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V.

Novelle zum Thema Selbstbestimmung

von  Lala

V.

„Martin aus der Normandie? Wer soll das denn jetzt wieder sein, Benno?“
„Wenn Du nicht immer vor den spannendsten Stellen der Geschichte einschlafen würdest, wüsstest Du es, Klaus.“
„Och komm. Du bist nun auch nicht gerade berufen, mich zur Disziplin zu ermahnen.“
„Meinst Du? Wer hätte denn das Recht Dich zu ermahnen?“
„Lass gut sein, Benni, ja? Erzähls mir oder lass es.“
„Ich war schon dabei, Klaus“, antwortete Benno und begann Klaus, die Geschichte von Martin dem Bretonen zu erzählen, während sie die Potsdamerstraße bis zum Moritzplatz runterlatschten.

V.1.

Im neunten Jahrhundert des Herrn, hatten die Menschen nicht etwa Angst, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fiele, sondern sie hatten Angst, uneingeladenen Besuch zu bekommen. Die einen fürchteten sich vor Mongolen, andere vor Überraschungsbesuche der Hunnen, die Nächsten wieder vor den Mauren, und die ostrheinischen vor den Magyaren.
Während die Mauren gekommen waren, um zu bleiben, Universitäten gründeten und in allen Bereichen – natürlich nicht selbstlos – versuchten den christlichen Barbaren Kultur beizubringen, schlug man sich im Osten, zwischen Elbe und Oder, mit den ungarischen Reitervölkern herum, die wieder und wieder einfielen und sich nahmen, was sie brauchten.

Ich weiß Klaus, dass ich Dir nichts Neues erzähle. Ich weiß, dass Du auch über die Normannen, die Wikinger, bescheid weißt, die um die Jahrtausendwende von Norden her, das europäische Festland wie Heuschrecken überfielen und ausplünderten. Aber in all diesen Fällen: Mauren, Ungarn, Hunnen, Wikinger, sollte immer wer eingreifen? Genau: die Feuerwehr. Der König, der Schwertarm Gottes, er stand in der gottverdammten Verantwortung, die Ungläubigen zu vernichten.
Und wenn nicht der König höchst selbst angeritten kommt, wie auf dem Lechfeld, dann ist es der Lehnsherr, der Pate des Bauern, der Herzog, Graf, Ritter oder nach Ottos Reichskasparsystem, auch ein archedux, ein Bischof, der ein orator und bellatores in Personalunion ist. Sie alle – pacta sunt servanda – müssen pflichtgemäß angeritten kommen. Es gilt quid pro quo, um seine Bauern, seine Schäfchen, zu beschützen. Dafür haben die laboratores schließlich bezahlt. Dafür haben sie ihr Schutzgeld, spätestens in Form des Zehnten oder anderer Fron gelöhnt.

Funktioniert das Spiel, pflügt der Bauer sein Feld, sät, erntet und sieht, wenn er die Schar seines Herrn überhaupt sieht und selbst wenn, dann auch nur auf ferner Horizontlinie, nur als Schattenriss; als knappes Dutzend Panzerreiter dicht gefolgt von einer kleinen Schar, die alle in die Schlacht reiten oder ziehen, um sich die Schädel einzuschlagen und um das Feld des Bauern zu verteidigen und zu retten. Natürlich machen die das auch nur, um sich ihren fetten Anteil am Speck, zu sichern.



V.II.

Es war mindestens das zehnte Mal in den letzten acht Jahren gewesen, dass die Schlachter aus dem Norden gekommen waren und die Dörfer im Norden der Bretagne mit ihren schlanken, schnellen und wenig tiefgehenden Schiffen überfallen hatten. Wie von Geisterhand fanden ihre Häscher verborgene Buchten und glitten lautlos bis vor ihre Haupthäuser und Kornkammern. Die Frauen wurden entführt, etliche Kinder umgebracht und der Lehnsherr oder die Lehnsherren, waren nicht da.
Waren nicht da, verteidigten nichts und forderten trotzdem weiterhin ihren Zins. Sie forderten ihren Teil, egal ob die Heuschrecken gekommen waren oder nicht, immer wieder. Sie holten sich ihren Zehnten, ob die Heuschrecken eingefallen oder ausgeblieben waren. Sie holten sich, als Schwertarm Gottes, immer den Rest, der ihnen dank göttlicher Ordnung zustand.

