Gelb - Der Anfang

Roman zum Thema Verlust

von  Mutter

‚Die Paladine des Roten sind im Kampf gefürchtet, und kaum etwas kommt ihrer Kampfkraft gleich, aber bedenke, dass sie aus Gewohnheit und als Lebenszweck kämpfen. Ungleich gefährlicher sind die Paladine der Gelben, die nur kämpfen, um andere zu verteidigen - ähnlich der Bärin, die ihre Jungen beschützt. Oder aber, um sie zu rächen. Und ähnlich wie eine verschmähte Liebhaberin sind Gelb und ihre Paladine in ihrer Rache fürchterlich, und nichts kommt ihrem Zorn gleich.
Aus den Schriften der Corinn, Wassermark


Anosh saß schweigend und mit hängendem Kopf an dem kleinen Feuer, das Barde mit wenigen Handgriffen entfacht hatte. Als der kleine Mann sich umdrehte, um Verschiedenes aus einer Satteltasche zu seiner Linken zu entnehmen, fasste Anosh ihn genauer ins Auge.
Er hatte dem Kung’Sah nie besondere Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl er sich bewusst war, dass Barde von den Wachen und Gehilfen seines Vaters sicherlich den Merkwürdigsten darstellte. Klein und drahtig, schien es auf den ersten Blick ungewöhnlich, dass gerade Barde derjenige war, dem sein Vater auf Reisen am ehesten sein Leben anvertraut hatte. Anosh selbst hatte kaum mit ihm zu tun gehabt, da sich Barde meist vom Anwesen fern gehalten hatte und nur dann auftauchte, wenn Anoshs Vater reiste.
Als sich Barde umdrehte und Anoshs Blick auf die dunkle Ledermaske fiel, die das Gesicht seines Retters fast vollständig bedeckte, sah er schnell zu Boden.
‚Du musst etwas essen. Du würdest deinem Vater keinen Gefallen tun.‘ Die heisere Stimme erinnerte Anosh an das Rasiermesser, das sein Vater jeden Morgen an seinem Gürtel abgezogen hatte.
‚Was weißt du über meinen Vater? Du hast kein Recht, dich als mein Vormund aufzuspielen‘, entgegnete der Junge bitter.
Blitzschnell bewegte sich der Kung’Sah vorwärts und packte den Halbwüchsigen an seiner dünnen Jacke. Hockend war sein Kopf auf derselben Höhe wie Anoshs, der erschrocken zurückgewichen war.
‚Ich spiele nicht deinen Vormund, ich bin dein Vormund. Das war das Letzte, was dein Vater von mir verlangt hat. Du bist jetzt mein Herr - aber solange, bis du mich von etwas anderem überzeugen kannst, treffe ich die Entscheidungen für dich.‘
Langsam, als hätte ihn die kurze Rede erschöpft, ließ er Anosh los und glitt auf die andere Seite des Feuers zurück.
Anosh brauchte eine Weile, bis er Barde wieder ansehen konnte. Mit leicht belegter Stimme fragte er: ‚Du hast noch mit ihm gesprochen, bevor er starb?‘
Der Kung’Sah nickte und reichte dem Jungen wortlos einen dünnen Streifen getrockneten Fleisches und etwas Brot.
Nachdem sie das wenige Essen verzehrt hatten, trat Barde das Feuer aus und nahm die Satteltaschen auf die Schulter. Mit einem kurzen Blick auf den Jungen machte er sich auf den Weg.
Anosh zögerte ein wenig, bevor er ihm folgte. Als sie gestern Nacht vom Hof geflohen waren, hatte der Feuerschein der brennenden Ställe ihren Weg weithin beleuchtet, und obwohl Barde ihm versichert hatte, dass im Morgengrauen schon keiner der Angreifer mehr im Gehöft gewesen sei, hatte Anosh Angst, dorthin zurückzukehren.
Mit einem innerlichen Ruck setzte er sich in Bewegung und hatte Barde bald eingeholt. Schweigend gingen sie nebeneinander her auf die geschwärzte Ruine des Gasthofes zu.

