aussiehst?“
„Du bist eine Arschgeige, Luca. Willst du vielleicht einen auf Erzieher machen? In Tweedjacke, mit Lederflicken auf den Ellenbogen?“ Er breitet die Arme aus. „Bitte schön. Im Ernst – mach, was du willst. Ist das hier dein Kiez? Deine Gegend? Dann sorg mal dafür, dass wir Ergebnisse bekommen. Übernimm das Steuer – kein Problem.“
Ich sehe zu, wie er sich immer weiter hochkocht, winke ab. „Du hast Recht. Ich habe keine Ahnung, wie das hier läuft. Ich nehme nicht an, die Ghettos hier sind mit Marzahn zu vergleichen, oder?“, frage ich beschwichtigend mit einem Lächeln.
„Alter, nicht mal in Marzahn würdest du mit Hornbrille und Jackett weit kommen!“
Ich lache, zeige auf ihn. „So aber auch nicht. Wie sieht’s aus – was ist mit mir?“
Er winkt ab. „Geschenkt. Reicht aus, wenn sich einer von uns beiden zum Affen macht.“
Ich nicke, schnappe mir mein dunkles Sweatshirt – zur Not kann ich die Kapuze bis in die Stirn ziehen, einen auf düsteren Homie machen.

Kurz darauf sitzen wir im Auto, Dirty steuert uns durch die breiten, weitgehend leeren Straßen. Es sind nur wenige Autos unterwegs. Ich werfe ihm einen Seitenblick zu, während er stumm geradeaus sieht. „Was ist mit der Karre?“
„Was meinst du?“ Er schaut kurz zu mir herüber.
Ich zucke mit den Schultern. „Kann man das Ding hier einfach irgendwo parken? Mitten im Ghetto?“
Dirty schüttelt den Kopf, lacht. „Nicht da, wo wir hinfahren. Noch ein Stück weiter, dann parken wir den Kleinen. Den Rest gehen wir zu Fuß.“
Für einen Augenblick erwidere ich nichts, sehe aus dem Fenster.
Er fährt fort: „Geparkte Autos haben hier unterschiedliche Halbwertszeiten.“
Ich verstehe nicht, was er meint. Grunze.
„Wenn du einen Wagen mittendrin parkst, smack-down in Aulnay-sous-Bois, hat dein Auto eine Lebenserwartung von zwei, drei Stunden.“
„Doch so lange?“, frage ich belustigt mit ironischem Unterton. Er nimmt die Frage ernst. „Genau so lange, wie die Jungs brauchen, um herauszufinden, wer du bist. Ob deine Karre sakrosankt ist. Ob sie die in Ruhe lassen müssen.“ Mit einem schnellen Seitenblick auf mich fügt er hinzu: „Weil du aus dem Viertel bist, oder jemand kennst, der wichtig ist.“
„Und wenn nicht?“
„Dann bist du deine Reifen los, oder das Radio, oder gleich die ganze Karre. Die zwei Stunden brauchen sie, um alle wichtigen Leute abzuchecken: Sobald du die Autotür zuschlägst, gehen oben in den Towern ein Dutzend Typen an ihre Handys.“
„Und da, wo du parken willst?“
Er schürzt die Lippen in einem Lächeln. „Da dauert’s länger. Solange wir den Wagen nicht die Nacht über stehen lassen, ist alles gut. Da sind weniger Predatoren unterwegs.“
„Okay. Wenn du das sagst.“
Ich lasse meinen Blick draußen über die freien Flächen streifen. Es kommt mir so absurd vor, dass ein Ghetto, so vollgestopft mit Menschen, sich so viel Ödnis erlauben kann. Voll sind nur die Betontürme – dazwischen liegen riesige Brachflächen, endlose Parkplätze, auf denen keine Autos stehen und große Plätze. Auf denen sich niemand versammelt.
Wir fahren an einem gedrungenen Supermarkt vorbei – eine flache Struktur aus grauem Beton, die eher an einen Bunker als an einen Konsumtempel erinnert. Ich brauche mehrere Sekunden, um zu entscheiden, dass der Laden in der Tat offen ist. Die vergitterten Fenster, die Rollläden und  der leere Parkplatz könnten auch Ladenschluss suggerieren.
An einzelnen Ecken der freien Plätze, auf verschmierten Bänken und niedrigen Mauern aus Waschbeton hängen vereinzelte Jugendliche rum. Die meisten sind Teenager, aber immer wieder sieht man echte Kinder. Ich frage mich, wie es sein muss, in einer derartigen urbanen Wildnis aufzuwachsen. Morgens raus aus dem Tower, auf der Jagd in der Wildnis dazwischen. Lange nach Sonnenuntergang der Weg zurück, in den fünfzehnten oder zwanzigsten Stock.
Ich sehe rüber zu Dirty, betrachte sein Profil. Denke an Tiger – wie er wohl früher an diesen Ecken rumgehangen hat. Mit dem gleichen emotional ausgehungerten Blick, den ich an den Kids,  die ich durch die Fensterscheibe betrachte, erkennen kann.
„Tiger?“, fragt Dirty. Er ahnt, worüber ich nachdenke. Ich nicke nur.

