44. Tabula rasa [44]

Roman zum Thema Abrechnung

von  DIE7

Der schwarze Dodge wummerte bedächtig an der Ecke Dolphins Edge/39th Street im Standgas. Der im Trenchcoat nestelte die 39er Glock aus dem Schulterholster und schraubte den Schalldämpfer auf. Draußen in der Gasse schlüpfte ein Schatten hastig zur Hintertür ins Innere der Hafenspelunke "Pikkolokki". Der neunte! Gleich war es so weit ...

Es hat wohl so kommen müssen. Und doch, wer hätte gedacht, dass diese Geschichte hier, in dieser dunklen Seitengasse Jesterfields, eine dramatische Wende erfahren würde? Niemand. Du?

„Du, Sorgensen?“ Der Mann am Kopfende des Großen Tisches wirkte getrieben.

„Hm?“

„Sorgensen, wir sollten die Sitzung eröffnen, wir sind vollzählig erschienen.“

„Nahezu, Tempsrivière, einer fehlt!“

„Wer?“

„Na, wenn’s nicht einmal dir auffällt, lass uns anfangen und tu nicht so förmlich, du Hering! Außerdem – keine Namen! Du weißt, dass wir vorsichtig sein müssen!“

„Da hast du verdammt recht, Bruder!“

Wer sich hier im Hinterzimmer der „PIKKOLOKKI“ versammelt hatte, war nichts Minderes als die Elite der Jättiten, jener geheimnisvollen Sekte, die man in Verbindung mit dem Giftanschlag auf den Jesterfielder Weihnachtsmarkt brachte, der keine Woche zurücklag und die Bürger in Angst und Schrecken versetzt hatte. Eigentlich war diese Elite zugleich alles, was die Jättiten an Köpfen und Intelligenz aufzubieten hatten. Doch man gefiel sich darin, als Auserwählte (wenn auch unerkannt) Auserwählter zu glänzen. Heute allerdings glänzte nichts anderes als die Leichenblässe ihrer schreckstarren Gesichter.

„Wer von euch ist der Idiot, der uns diesen Mist eingebrockt hat?“

Der Vorsitzende blickte vorwurfsvoll in die Runde.

Schweigen. Man musterte einander eindringlich.

„Ich war’s sicherlich nicht," brach der Tierarzt die Stille, „aber es muss einer von uns gewesen sein, schließlich wussten nur Eingeweihte, dass ich heimlich das Gift der Taipane molk und in meinem Giftschrank aufbewahrte. Nur ich habe als Außenstehender Zugang zum Reptilienhaus des Zoos – und sobald man herausgefunden hat, um welches Gift es sich handelte, wird man nach dem Tierpfleger auch mich überprüfen. Mann, ist mir übel!“

„Wo ist das Gift jetzt?“

„Weg!“

„Was?“

„Man hat bei mir eingebrochen, den Giftschrank geknackt und nichts weiter entwendet als die Fläschchen mit dem Gift. Ich muss jetzt schleunigst einen neuen Schrank besorgen, ehe die Polizei bei mir auftaucht, den aufgebrochenen sieht und unangenehme Fragen stellt.“

„Wenn die dich schnappen, haben sie gleich uns alle am Wickel!“

„Ach, was, wer soll von mir auf die Jättiten schließen – es weiß doch eh niemand außer uns von der Sekte und unserem Plan, das wahre Opferfest für den Schrecken des Polarkreises wiederaufleben zu lassen.“

„Wirklich? Und was ist mit den beiden Novizen, die man kurz vor dem Anschlag auffand - mit einem Loch in der Stirn?“ [siehe Teil 23]

„Urban Gellert und Tobias Flatury? Ja, stimmt! Beide trugen bereits unser Zeichen. Wenn man dein Weihnachtsbaum-Branding findet, steckst du in Erklärungsnot!“

„Und? Selbst dann weiß noch niemand von uns, den Jättiten.“

„Mir reichts jetzt!“ Ein rothaariger Hüne schlug mit der Faust auf den Tisch, sprang auf und stützte seine gespreizten Hände auf die Tischplatte. „Wir sind nur wenige Eingeweihte, doch sobald auch nur einer von uns umkippt und Details ausplaudert, sind wir alle geliefert! Und das ist schnell passiert!“

„Gellert und Flatury plaudern jedenfalls keine Details mehr aus.“

„Wer hat denn dafür gesorgt, dass sie bei uns aufgenommen wurden? Wer weihte sie ein in unseren Plan, einen echten Jätti zu beschaffen und diese entarteten Weihnachtsbräuche in Blut und Flammen aufgehen zu lassen? Wer? Wir!“

„Und wer brachte sie zum Schweigen?“

„Das weiß nur einer von uns. Tu doch nicht so, als müssten wie dir unsere Statuten erläutern! Wenn es ein Problem gibt, wird es benannt und gelöst. Und zwar ebenso umgehend wie diskret von dem, der als erster die Gelegenheit dazu hat. Nur so ist gewährleistet, dass niemand von uns erpressbar ist, niemand etwas ausplaudern kann, ohne sich selbst zu belasten - und dennoch wurde bislang jedes Problem binnen weniger Tage aus der Welt geschafft.“

„Hat er …?“ Der Fragende ruckte mit dem Kopf in Richtung Tür, als ob er auf das noch fehlende Mitglied des Geheimbundes hinweisen wollte.