Barde gab ihm vom großen Haupttor her ein Zeichen, und Anosh atmete tief durch, bevor er die letzten Meter zu dem überwand, was bis gestern Nacht sein Zuhause gewesen war. Der Gestank von kaltem Rauch und verbranntem Fleisch hing dicht im Innenhof, und hier und da qualmten immer noch einige der dickeren Balken vor sich hin.
Das Gesindehaus und die Ställe waren fast komplett zerstört, nachdem die Dächer während des Feuers eingestürzt waren, aber das Hauptgebäude und der Wirtschaftstrakt standen mehr oder weniger intakt. Solider gebaut und ohne leicht entflammbare Strohdächer, sahen sie nur ein wenig rußgeschwärzt aus - da, wo die Flammen aus Fenstern und Türen geschlagen waren.
Im ganzen Innenhof und auf den Treppen, die hoch in die oberen Stockwerke außen an den Gebäuden führten, lagen Tote. Die meisten von ihnen waren mühelos zu identifizieren, aber manche hatte das Feuer oder Wunden furchtbar entstellt.
Anosh zwang sich, den Hof abzuschreiten und jeden Einzelnen von ihnen genau anzusehen. Manchmal verharrte er mehrere Sekunden vor einem Toten und starrte auf ihn herab. Die meisten von ihnen hatte er sein ganzes Leben gekannt. Nur mit Mühe konnte er die starren und erschreckten Gesichter, die so leblos und wächsern aussahen, mit den Leuten, die gestern noch geatmet und gelebt hatten, in Einklang bringen.
Aber auch die Toten, die er kaum kannte, zum Teil sogar noch nie gesehen hatte - Fuhrleute und Reisende, die gestern Abend spät in den Gasthof gekommen waren - prägte er sich ein.
Barde hatte eine Bewegung auf ihn zu gemacht, als er sah, wie Anosh bei einem der Toten am Tor innehielt, aber als er den Gesichtsausdruck des Jungen bemerkte, wandte er sich ab und betrat das Haupthaus.

Anosh hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, bis er dem Kung’Sah in die Taverne folgte, die das gesamte Erdgeschoß des Haupthauses einnahm. Drinnen war die Verwüstung noch größer als im Hof, und keine der Leichen wäre anhand ihrer Gesichtszüge problemlos zu identifizieren gewesen. Häufig sagte ein Fetzen übrig gebliebener Kleidung oder der Ort, wo Anosh die Leiche fand, genug aus, um ihn erkennen zu lassen, wen er vor sich hatte.
Latti, die ältere Schwester von Haspe, dem Hufschmied zum Beispiel, lag zusammengekrümmt hinter der Theke, und Sten und Mara, das Ehepaar, das für Anoshs Vater die Taverne geleitet hatte, fand er beieinander liegend am Fuß der Treppe. 
Der Schmerz und die Trauer, die er seit dem Morgen empfunden hatte und die erst langsam den Schrecken überwunden hatten, waren nun einem seltsamen, toten Gefühl gewichen. Es war, als hätte er sich selbst zu viel zugemutet, und dafür als Abwehr auf den gewaltsamen Schock jede Emotion verloren.
Als er im ersten Stock das Arbeitszimmer seines Vaters betrat, versuchte Barde gar nicht erst, den Anblick vor ihm zu verstecken.
Der tote Körper hatte fast sein gesamtes Blut verloren und den einstmals blauen Teppich in ein dreckiges Braun verfärbt. Exakte Schnitte am ganzen Körper hatten ihn langsam verbluten lassen, und Anosh vermutete, dass er noch sehr lange bei Bewusstsein gewesen sein musste.
Mit gepresster Stimme fragte er: ‚Glaubst du, er hat ihnen verraten, was sie wissen wollten?‘
Noch bevor Barde antworten konnte, fiel Anosh der Stein ein. Ein kleiner, unscheinbarer Stein von grüner Farbe, von dem ihm sein Vater nie erklärt hatte, was es damit auf sich hatte. Seit Anoshs frühester Kindheit war ihm eingeschärft worden, dass dieser Stein das Wertvollste sei, was die Familie besäße.
Er eilte an die Holzvertäfelung direkt hinter dem Schreibtisch seines Vaters, aber schon aus einigen Schritt Entfernung konnte er erkennen, dass die versteckte Klappe einen Spalt aufstand. Ein Blick in den kleinen Raum dahinter bestätigte seinen Verdacht.
Das kleine Versteck hatte sein Vater extra für den Stein anfertigen lassen. Wenn jemand ihn solange gefoltert hatte, bis er es verriet, mussten die Mörder vorab von dem Stein gewusst haben.
Anosh stützte sich am Schreibtisch ab, um nicht zu fallen. Er hatte nicht erwartet, noch irgendwas an Wert, weder Geld noch Besitzurkunden, vorzufinden, aber der Diebstahl des Steines schien ihm ein persönlicher Affront zu sein. Es war sein Erbe, sein rechtmäßiger Besitz. Und wer auch immer den Stein gestohlen hatte, schien mehr darüber gewusst zu haben als Anosh. Erst als eine Träne auf dem dunklen Holz des Tisches aufschlug, bemerkte er, dass er heulte.