Ein paar Minuten später parkt Dirty den Clio auf einem Parkplatz, um den sich mehrere kleine Geschäfte und ein größerer Lebensmittelladen drängen.
Immerhin stehen hier weitere Autos, so dass ich weniger das Gefühl habe, exponiert zu sein. „Wir sind da“, stellt er unnötigerweise fest.
„Los komm“, sagt er und springt über eine niedrige Mauer, nachdem wir ausgestiegen sind und er das Auto per Fernbedienung verschlossen hat.
Ich folge ihm. Es weht ein kühler Wind, der auf den Freiflächen keinen Widerstand entgegengesetzt bekommt und sich erbarmungslos auf uns stürzen kann. Tief in mein Sweatshirt gewickelt, schließe ich zu ihm auf. Ihn scheint die Kälte trotz dünnerer Bekleidung nicht zu stören. Konzentriert hat er seinen Blick fest auf das halbe Dutzend Türme gerichtet, auf die wir zulaufen.
„Kennst du dich hier aus? Ich meine, hast du hier mal gewohnt?“
Er nickt, schüttelt den Kopf. Antwortet: „Hier oder da, eigentlich ist alles gleich. Das Einzige, was sich unterscheidet, sind die Menschen. Die Player – die Jungs, die sagen, wo’s langgeht. Und die sind hier wie dort längst andere. Im Ghetto vergeht die Zeit schneller. Wir haben einen hohen Turnover hier.“
„Einen was?“
„Na, Evolution. Die einen gehen, die anderen kommen. Die Machtverhältnisse sind andauernd im Fluss. Wer heute was zu sagen hat, muss sich morgen warm anziehen.“ Er zuckt mit den Schultern. „Alt wird hier ohnehin niemand. Jedenfalls keiner, der sich viel bewegt. Stillhalten ist dagegen eine gute Strategie.“
„Ich nehme an, das ist der Grund, warum niemand mit den Bullen redet.“
Schweigend gehen wir die nächsten paar Minuten nebeneinander her. Je näher wir den Türmen kommen, umso mehr Menschen sehe ich auf der Straße. Auf manchen Freiflächen sind gleich mehrere Ecken von kleinen Gruppen bevölkert – ab und zu geht einer der meist männlichen Jugendlichen zu den anderen rüber. Man begrüßt sich, gibt sich auf jede Wange ein Küsschen, stößt die Fäuste zusammen. Dirty zischt mich an, als ich den Blick zu lange auf einer Gruppe kaum zwei Dutzend Meter von uns entfernt verweilen lasse.
„Das ist hier genau wie im Knast, Alter. Direkter Augenkontakt ist ein klares Zeichen von Aggression.“
Ich nicke. Habe ich schon mal gehört. Ich wusste nur nicht, dass das nicht bloß im Knast gilt. Unauffällig sehe ich woanders hin.

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Kommentare zu diesem Text


 FRP (11.05.10)
Starker Anfang. Gerne noch mehr davon.
Gruß Rainer

 Mutter meinte dazu am 11.05.10:
Dein Wunsch sei mir Befehl:  Mehr davon ... :D

Danke schön.

 Melodia (12.05.10)
hmm weder interception noch fumble.... noch würde ich es als safety durchgehen lassen.... freu mich schon auf morgen^^

lg

 Mutter antwortete darauf am 12.05.10:
Ich musste die anderen Definitionen auch erst nachschauen - davor gab's für mich auch nur die eine ... :D
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