Doch auf einmal gab es einen Bauern, Martin mit Namen, der nicht länger gewillt war, zuzusehen, wie die Dörfer gebrandschatzt und die Kammern geplündert wurden. Erst von den Nordmännern, dann von den Lehnsherren. Weshalb oder wie Martin von der Bretagne auf die Idee gekommen war, sein Schicksal selber in die Hand zu nehmen, ist nicht überliefert. Leider. Wir wissen nur, dass er, selbst auch nur ein Bauer, eine Art Wachschutz und Bürgerwehr organisiert haben muss.
Und er muss es sehr gut gemacht haben. Es bleibt die Frage: Wie konnte Martin seinen Vorhang zerreißen? Wie schaffte er es, hinter die Kulissen zu blicken und zu beschließen: Mach es selbst! Mach es selbst?
Selbstmachen? Hilf Dir selbst, dann hilft dir Gott? Das ist Aufklärung. Ich denke, also bin ich. Verstehst Du, was ich Dir sagen will, Klaus? Dieser Bauer zerschnitt noch vor dem ersten Jahrtausend, einfach so die Fäden, an denen er hing. Er blieb nicht Pinocchio, sondern wurde – aber nicht durch einen Zauber – ein moderner, selbstbestimmter Mensch.

Nein, Klaus, Martin ist kein Robin Hood. Weit davon entfernt, weit darüber hinaus. Während Robin die Märchengestalt gegen einen Vertreter und Verräter auf dem Thron mit Namen Johann ohne Land (sic) rebellierte und - der Mär nach – im Sinne des rechtmäßigen und gehuldigten Königs, Löwenherz, in die Bresche gesprungen war, widersetzte sich Martin, der Bauer aus der Bretagne, gegen alle Regeln und jede Ordnung. Der war nicht normal, Klaus. Ich vermute, Klaus, Martin hat sich nach den endlosen Überfällen und trotz der seinerseits pünktlichen Bezahlung, wegen der fehlenden Unterstützung seiner Lehnsherren, von Gott allein gelassen gefühlt?

Wahrscheinlich hatte Martin ein natürliches Gespür dafür, dass der Vertrag seitens seines Herrn, seines kreditierten Schwertarms, nicht eingehalten wurde. Es herrschte kein quid pro quo mehr. Aber wer in quid pro quo Kategorien denkt, glaubt nicht daran, dass der Vertrag, den er geschlossen hat, ein göttlicher, unausweichlicher und unumstößlicher ist. Für den ist ein Handschlag ein Handschlag zwischen Vieh- oder gleichberechtigten Händlern.
Martin muss sich wenigstens auf Augenhöhe mit den bellatores gefühlt und die Dörfer organisiert, Fallen ausgeheckt und Frühwarnsysteme entwickelt haben. Er muss denen, die sich darauf verlassen hatten, sich als laboratores auf dem Pflug ausruhen zu können, wenn am Horizont die Krieger als Schatten in die Schlacht zogen, beigebracht haben, dass sie sich selbst helfen müssten, weil das Band des Vertrages zerschnitten war. Er muss sie aufgeklärt, angefacht und ausgebildet haben.


V.III.

Ob die Normannen Rollo, Ansgar oder Eric geheißen mochten, sie alle wurden nicht von Panzerreitern unter dem Banner eines Königs hingemetzelt oder in die Flucht geschlagen. Nein, ihre heidnische Schar wurde von einfachen Bauern ohne Banner besiegt. Das ist sicher. Eine kleine Region aus der Bretagne entledigte sich ganz alleine von der Geißel Gottes aus dem Norden - und das dauerhaft.

Martin aus der Bretagne hatte militärisch gesehen, einen größeren Erfolg gefeiert, als Aetius, der Besieger der Hunnen, als Otto, der Besieger der Ungarn, oder gar eines El Cids, des Besiegers der Mauren. Denn alle Genannten waren Feldherren, Generäle, Könige. Martin? Martin war ein Bauer. Aber genau das sollte Martins Problem werden.

Sein größter Sieg wurde zu seinem größten Problem. Er ist kein Feldherr und er hat seinem König nicht devot den Platz freigehalten, nein, er hat sich seine Freiheit erstritten. Er hat die Dämonen selbst erschlagen, die auf seinen Schultern hockten und seine Zukunft bedrohten. Er hat nicht darauf vertraut, dass es jemand anderes, für ihn macht. Da ist er einem Cromwell ähnlicher, als jedem Hollywood Hood.

Als es begann, sich herumzusprechen, dass eine Region, im Norden, es erfolgreich gewagt hatte, ihr Schicksal, selbst in die Hand zu nehmen und die schrecklichste Geißel Gottes auf ihre Drachenboote zurückzujagen, traten die rechtmäßigen Herren, der Adel auf den Plan. Sie klärten die Lage brutalstmöglich auf und mussten zu dem Schluss gekommen sein, dass Martins Selbsthilfe schlimmer war, als die Überfälle der Wikinger.
Während Martin vielleicht noch siegestrunken mit den Seinen feierte, dass ihre Haupthäuser heil und ihr Korn in den Kammern geblieben war, schnitt der weltliche Arm Gottes aus dem drohenden Schatten der Dämmerung, Martins Haupt ab und steckte ihn noch vor dem ersten Hahnenschrei auf einen Pflock und beließ ihn da als Rabenfutter. Zur Abschreckung. Vielleicht auch deswegen, weil es unchristlich sei, seinen eigenen Kopf zu benutzen. Wohlweislich kreuzigten sie diesen Martin nicht. Des Teufels war er sowieso.


