Frisco

Roman zum Thema Angst

von  Mutter

Die Heimfahrt verläuft reibungslos. Wir wechseln uns alle paar Stunden ab und Dirty schafft es sogar, sein Motzen auf ein Minimum zu beschränken.
Wenn ich nicht fahre, mache ich das kleine Lämpchen im Innenraum an und lese in dem Schachbuch. Das erste Mal versucht Dirty, mich dazu zu bringen, das Licht zu löschen.
„Ich kann nicht richtig sehen. Das irritiert mich. Außerdem ist es verboten.“
Ich reagiere nicht, lese weiter.
„Bei Nachtfahrten sind Lichtquellen im Innenraum gefährlich. Hey, hörst du mich? Mach das aus.“
„Bist du bekloppt? Spiel dich nicht so auf“, sage ich ihm mit müder Stimme. Schätze, das Ganze ist eine Retourkutsche dafür, dass ich ihn um eine Nacht wilden Sex mit seiner Haushälterin gebracht habe. Wohlweislich sage ich zu diesem Thema lieber nichts.
Er schnaubt. „Hau dich lieber mal ‘ne Runde aufs Ohr. Nicht mehr lange, und du kannst mich ablösen. Ich hoffe, du bist fit.“
„Keine Sorge.“ Ich blättere eine Seite um.
„Scheiße.“
„Ich kann ohnehin nicht schlafen“, erkläre ich ihm ohne aufzusehen. „In dem Buch geht es gar nicht so sehr um Schach. Also schon – aber nicht so, wie ich Schachbücher kenne.“
„Sondern?“ Er scheint abgelenkt, regt sich nicht mehr über meine Mini-Lampe auf.
„Naja, ich kenne so Dinger, die sind voll mit Stellungen. Mit Schach-Problemen, die es zu lösen gilt. Wenn ich hier angegriffen werde, wie reagiere ich und so weiter.“
„Und das? Worum geht’s da?“
Ich zögere einen Moment, blättere, als könnte ich einen besseren Fokus bekommen. „Da geht es um die Ebene drüber. Das ist abstrakter.“
„Verstehe ich nicht. Was heißt abstrakter?“
Ich versuche, die richtigen Worte zu finden. Ziehe die Knie an und stemme einen Fuß gegen das Handschuhfach. Dirty sieht kurz missbilligend rüber, sagt aber nichts.
„Es geht um Psychologie. Wie man aus schwierigen Situationen rauskommt, wie man überlegene Gegner besiegt. Hier, hör zu: The Tiger is a vicious beast. He doesn’t care about the aesthetic side of chess. He doesn’t even care about making the “best” moves. All he cares about is winning.”
“Okay …”, ist alles, was Dirty dazu zu sagen hat. Ich blättere weiter.
„Die allgemeine Strategie steht im Vordergrund. Sich nicht nur das Brett ansehen, sondern das Gesamtbild. Vielleicht hat Bruno ihm das Buch deswegen gegeben. Als eine Art Lebensleitfaden in Form eines Schachbuches.“
„Viel genützt hat es ihm offenbar nicht“, meint Dirty zynisch.
„Manchmal frage ich mich, ob du dich nur deswegen immer wieder wie ein dummes Arschloch benimmst, damit man die Momente dazwischen intensiver wahrnimmt. In denen du dich wie ein echter Mensch verhältst.“
Zu Antwort schnaubt er bloß. Ich nehme an, ihm tut seine Bemerkung tatsächlich leid.
„Das ist der einzige Gegenstand, von dem wir wissen, dass er Tiger bis nach Deutschland begleitet hat. Der einzige Faden, den er nicht gekappt hat.“
„Warum hat er das Ding dann liegenlassen? Es nicht mitgenommen?“
„Ich habe es unter dem Bett gefunden – erst bin ich davon ausgegangen, dass er es da versteckt hat. Vielleicht ist es aber auch einfach nur runtergerutscht.“
„Und er hat es dann nicht wiedergefunden?“
„Ist zumindest möglich.“
„Ja.“
Die nächste Zeit fahren wir schweigend weiter. Trotz seiner Ankündigung macht Dirty noch die nächsten paar Stunden und ich habe ziemlich bald genug vom Schach. Und lösche das Licht.