Nachdem sie Anoshs Vater neben der Schmiede begraben hatten, wo seit Jahren seine Frau und seine beiden Töchter beerdigt lagen, schichteten sie die anderen Leichen im Hof unter Scheiten und Balkenresten auf und überschütteten sie mit Öl.
In dem harten und trockenen Boden war es schwierig genug gewesen, den Besitzer des Anwesens zu begraben - auch noch die restlichen knapp zwanzig Leichen im Boden beizusetzen, hätte ihre Kräfte weit überstiegen.
Anosh beobachtete, wie die rußigen, schwarzen Wolken widerwillig in den Himmel aufstiegen. Fast so, als sträubten sie sich, den Hof endgültig zu verlassen.
Mit einer Berührung an der Schulter riss ihn Barde aus seinen Überlegungen.
‚Ich habe noch einmal nachgeschaut. Die Angreifer müssen ihre Toten mitgenommen haben.‘
Überrascht sah Anosh auf. Die Idee, dass einige der Mörder unerkannt unter den Toten liegen könnten, war ihm nicht gekommen. Wie andere Gäste auch müssen sie gestern Abend in die Herberge gekommen sein, hatten für ihre Zimmer und ihre Kost bezahlt, ihre Pferde im Stall abgestellt und vermutlich bis in die Nacht mit den Leuten im Gemeinschaftsraum gefeiert, die sie umzubringen geplant hatten. Mit einem letzten Blick auf den Scheiterhaufen stellte er mit einem Schauer fest, dass er froh darüber war. Der Gedanke, die Mörder mit ihren Opfern zusammen bestattet zu haben, erschien ihm nur schwer auszuhalten.

Nachdem sie einiges an Vorräten zusammengesucht hatten und Barde einige übriggebliebene Waffen aus der Rüstkammer mitgenommen hatte, verließen sie den Hof, die ölige Rauchsäule immer noch mahnend hinter ihnen aufsteigend.
Barde führte sie zurück zu der Stelle, an der sie die Nacht verbracht hatten und begann, ein Lager zu bereiten.
Anosh sah ihm eine Weile in Gedanken versunken zu und sagte dann: ‚Du hast gesagt, du entscheidest, bis ich weiß, was ich will.‘
‚Und?‘
‚Ich will, dass du mir das Kämpfen beibringst. Das Kämpfen, aber vor allem das Töten. Mein Vater hat einmal über dich gesagt, dass du lautloser als dein eigener Schatten bist und selbst ein Löffel in deiner Hand noch eine tödliche Waffe sei. Ich will alles lernen, was ich brauche, um die Hunde umzubringen.‘
Barde legte einen kleinen Stapel trockenen Holzes neben die Feuerstelle und hockte sich hin.
‚Rache ist kein guter Begleiter. Sie treibt dich an und motiviert dich, aber wenn deine Rache erfüllt ist, alle deine Opfer tot sind, dann lässt sie dich leer und ausgebrannt zurück. Unter den Gebirgsstämmen, wo Blut- und Familienrache eine Tradition ist, ist es nicht ungewöhnlich, dass sich Krieger zum Sterben in die Berge zurückziehen, wenn ihre Rache vollzogen ist. Sie verlieren den Willen zu leben.‘       
‚Dann muss meine Rache bis zum Ende meines Lebens reichen. Ich werde mich nicht damit begnügen, sie einfach nur zu töten.‘
Barde sah ihn mit kleinen Augen hinter seiner dunklen Maske an, und Anosh hatte das Gefühl, gewogen zu werden. Mit hartem Blick starrte er zurück.
Mit einem Nicken erhob sich Barde plötzlich und ging ein paar Schritte vom Feuer weg.
‚Ob im Guten oder im Schlechten, aber zu einem Jäger kann ich dich machen - zu einem Jäger, der den Feinden deines Vaters keinen Raum zum Atmen lassen wird.‘

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Kommentare zu diesem Text


 Isaban (02.06.10)
Ein guter Anfang. Die Stimmung wird geschickt aufgebaut, die Hauptfiguren gleich mit einer gewissen Tiefe eingeführt, die Hintergrundgeschichte wie nebenher angerissen, der Leser ist gleich mittendrin und will wissen, wie es weitergeht.

LG, Sabine

 Mutter meinte dazu am 02.06.10:
Danke schön ... :)

 mondenkind (23.08.10)
ein völlig anderer mutter. :) fantasy also.
sehr interessanter anfang, der viel raum lässt für eine vielschichtige, fest durchwobene story. macht lust auf mehr.

 Mutter antwortete darauf am 23.08.10:
Hey ... :)
Wie bist Du denn jetzt dahin gekommen?

Danke schön - auch fü das 'n' ... ;)

 mondenkind schrieb daraufhin am 23.08.10:
ich hab urlaub. und zeit zu lesen. ^^

 Mutter äußerte darauf am 23.08.10:
Ach so. :)
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