„Dis – kre – tion!“

ER hat doch sicherlich auch das mit den finnischen Jägern in die Hand genommen, die uns einen Jätti besorgen sollten. Was ist eigentlich daraus geworden? Schließlich haben wir jede Menge Vorschuss gez…“

„Nicht jetzt! Wir haben ein dringenderes Problem!“

„Ach?“

„Bitte! Keine Animositäten!“

„Wenn die Polizei ermittelt, auf die Brandings stößt und dann auch noch auf die Verbindung zu Finnland und dem Jätti, kommt, sind wir …“

Wenn, ja, wenn …“ Der durchtrainierte Mittdreißiger, der sich nun erhob und sich die braune Mähne aus der Stirnstrich, wirkte amüsiert. „Dann erfahren wir das als erste, ich jedenfalls. Schließlich wurde meine Chefin mit den Ermittlungen beauftragt. Also – don’t panic!“

„Habt ihr schon den Zoo …?“

„Haben wir nicht.“

„Habt ihr überhaupt …“

„Schon. Da wäre zum einen dieser Thomas Unglaub, Journalist. Ich verhörte ihn bereits und er scheint zu ahnen, worum es geht. Doch gefährlicher als der ist ein gewisser Eugen Kaufmann, der befasst sich mit Mythen und Geheimbünden und stieß, als er eigenmächtig beim Pathologen einbrach, auf die Notiz mit dem Bericht des Assistenten, der die Brandings fand und …“

„Woher weißt du …“

„Ich sagte bereits, dass ich diesen Unglaub schon verhörte, Kaufmann arbeitet für den.“

„Ist er ein Problem, das benannt werden muss?“

„Ja! Er ist an uns dran. Ich beantrage, Eugen Kaufmann zum Problem zu erklären! Wir müssen …WAS?“

Die Jättiten fuhren zusammen. Aus dem Flur, der zum Hinterzimmer führte, drang lautes Rumpeln in die verrauchte Stube. Dante Marn sprang vor, riss die Tür auf – nichts. Ein paar Kisten, die neben dem Schrank im Flur aufgestapelt waren, lagen nun über den Boden verstreut.

„Okay. Nichts. Der Stapel ist umgefallen.“

„Einfach so, aus heiterem Himmel? Lass lieber die Türe einen Spaltbreit offen.“

„Paranoia! Ihr leidet wirklich unter Verfolgungswahn!“

„Ist das ein Wunder?“

Im Flur fiel eine Tür ins Schloss. Wieder sprang Marn auf und eilte hinaus.

Im Flur sah er sich einem vertrauten Gesicht gegenüber: „Hallo! Verspätet, WAS …“

Pju!

„Marn?“

Der im Trenchcoat stieß mit kräftigem Tritt die Tür zum Hinterzimmer auf und richtete eine 39er GLOCK auf die Stirn des Vorsitzenden.

„EY!“

Pju!

Der Tierarzt riss die Augen auf: „Nei…“

Pju!

Pju!

Der massige Körper des Rothaarigen krachte rücklings zwischen die umstürzenden Stühle.

Pju!

… stanzten sich neun Millimeter Stahlmantel durch die Stirn eines Jättiten und rissen einen Krater aus dem Hinterkopf an die Raufaser dahinter.

Zwei Jättiten suchten Deckung unterm Tisch:

Pju!

Der im Trenchcoat blies ihnen aus der Hocke heraus …

Pju!

… das Licht aus.

Pju!

… erwischte es den einen anderen nun mit kleinem Loch am Hinterkopf und riss ihm das Jochbein aus dem Gesicht, und

den letzten erwischte es …

Pju!

… ebenfalls von hinten. Immerhin schaffte er es bis zum Schrank im Flur - Kopfschuss.

Der Trenchcoat stieß ihn mit dem Fuß an, rollte ihn auf den Rücken, stellte sich über ihn, sicherte seine Pistole und …

Aus dem Schrank: Poltern, Ächzen.

Quietschend drehte sich die Tür in den Angeln, als der Trenchcoat sie langsam öffnete:

„Na, wen haben wir denn da?“ Ein Blick genügte, um zu erkennen, dass er einen Sterbenden vor sich hatte. Der Mann im Schrank war in sich zusammengesunken, seine Rechte krallte sich in den Brustkasten und die vor Schmerz weit aufgerissenen Augen verdrehten sich unter schweißnasser Stirn. „Eugen Kaufmann! Der Lauscher an der Wand …“ Der Daumen rastete den Sicherungshebel der Glock aus, doch der Unbekannte ließ sein Präzisionswerkzeug beim Anblick des Sterbenden sinken, „… starb allein und unerkannt.“

„Meine Herren, es war mir ein Vergnügen! Leider können Sie mich nun nicht weiterempfehlen!“ Der Kennerblick strich über die Szene und vergewisserte sich, dass keine vermeidbare Spur zurückgeblieben war. „Für meine bisherigen Dienste berechne ich Ihnen …“ Er grinste breit und hämisch „… den Jätti. Danke.“

Vom Schankraum der PIKKOLOKKI her wurden Stimmen laut. Dem Personal und den Gästen dort war der Lärm des Getümmels nicht entgangen.

Das Dunkel verschluckte den Trenchcoat und wenig später auch das Wummern des Dodges, der sich ohne Hast in das nächtliche Treiben auf Jesterfields Straßen einfädelte.

to be continued ...

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