Es ist eine Stunde nach Sonnenaufgang oder so, als wir uns Berlin nähern. Kurz vor sechs. Dirty liegt neben mir und schläft – er hat den Sitz zurückgestellt und die Beine angezogen. Fötusstellung. Vor einer Weile hat er noch sanft geschnarcht und mir damit ein Lächeln entlockt. Jetzt atmet er gleichmäßig und ruhig.
Ich fühle mich erstaunlich fit. Wir haben gegen drei oder so gewechselt, als Dirty nicht mehr konnte. Seitdem fahre ich.
Ich hätte viel früher auf die Idee kommen sollen. Vermutlich hätte ich uns ganz durchfahren können. Das Sitzen am Steuer gibt mir die Illusion, etwas zu tun. Mich zu bewegen. Es ist die Unruhe als Passagier gewesen, die mich nicht hat schlafen lassen. Seit ich fahre, geht es mir besser. Das Unwohlsein ist weg.
Jetzt kommt es langsam wieder zurück – mit jedem Kilometer, den wir fressen, den wir uns Berlin nähern, macht es einen Schritt an mich heran.
Ich fische das Handy vorne von der Ablage, steuere mit einer Hand, während ich Franks Nummer raussuche.
Es klingelt eine ganze Weile, bis er rangeht. „Hey Luca. Wo seid ihr?”
“Habe ich dich geweckt?” Eigentlich ist es mir egal – reine Gewohnheit, die Frage.
Er schnaubt. „Du träumst. Wir haben seit einer Woche Frühschicht. Matze und ich sind schon zwei Stunden auf der Ops.“
„Noch eine dreiviertel Stunde bis Berlin, schätze ich. Wann können wir uns treffen?“
Er überlegt kurz. „Kommt ihr über die A10 rein?“
„Nein, von Süden. A115“
„In Ordnung. Fahr hoch, Richtung Wedding. Westhafen.“
Ich nicke.
„Von der Seestraße fährst du direkt hinterm Wasser rechts ab. Dort gibt es einen großen Parkplatz. Der müsste komplett leer sein um die Zeit.“
„Kannst du weg?“
„Wir lassen uns kurz ablösen. Ich komme mit Matze, das geht schon klar.“
Wenn du es sagst, denke ich, sage aber nichts.
Als ich das Gespräch beendet habe, werfe ich einen Seitenblick auf Dirty. Der schläft weiter.

40 Minuten später biege ich von der Seestraße ab, suche nach dem Parkplatz. Dabei handelt es sich um einen Sandplatz, der Eingang ist ein hoher Maschendrahtzaun. Das Tor steht offen.
Langsam rolle ich rein, schaue mich um. Im Hintergrund ist eine Schienentrasse zu sehen, türmt sich auf Stelzen über uns auf.
Auf dem Parkplatz stehen zwei, drei Wagen, ganz hinten erkenne ich einen grau-metallischen Audi, in dem zwei Leute sitzen. Frank und Matze.
Ich nehme noch mal Gas weg, als ich die tiefen, vom Regen ausgewaschenen Löcher sehe. Glaube kaum, dass Dirty begeistert wäre, wenn ich ihn mit einem Achsbruch aufwecken würde.
Irgendwas hält mich davon ab, bis an den Wagen der beiden ranzufahren. Ich halte etwa dreißig Meter weit entfernt. Der Motor läuft noch, als Frank die Tür öffnet und sich rausschiebt. Ich komme mir vor wie in einem Agententhriller – subversives Treffen unter der Eisenbahnbrücke. Oder irgendeine amerikanische Serie, die Straßen von San Francisco.
Mit einem Lächeln kille ich den Motor. Dirty wacht immer noch nicht auf. Ich steige aus, schließe behutsam die Wagentür.
Nicke der Silhouette im Wagen zu, kann aber nicht sehen, ob Matze die Geste bemerkt hat. Wir haben uns ein, zwei Mal gesehen – Frank lädt seinen Partner immer auch zu Grillparties und Geburtstagen ein.
Frank geht auf mich zu, stumm umarmen wir uns. „Alles in Ordnung?“, will er wissen.
Ich zucke mit den Schultern. Was soll ich auch sagen? Er nickt.
„Was ist passiert?“, will ich wissen.

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(17.06.10)
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