Auf dem Friedhof

Text zum Thema Friedhof

von  Rudolf

Wenn Nepomuk Idur zur Kirche geht, nimmt er gern den Weg über den Friedhof.

„Hier werden in gar nicht langer Zeit die Reste meines Körpers verscharrt sein“, geht es ihm durch den Kopf.

„Das ist das letzte Ziel des physikalisch messbaren Teils meines Ichs.“

Nepomuk mag, dass der Friedhof ringsherum von Mauern und Zäunen umgeben ist. Passiert er eines der vier Tore in Richtung Gräber, gilt die Friedhofsordnung; in Gegenrichtung gilt die Straßenverkehrsordnung. So ist das in Eichenheim, in Deutschland, in Europa, auf der Welt. Es herrscht Ordnung. Nepomuk liebt Ordnung. Durch sie bekommt alles seinen Platz und er kann planen. Keine Überraschungen. Jede Abweichung von der Ordnung ist leicht zu identifizieren und bekommt das Prädikat störend. Störungen gibt es in Nepomuks Leben mehr als genug, aber auf dem Friedhof atmet es sich angenehm ungestört.

Noch nie hat er hier ausgelassenes Lachen gehört. Manchmal sieht er an der Schutzhütte neben der Wasserstelle eine kleine Gruppe von Vergreisten, die sich unterhalten. Es ist ruhiges, ernstes Unterhalten von Menschen, die den Ort pflegen, an dem die Reste eines Körpers liegen, der einer Person gehörte, die ihnen nahe stand.
„Ich suche eine kleine blaue Gießkanne. Ich habe sie immer hinter dem Grabstein versteckt. Nun ist sie fort.“

„Bei Classen gibt es Kannen im Angebot.“

„Das Grab neben dem Eingang, wenn man von der Wilhelminenstraße kommt, sieht ja schlimm aus - dass sich da niemand drum kümmert.“

„In der Reihe hinter meinem Walter hat die Friedhofsverwaltung einen Aufkleber auf einen Stein gepappt. Der Stein muss gerichtet werden.“

„Ja, das Grab kenne ich. Noch ein Winter und der Stein fällt um.“

„Ich hatte letzte Woche so ein schönes Gesteck auf unser Grab gelegt. Am nächsten Tag war es fort. Das hätte noch Wochen gehalten.“

An heißen Sommertagen stöhnen sie über der brütende Hitze, an kalten Wintertagen über die schneidende Kälte.
„Wenn wenigsten kein Wind wäre.“

Das durchschnittliche Alter der ergrauten Gesprächsteilnehmerinnen liegt jenseits der 60 Jahre. Die Körper sind gebeugt von einem Leben, das Höhen hatte, aber vor allem Tiefen, immer wieder Tiefen und Tiefen, aus denen versucht wurde herauszukommen. Sie stehen an der Wasserstelle in einer Hand eine Gießkanne in der anderen eine Harke, auf die sie sich stützen. Sie sind vertieft in Gespräche, in denen etwas fehlt, und das was fehlt, war einmal unauflöslich mit dem verbunden, was sich nun in zwei Meter Tiefe in Erde verwandelt. Bei gutem Wetter stehen sie neben dem aus Holz gezimmerter Pilz, der Schutz vor plötzlichem Regen gibt. Bei schlechtem Wetter bleiben sie daheim im Warmen und Trockenen, dann ist der Friedhof verlassen. Das ist in Ordnung. Ordnung, Tote und Nepomuk auf dem Weg zur Kirche, versunken in Gedanken über sein Ende.


Anmerkung von Rudolf:

100529, Gestaltung der Absätze überarbeitet

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Kommentare zu diesem Text

Gitana (41)
(20.05.10)
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 Rudolf meinte dazu am 21.05.10:
Hallo Gitana,

danke.

Wenn ich Deine Texte richtig lese, bist Du auch eine
Ordnungliebhaberin - zumindest was das Formale angeht.

Gruß
Rudolf
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