Cardo

Roman zum Thema Begegnung

von  Mutter

Für einen Augenblick antwortet Bruno nicht, betrachtet mich stattdessen eindringlich. Ich habe das Gefühl, er versucht zu ergründen, ob ich ihm Mist erzähle. Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein. Ich halte seinem Blick stand, bis er den schweren Schädel in einem langsamen Nicken hebt und senkt. „Er ist in Berlin verschwunden?“
„Ja. Wir sind nur hier, weil das die einzige Spur ist, die wir verfolgen konnten.“
„Vielleicht weiß die alte Dame etwas. Viel Glück.“
Ich bedanke mich und schiebe meinen Stuhl zurück, um aufzustehen. Erkläre Dirty kurz in groben Zügen, was das Resultat unseres Gespräches ist und schüttel Bruno die Hand. Mir fällt auf, dass ihm auf dem Handrücken ebenfalls Stahlwolle wächst. „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“
„Kein Ding. Wenn noch irgendwas ist, kommen Sie wieder.“
Während wir durch den Gang Richtung Tageslicht gehen, deute ich auf die düstere Szenerie. „Warum machen Sie nicht die Rollläden auf? Lassen Tageslicht hier rein?“
Er lächelt verlegen. „Uns ist ganz recht, wenn das Ganze möglichst ungastlich aussieht. Ich meine, es weiß ohnehin jeder, dass wir hier drin unser Lager aufgeschlagen haben – aber je weniger man davon sieht, umso besser.“
„Wegen der Gangs?“
„Auch, aber nicht nur. Der Filz, Bürokraten – außer uns könnte uns fast jeder Schwierigkeiten bereiten.“
Wir gehen an der zerstörten Ruine eines ehemaligen kleinen Ladens vorbei, in dem ein ramponierter Tischkicker steht. Ich deute darauf und will wissen: „Was gibt’s hier alles? Ich meine, was versteckt sich alles im Bauch dieses Beton-Molochs?“
„Wir haben jede Menge Zeug für Sport – Sandsäcke, Gewichte und so. Die Jungs stehen darauf, sich auszupowern. Ein paar Bücher, alte Brettspiele – alles, was ich umsonst irgendwo auftreiben kann.“ Ich weiß, was er meint – wir hatten im Jugendzentrum zwar eine grundlegende Förderung, aber die Gelder haben hinten und vorne nicht gereicht.
„Und genug Beton zum Sprühen gibt es hier auch.“ Er lächelt, und als ich nicht sofort verstehe, was er meint, fügt er hinzu: „Graffiti.“ Daher also der penetrante Geruch von Lösungsmitteln. Ich muss an Broussard in der Hall of Fame denken.
„Die Farben bringen die Jungs selber mit. Ich frage lieber nicht, wo sie die herhaben.“
Mir fällt etwas ein und abrupt bleibe ich stehen. Dirty läuft fast gegen mich. „Hat Tiger Schach gespielt?“
Der Sarde grinst. „Mit Leidenschaft. Und er ist immer besser geworden. Gegen Ende hätte er mich fast geschlagen.“
„De la jungle dans la jungle“, zitiere ich. Er zieht die Augenbrauen zusammen. „Woher haben Sie das?“
„Die Widmung ist von Ihnen, richtig? In dem Schachbuch?“ Er nickt langsam. „Chess For Tigers. Ich habe ihm eine alte Ausgabe auf dem Trödel besorgt. Das Buch hat ihn schwer beeindruckt. Danach hat er sich seinen Spitznamen ausgesucht.“
Ich hole das Buch aus der Tasche und zeige es ihm. Nachdenklich öffnet er es und betrachtet seine Widmung auf der ersten Seite, nickt. Reicht es mir dann zurück und sagt: „Geben Sie es ihm bei Gelegenheit wieder – er wird es sehr vermissen.“ Ich verspreche es und wir machen uns wieder auf den Weg nach draußen.
Wir erreichen den Innenhof und ich blinzel in den fahlen Himmel, der über dem eingestürzten Dach sichtbar ist.
Dirty und ich bedanken und beide noch mal und mit einem letzten Gruß machen wir uns auf den Weg zu der zusammengeschusterten Leiter, auf der wir reingekommen sind.
Auf halbem Weg ruft uns Big Bruno noch etwas auf Italienisch nach.
„Was sagt er?“, will Dirty wissen.
„Scheint ein Sprichwort zu sein, vielleicht sardisch. Irgendwas darüber, dass wir unsere Wurzeln finden sollen.“
„Wir suchen nicht unsere verschissenen Wurzeln, sondern die von dem kleinen Stricher Tiger!“, grollt Dirty. Ich antworte nicht.
Kurz darauf sind wir zurück auf dem Dach.

