Madame Fournier

Roman zum Thema Erlösung

von  Mutter

Wortlos deutet Madame Fournier auf einen kleinen Tisch direkt am Fenster – bedeckt von einem Wachstuch. Die vor vielleicht dreißig Jahren darauf gedruckten großen Sonnenblumen sind längst verblichen. Bevor ich mich vorsichtig Dirty gegenüber in den schmalen Spalt zwischen Einbauschränke und Tisch quetsche und mich auf dem Holzstuhl niederlasse, werfe ich noch einen Blick auf die spartanisch eingerichtete Küche. Mein Blick begegnet der alten Dame, und beschämt weiche ich aus, lege ihn auf dem geputzten kleinen Fenster nach draußen ab. Als hätte sie mich bei irgendwas ertappt.
„Möchten Sie Tee?“, will sie wissen. Dirty und ich nicken zeitgleich.
Während sie das Wasser aufsetzt, mit Tassen, Teebüchse und Löffeln klappert, sehen wir uns schweigend an.
Zwischendurch kommt sie kurz zu uns, setzt einen kleinen Teller mit Butterkeksen vor uns ab. Dirty will sich einen greifen, aber ich schüttle energisch den Kopf. Ich will, dass er höflich ist und wartet. So viel hängt für mich davon ab, dass uns diese Frau mit gutem Willen begegnet.
Endlich ist der Tee soweit. Sie schenkt die blass-braune Flüssigkeit langsam in unsere Tassen aus feinem Porzellan ein. Obwohl die Kanne schwer aussieht, zittern ihre Hände kein Stück.
Sie bietet uns Zucker und Milch an, ich lehne beides ab, während Dirty sich zwei Löffel Zucker in seine Tasse rührt.
Meine Lippen berühren das Porzellan – die Tasse macht einen genauso dünnhäutigen Eindruck wie ich mich fühle. Unsere Gastgeberin betrachtet mich aufmerksam, während ich vorsichtig puste. Sie wartet darauf, dass wir ihr erklären, warum wir in ihrer kleinen Küche sitzen und ihren Tee trinken.
„Madame Fournier“, beginne ich und lasse kleine Pausen, damit Dirty übersetzen kann. Sie wirft er mir, dann ihm einen überraschten Blick zu, nick dann aber lediglich.
Sie rührt mit einem winzigen Löffel in ihrer Tasse, obwohl sich weder Milch noch Zucker darin befinden. Vermutlich, um mir zu zeigen, wie man das Pusten vermeidet.
„Es tut mir leid, dass wir Sie so unvermittelt überfallen. Wir sind aus Deutschland hierher gekommen, um Ihren Neffen zu suchen.“ Nach einem Moment des Zögerns verbessere ich mich. „Großneffen. Lucien.“
Ohne aufzusehen, rührt sie weiter in der Tasse. Das schabende Geräusch ist das einzige, was zu hören ist. Als sie antwortet, schaut sie mich direkt an und fragt: „Sind Sie Deutscher?“
Für einen Augenblick bin ich überrascht. Was wird das? Geht es um den Krieg? Nazi-Deutschland? Will sie nicht mit mir reden, weil ihre Eltern von Deutschen umgebracht worden sind? Unterschiedliche Gedanken rasen durch meinen Kopf, versuchen, Möglichkeiten zu sortieren und zu kategorisieren. Versuchen herauszufinden, was ich sagen muss, damit sie mit uns redet.
„Zur Hälfte. Die andere Hälfte von mir ist aus Italien“, antworte ich mit dem Versuch eines entwaffnenden Lächelns. Während Dirty meine Worte auf Französisch wiederholt, fällt mir ein, dass Italiener zu sein vielleicht auch nicht so gut ist. Leider kann ich keine Abstammung ganz ohne faschistischen Makel anbieten.
Aber sie regiert anders, als ich erwartet habe. Sie seufzt. „Große Teile meiner Familie sind zu unterschiedlichen Zeiten nach Deutschland gegangen. Dort gab es offenbar immer etwas, was uns angezogen hat – wie eine Magie oder so.“ Bei den letzten Worten lächelt sie und sieht mich sanft an, aber ich muss auf Dirty warten, um vollständig zu verstehen, was sie meint. Sie fährt fort: „Deswegen hat es mich damals nicht gewundert, dass Lucien nach Deutschland gegangen ist. Sein Vater war auch eine Weile dort – alte Kameraden stammten daher.“
Unruhig rutsche ich auf dem Sitz hin und her. Nicht nur, dass sie mit uns redet – sie weiß etwas, und es klingt so, als würden wir zum ersten Mal wirklich weiterkommen. „Hat sich Lucien mal bei Ihnen gemeldet? Seitdem er weg ist?“ Ich schaffe es gerade noch, ihn nicht Tiger zu nennen. Ich weiß nicht warum – aber es widerstrebt mir, diesen Namen in ihrer Gegenwart zu nennen. Tiger war sein Straßenname, sein anonymes Gesicht – diese Frau hier kannte ihn ganz anders.