V.IV

Eigentlich müssten wir, Du und ich, Klaus, diesem Martin aus dem hohen Mittelalter jedes Jahr gedenken. Aber nicht mit Laternen. Sondern mit einem schlechten Gewissen, weil wir immer noch so beschränkt sind, wie die schollenwendenden Bauern aus Martins Zeit. Bürgerbauern, die sich gemächlich auf den Pflug stützen und sich erleichtert fühlen, dass jemand anderes den Kopf für die eigenen Zuckerrüben hinhält und die erleichtert sind, wenn am Horizont, im fern sehen, eine dunkle Schar in die Schlacht angeblich in ihrem Namen zieht.

V.V

Erinnerst Du Dich noch Klaus, als ich Dir erzählt habe, dass der römische Mönch Hildebrandt aus dem elften Jahrhundert, vielleicht der erste aufgeklärte, der erste moderne Mensch gewesen ist? Martin, der enthauptete und auf einen Pflock geschraubte Besieger der Wikinger, war nur ein Bauer, eine Randnotiz und in den Quellen und Folianten nicht vorhanden. Martin? Martin who? qu’est-ce que? Welcher Martin?
Martin oder das Ereignis, welches ich Dir gerade erzählt habe, ist keines, welches tradiert wird. Denn der Kern besteht darin, Bestehendes und Normales, stets zu hinterfragen. Wir müssen auf Augenhöhe miteinander verhandeln, denn nur dann, wäre ein Deal ein Deal. Bauer Martin ist kein Beispiel, welches Eltern renitenten Kindern erzählen wollen. Außer seinem Ende, wenn die Daumen des Daumenlutschers abgeschnitten werden oder der abgetrennte Schädel eines Querkopfes auf einen Pfahl gerammt wird, dass sein ach so schlauer Bregen, ihm aus den Ohren herauskomme.

Dieser römische Mönch aber, der lässt sich nicht aus der Historie radieren. Dieser Hildebrandt wurde Papst, Teil der Ordnung und konnte nicht so nolens volens als Kopf auf einem Pfahl enden. Aber Hildebrandt handelte wie dieser Martin, er stellte neue Spielregeln, seine Spielregeln auf und ordnete die Welt neu. Er stellte folgerichtig fest, dass er, der König der Könige sei. Ich denke, also bin ich? Ist nur eine verdaulichere, eine Blockbuster Variante des hildebrandtschen Weges, zu sich selbst zu kommen.


V. VI

„Sag mal, Benno, bevor wir jetzt da rein gehen und ich Dir wieder eine historische Abreibung im Kickern verpasse: Was, was, verfickt noch mal, sollte diese Geschichte? Das mit Hildebrandt raffe ich ja noch, irgendwie, aber dieser Martin-Bertagne-Fakequark, ist breit, nicht stark. Also was willst Du mir sagen?“ schnauzte Klaus sichtlich genervt vorm M & M in der Oranienstraße, nicht zuletzt wegen Bennos gravitätischer Belehrbärtonart.
„Keine Ahnung. Es vertrieb uns die Zeit?“, sagte Benno, zuckte mit den Achseln und ging in die Kneipe.
Klaus, vollkommen verdattert, blieb davor stehen und fragte sich ob Benno ein gottverdammter Laberer und Rumerzähler und Vereinfachungsfachmann sei, als Benno seinen Kopf wieder zu ihm raustrekkte und fragte:
„Kommst Du rein oder bleibst Du draußen?“
„Ich komm schon. Du kannst es wohl nicht erwarten, zu verlieren?“, antwortete Klaus und folgte Benno.

Während sie kickerten und becherten, sagte Benno irgendwann: „Ach ja, Klaus, wegen vorhin, wegen dieses Martins. Vielleicht sollten wir die Dimension bis zu Elser und Stauffenberg ausdehnen? Was meinst Du?“
„Ja, nee, is klar, Benno. Stauffenberg, Rollo und Haider heißt jetzt Twix. Ich denk’ darüber nach, ganz bestimmt.“
„Ich überlege auch gerade, ob wir Linien, Verbindungen zum indischen Kastensystem, der hiesigen Schulausbildung und der späteren gesellschaftlichen Stellung in einem System aufzeigen, dass sich, anders als das Kastensystem, als libertär und durchlässig ...„
„Merk’ Dir, was Du mir sagen wolltest, aber soeben habe ich 9:4 gewonnen. Du schuldest mir ein weiteres Bier, Benno.“

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