Eine dreiviertel Stunde später sind wir in den Straßen von Saint-Denis unterwegs. Nachdem wir den Clio geholt hatten, hatte uns Dirty eine Weile schweigend durch immer gleich aussehende Gegenden gesteuert. Ich hatte mir abgewöhnt, zu fragen, wo wir uns befinden. Bi mir außerdem nicht sicher, ob sein Schweigen darauf zurückzuführen ist, dass er angepisst ist. Wovon – keine Ahnung. Vielleicht vom Italiener, von der ganzen Aktion, von Tiger. Ich bin zu müde, um zu fragen.
Wir hatten den Wagen ein weiteres Mal geparkt, und diesmal scheint Dirty deutlich nervöser zu sein, seine Karre zurückzulassen. Ich nehme an, es liegt daran, dass er sich hier deutlich weniger auskennt. Nicht genau weiß, was die Halbwertszeit von einem aufgebrezelten und getunten Renault Clio ist.
„Alles in Ordnung?“, will ich wissen, während wir nebeneinander her laufen. Er nickt nur.
Ich muss an das denken, was Big Bruno gesagt hatte – dass wir uns auf der Suche nach Wurzeln befinden.
Und ich muss zurück an den letzten Sommer denken, als Luisa und ich ihrem Vater öfter in seinem Garten geholfen hatten. Damals hatte er große Probleme mit jeder Menge Disteln gehabt – und immer über ‚diese zähen Mistviecher‘ geflucht.  Er hatte uns erklärt, dass wenn man die Pflanze rausreißt, kleinste Mengen an Wurzeln, die im Boden zurückbleiben, ausreichen, um die Pflanze überleben zu lassen. Ich hatte mir damals verkniffen zu erwähnen, dass ich die blühenden Disteln in Schottland geliebt hatte.
Mein Blick wandert über dunkle Fenster in den Wohntürmen. Die Häuser sind hier nicht ganz so hoch, maximal bis zum zehnten Stock hoch, und stehen dichter beieinander. Es sieht eher wie eine richtige Stadt und weniger wie surreales Ödland aus. War Tiger zäh genug, um seine Wurzeln nach all den Jahren hier noch im Boden zu haben? Ich betrachte dreckige und geputzte Fenster, welche mit Vorhängen und ohne, manche offen, die meisten geschlossen. Würden wir hinter einem dieser Fenster einen Eingang zu Tiger finden?
Im Italienischen ist die Distel Cardo - und ich hoffe inständig, dass Tiger eine ist.

Dirty klingelt ein drittes Mal und ich verziehe unwillig das Gesicht. Sehe den Gang herunter – zu unserer Rechten steht eine Tür einen Spalt weit offen. Ganz leicht, zitternd, bewegt sie sich ab und an. Ich kann in dem Dunkel dahinter nichts erkennen, aber ich kann mir lebhaft vorstellen, dass uns Kinderaugen aufmerksam beobachten. Ich muss an den kleinen Jungen vor Duckys Tür und im Tower im Banlieue denken. An meine Theorie, dass es von denen überall einen gibt.
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als sich die Tür vor uns mit einem leisen Klacken öffnet.
„Bonjour, madame“, höre ich Dirty höflich sagen. Vor uns steht eine gekrümmte Alte, sicher jenseits der sechzig, und sieht uns mit wachen, wasserklaren Augen an. Sie entgegnet nichts, betrachtet uns weiter, als sei es an uns, erst zu erklären, warum wir hier sind.
„Êtes-vous Madame Mathilde Fournier?”, fährt Dirty nach einer kurzen Pause der Unsicherheit fort.
„Oui“, kommt es sachlich und ohne jede Regung zurück. Ich muss mich zurückhalten, nicht laut zu triumphieren. Tiger stellt sich in der Tat als zähes Mistviech heraus – als Cardo.
„Können wir hereinkommen?“, fragt Dirty auf Französisch. Die alte Dame zögert nicht einen Liedschlag, sondern macht einen Schritt zurück, lässt die Tür aufschwingen und geht einen dunklen Flur entlang, tiefer in die Wohnung hinein. Ich hätte eher vermutet, dass sie uns die Tür vor der Nase zuknallt oder nach den Nachbarn sucht – immerhin sind wir beide Double Trouble. Scheint sie kein Stück zu stören, sie will ja nicht mal wissen, wer wir sind.
Ich sehe kurz zu Dirty rüber, und mit einem Schulterzucken folgt er mir in den engen Schlauch,  der uns hoffentlich direkt in Tigers Vergangenheit führt.

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