Sie schüttelt den Kopf, sieht an uns vorbei nach draußen. Erst als sie einen weiteren Schluck aus der Tasse nimmt, antwortet sie: „Nein, er hat sich nicht gemeldet. Aber im Grunde genommen habe ich das auch nicht erwartet. Nicht nach allem, was passiert ist.“ Sie sieht mich an und ich kann den Schmerz in ihr erkennen. Nach all den Jahren, und es tut mir leid, dass wir ihn wieder aufwühlen. Aufwühlen müssen.
„Was ist passiert?“ Ich versuche, meine Stimme sachlich und unaufgeregt klingen zu lassen. Bin auf alles vorbereitet. Trotzdem erwischen mich Dirtys Worte, als er übersetzt kalt. „Sein Vater ist ermordet worden. Die Leiche soll furchtbar entstellt gewesen sein.“
Ich schlucke trocken, bevor ich meine nächste Frage stellen kann. „Wer hat ihn ermordet?“
Sie antwortet nicht. In Gedanken versunken, sagt sie stattdessen: „Das hatte er alles nicht verdient.“
Langsam beuge ich mich vor, als würden meine nächsten Worte dann besser bei ihr ankommen. „Madame Fournier, wissen Sie, wo Lucien jetzt ist? Wir müssen ihn dringend sprechen.“
Ich zucke zurück, als sie zu mir herumfährt, sobald Dirty zu Ende gesprochen hat. Ihr Blick funkelt mich hart an und ihre Stimme nimmt einen zischenden Unterton an. „Selbst wenn ich wüsste, wo er ist – ich würde es nicht sagen. Er hat all das hinter sich gelassen. Es nicht verdient, dass diese alten Geschichten ein weiteres Mal über ihn herfallen.“ Ihr Ausdruck wird milder. „Er war noch ein Kind damals. Ist es vermutlich noch. Nichts davon hatte er verdient.“
Behutsam nähere ich meine Hand der ihren, die die Teetasse noch locker am Griff hält. Lege dann meine Handfläche behutsam auf ihre erstaunlich warme Haut. Ohne zu erschrecken sieht sie mich an. Der scharfkantige Feuerstein ist zurück in ihren Augen, aber das Lächeln bleibt. „Sein Vater war ein Monster. Er hat ihn geschunden und gequält, ihm das Leben zur Hölle gemacht. Ich weiß nicht, ob es im Viertel eine einzige Seele gegeben hat, die nicht aufgeatmet hat, als seine zur Hölle gefahren ist. Damals ist Lucien befreit worden. Der Tod seines Vaters war die Rettung des Sohnes.“
„Glauben Sie, Lucien könnte einem Menschen etwas zuleide tun? Ihn töten?“ Mein Blick hat sich fest in ihren verkeilt, und ich will die Antwort nicht hören. Gleichzeitig kann ich es nicht erwarten, und ich bemerke, wie feucht meine Handflächen sind. Unbewusst reibe ich die rechte Hand, die auf meinem Oberschenkel liegt, am Stoff. Mit der anderen halte ich die alte Dame weiterhin sanft fest.
Als Dirty meine Frage übersetzt hat, verändert sich ihr Gesichtsausdruck. Und er macht mir Angst. Weil sie etwas weiß, dass sie gleich mit mir teilen wird, das ich auf keinen Fall hören möchte. Ich muss den Reflex unterdrücken, mir die Ohren zuzuhalten.
„Ja, das glaube ich.“
Dirty scheint ebenso fassungslos wie ich, als er diese Worte weitergibt. Sie fährt fort: „Und ich bin froh, dass es so ist. Ich bin davon überzeugt, dass er seinen Vater getötet hat. Sich von ihm befreit hat.“
Es dauert einen Moment, bis mich ihre Worte erreichen, weil Dirty vorher ein gepresstes „Mon Dieu!“ stammelt. Erst als ich ihn unter dem Tisch mit dem Fuß am Schienbein anstoße, übersetzt er für mich.
„Das ist nicht Ihr Ernst!“, sagt Dirty und ich habe dem in der Tat nichts hinzuzufügen. Fassungslos starren wir sie an.
Unsere Reaktion scheint Madame Fournier zu verärgern. Mit zusammengepressten Kiefern schiebt sie sich nach hinten und steht auf. Mit lauter werdender Stimme entgegnet sie uns: „Nicht Francois war das Opfer, sondern Lucien! Keiner von uns war stark genug, um ihn vor seinem Vater zu retten – am Ende hat er sich selbst geholfen. Es war eine Art Exorzismus, den Lucien an sich selbst durchgeführt hat – und den Dämon, den er ausgetrieben hat, das war sein Vater.“
Ich fühle Übelkeit in mir aufsteigen, aber sie fährt unerbittlich fort: „Kein Mensch könnte Lucien dafür verantworten, was er getan hat. Nicht bei dem, was er erleiden musste.“
Als Dirty fertig übersetzt hat, ist es für einen Moment schmerzhaft still in der kleinen Küche.

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